Kameratest bei Kunstlicht in der Unihalle in Wuppertal.
Kameratest bei Kunstlicht in der Unihalle in Wuppertal.
 
TREND

Rundumblick auf die Welt

Die 360-Grad-Technik bei Fotos und Videos auf dem Weg in Richtung Massenmarkt
14. Juni 2017, Frank Sonnenberg

Ein neues Zeitalter bricht an: Donald Trump wurde in Washington vereidigt, und das USA Today Network übertrug die Veranstaltung per Live-Stream – ganz up-to-date und medientrendy in 360-Grad-Erlebnisoptik*. Die Technik für den Rundumblick bei Fotos und Videos machte im vergangenen Jahr den Schritt in Richtung Massenmarkt. Für Journalisten eröffnen sich damit neue Perspektiven, sowohl visuell als auch bei der Erzählweise von Geschichten. Viele Medien – vor allem internationale – integrierten 2016 erste 360-Grad-Foto- und -Video-Projekte in ihre Webauftritte.

Einladung für Experimente

Im März 2015 schuf YouTube erstmals die Möglichkeit, 360-Grad-Videos hochzuladen. Mitte 2016 folgte Facebook und bereitete die technische Basis für 360-Grad-Medien. Eine Einladung an Redaktionen rund um den Globus, mit der neuen Technik zu experimentieren. Sie revolutionieren das Storytelling, lassen den Betrachter neue Perspektiven einnehmen und ermöglichen ungewohnte visuelle Erfahrungen. Im Web findet man interessante Anwendungen des noch neuen Formats – vom Produkttest über Interviews oder Reportagen aus Kriegsgebieten bis hin zu exklusiven Einblicken in Welten, die man normalerweise nicht alltäglich erlebt. Vor allem amerikanische Medien wie die New York Times mit ihrer Rubrik „The Daily 360“ taten sich als Antreiber des neuen Trends hervor.

Auch in Deutschland stößt die 360-Grad-Technik mit ihren erzählerischen Möglichkeiten auf großes Interesse. Mit viel Tschinderrassabumm und Alaaf startete beispielsweise der Kölner Express mit dem Rosenmontagsumzug 2016 noch etwas pixelig ins 360-Grad-Abenteuer. Der 39-Sekunden-Clip deutete aber schon an, wohin die Reise in Sachen Videos gehen konnte.

Der Kölner Stadt-Anzeiger veröffentlichte das erste 360-Grad-Video Anfang Juni 2016: die Fahrt mit der Kölner Seilbahn über den Rhein. „Das Video wurde eigentlich nur zu Testzwecken produziert, hat sich allerdings zu einem echten Dauerbrenner entwickelt“, erklärt Philipp Remke, Redakteur beim Kölner Stadt-Anzeiger (KStA) und in der Digitalredaktion für die Themen Video, Multimedia und Datenjournalismus zuständig. „Außerdem haben wir die Technik bei den Kölner Lichtern auf einem der Schiffe eingesetzt oder auch bei einer Ballonfahrt über Köln. Zu unseren aufwendigsten Projekten gehört sicherlich unsere 360-Grad-Serie zum Thema Tagebau und Kohlestrom.“

Den Ort in Gänze erleben

Doch was ist aus Sicht der Medienmacher das Besondere an der neuen Technik? „Mit 360-Grad-Aufnahmen können wir Menschen im wahrsten Sinne des Wortes einen allumfassenden Einblick geben“, erklärt Yannick Dillinger, Leiter Digitales bei der Schwäbischen Zeitung. „Wir möchten ihnen Orte zeigen, die sie sonst nicht zu sehen bekommen, mitunter auch Sehnsuchtsorte. Die Betrachter sollen das Gefühl haben, den Ort in Gänze erleben zu können. Das funktioniert besonders gut, wenn wir interaktive Punkte auf unsere 360-Grad-Werke setzen, darauf Videos, Audios oder Texte platzieren und so ein multisensorisches Erlebnis ermöglichen.“

Ähnlich sieht es Philipp Remke vom KStA: „Der Mehrwert liegt vor allem in der Freiheit, sich umzuschauen bzw. selber auf ‚Entdeckungstour‘ zu gehen. Der Leser kann frei entscheiden, wohin er schaut, und muss nicht der Kameraführung folgen. So wird die Situation umfassender dargestellt, der Leser erhält einen authentischen Gesamtblick.“ Wird zusätzlich noch eine VR-Brille verwendet, kommt man leicht in den Bereich, wo der Leser in die Szene richtig eintauchen kann. „Es ist ein bisschen so, als wäre man selber vor Ort.“

360 Grad – Was dahinter steckt

Kugelpanorama, 360-Grad-Foto und -Video, Virtual Reality – diese Begriffe tauchen derzeit immer wieder einzeln oder im Zusammenhang auf, wenn man die Berichterstattung über aktuelle Techniktrends verfolgt. Wer nicht weiß, was damit gemeint ist, kann sich an der bekannten Darstellung von Google Street View orientieren. Sie ist ein gutes Beispiel für das sogenannte Kugelpanorama bzw. die 360-Grad-Anwendung. Dabei kann ich ohne zusätzliche technische Hilfsmittel Inhalte auf den Bildschirmen von Desktop- oder mobilen Geräten anschauen und mich darin „bewegen“.

Vom Prinzip her ähnlich sind jene 360-Grad-Fotos und -Videos, die gerade die News-Seiten füllen. Bei allen handelt es sich um sphärische – also kugelförmige – 360-Grad-Abbildungen, in denen sich der User mithilfe von Tastatur, Computermaus oder Fingerwisch in einer Szene umschauen kann.

Einen großen Unterschied gibt es allerdings zu Google Street View: Ich kann mich nicht selbst in der Szene bewegen, sondern nur das Bild um die festgelegte Kameraachse drehen. Den Standort im gezeigten Bild oder in der Filmsequenz bestimmt ausschließlich der Produzent des Inhalts. Entweder entschließt er sich für einen festen Standort der Kamera oder er bewegt die Kamera innerhalb der Szene. Der Betrachter folgt ihr dann zwangsläufig automatisch.

Um ins 360-Grad-Abenteuer zu starten, braucht man folgende technischen Voraussetzungen: einen schnellen Internetanschluss sowie einen Computer mit einem modernen Browser bzw. ein Handy der neuesten Generation in Kombination mit einem aktuellen Betriebssystem und einer passenden App. Eine spezielle VR-Brille (VR steht für Virtual Reality) ist in der Regel nicht nötig, um die produzierten Inhalte zu sehen.

Mit echter Virtueller Realität (VR) haben 360-Grad-Anwendungen nichts zu tun, auch wenn der Begriff häufig in diesem Zusammenhang mit den veröffentlichten Medien auftaucht. VR bezeichnet eigentlich eine Technologie, mit der eine virtuelle Welt per Computer geschaffen wird. In ihr kann sich der User interaktiv bewegen, sie erfahren und erfühlen. Eintauchen in diese virtuelle Welt („Immersion“) kann man allerdings nur mit einem speziellen Headset, einer VR-Brille. Das Angebot reicht dabei von einfachen Papp-Handy-Halterungen, in die ein Smartphone eingeklemmt wird, bis hin zu technisch ausgefeilten Hightech-Lösungen.

 

Mehrwert für den User ist das eine. Aber wie sieht es für die Redaktion aus? Neben den großen Medienunternehmen, die mit der Technik spektakuläre Inszenierungen produzieren, bietet sich gerade auch für kleinere Redaktionen die Chance, Leser zu begeistern. „Wir profitieren davon, indem wir mit dieser neuen Darstellungsform unsere Innovationskraft und Experimentierfreude beweisen“, erklärt Yannick Dillinger. „Außerdem ist die Verweildauer auf diesen Beiträgen wahnsinnig hoch.“ Das gilt selbst für 360-Grad-Fotos, die interaktiv aufgepeppt sind. Als Themenpool eignen sich lokale Ereignisse, wie Straßen- und Städtebau, Sport, Architektur und Kultur/Events.

Yannick Dillinger sieht Chancen für Lokalredaktionen bzw. regional aufgestellte Medien, die 360-Grad-Kameras nutzen möchten. „Der Einstieg ist wirklich leicht: Einsteigermodelle kosten wenig. Embed Codes sind leicht zu integrieren, spannende Orte gibt es an jeder Ecke. Das Experimentieren ist also kein Problem“, findet er. „Sicher: Bei allem muss man hinterher auch einen Strich drunter ziehen und schauen: Wie hoch ist der Aufwand, wie hoch ist der Ertrag?“ Die Schwaben haben jedenfalls mit jedem Testlauf dazugelernt und zunehmend ein Gefühl dafür entwickelt, welche Objekte oder Situationen sich besonders für die Rundumdarstellung eignen.

Es sind Redakteure und Volontäre, die die 360-Grad-Beiträge bei der Schwäbischen Zeitung produzieren. „Nachdem wir in der Digitalredaktion experimentiert und Best Practices rumgeschickt hatten, kamen plötzlich Anfragen aus zahlreichen Lokalredaktionen. Jeder wollte das auch mal austesten. Die Technik ist so einfach, dass die Mehrheit der Redakteure das ohne Probleme machen kann.“

Meist überlegten die Redakteure selbst, was sie wie ablichten möchten, berichtet der Leiter Digitales: „Dann ziehen sie los und shooten.“ In der Regel übernimmt die Digitalredaktion danach die Kamera, überspielt das Material und setzt es zusammen. Das fertige Produkt wird entweder in einen Artikel eingebunden, oder steht selbstständig auf schwäbische.de. Das Gute: Mit den richtigen Tools ist die Postproduktion mittlerweile kein Hexenwerk mehr. Die Schwäbische Zeitung nutzt zum Beispiel die Software ThingLink, mit der virtuelle 360-Grad-Rundgänge möglich sind.

Fotografen experimentieren lassen

Beim Kölner Stadt-Anzeiger produzieren in der Regel die Videoexperten in der Onlineredaktion die Beiträge, sagt Philipp Remke. „Wir haben aber auch gute Erfahrungen damit gemacht, die Kamera Fotografen mitzugeben und nur den Schnitt zu übernehmen. Bei jedem Videothema überlegen wir uns vorher, welche Technik sich von Aufbereitungsmöglichkeiten, Timing, Aufwand und Zuschauerinteresse am ehesten anbietet: Klassischer Beitrag, Zeitraffer, Livestream oder eben 360-Grad-Video. Auf der Basis entscheiden wir, welche Geräte zum Einsatz kommen.“

Von der positiven Wirkung von 360-Grad-Fotos und -Videos ist auch er überzeugt. „360-Grad-Videos bieten die Möglichkeit, neue Aufmerksamkeit zu erzeugen und Themen mit einem neuen Dreh anzugehen. Gerade bei regionalen Medien gibt es viele immer wiederkehrende Termine, zu denen man in den vergangenen Jahren eigentlich schon irgendwie alles gemacht hat. Zum Beispiel Karneval. Gerade bei so etwas nehmen Leser erfahrungsgemäß Innovationen gerne an.“

Apropos Karneval. 2017 wird es in Düsseldorf eine Technikpremiere geben. Die Redaktion der Rheinischen Post will dann mit ersten hochauflösenden 360-Grad-Videos starten. Bis dahin macht man sich weiter mit der neuen Technik vertraut. 360-Grad-Geschichten werden in diesem Jahr für den Düsseldorfer Medienkonzern jedenfalls ein spannendes Arbeitsfeld werden.

Auch im Ruhrgebiet bei der Funke Mediengruppe kommt die redaktionelle Berichterstattung in 360-Grad Ende Januar langsam aus ihrer Experimentierphase heraus, berichten Mitarbeiter.

Kameratest II: in der freien Natur mit interessierten Beobachtern.
Kameratest II: in der freien Natur mit interessierten Beobachtern.

Erste Erfahrungen im Testbetrieb

Und wie arbeitet es sich mit den 360-Grad-Kameras? Erstes kleines Resümee nach rund sechs Wochen: Meine Kamera hat zwei 180-Grad Objektive, die unabhängig voneinander aufnehmen. Eine Software in der Kamera fügt die beiden 180-Grad-Halbbilder dann zusammen. Man benötigt also keine externe Software. Die Bildqualität ist durch die Aufzeichnung in Ultra HD recht gut.

Es gibt jedoch keinen nahtlosen Schnitt, sondern eine diffuse Unschärfe, wo beide Bilder aufeinander stoßen. Man muss sich deshalb schon genau überlegen, wie man die Kamera positioniert und den sogenannten Stitch einplant. Neuere Kameras sind gerade auf den Markt gekommen, die mit nur einem Objektiv 360-Grad-Fotos und -Videos nahtlos produzieren können.

Auch an anderer Stellen merkt man, dass die Technik noch nicht ganz ausgereift ist. So sind gleichmäßig ausgeleuchtete Außenaufnahmen bei bedecktem Himmel möglich. Aber bei tiefstehender Sonne ist der Kontrast meist zu hoch. Eine Belichtungskorrektur bringt wenig, so dass ein Abschnitt in der 360-Grad-Aufnahme falsch belichtet ist.

Schwierig sind auch Innenaufnahmen: Punktuelle Lichtquellen überstrahlen meistens, der Weißabgleich ist nie korrekt, und die ISO reicht eigentlich für Lowlight-Aufnahmen nicht aus. Großzügige indirekte Beleuchtung ist am besten, zum Beispiel mit LED-Panels, die man hinter Computern, Vasen, Kissen etc. verstecken kann.

Auch der Stromverbrauch ist nicht zu unterschätzen. Ein oder zwei Ersatzakkus sollte man wenigstens mitführen, wenn man die Kamera über längere Zeit und bei niedrigen Temperaturen einsetzen möchte.

Folgekosten beachten

Bleibt die Kostenfrage: Der Einstiegspreis meiner 360-Grad-Kamera lag unter 500 Euro, aber damit ist es nicht getan. Es entstehen Folgekosten: Um ruckelfrei arbeiten zu können, muss man Hard- und Software unbedingt auf dem neuesten Stand halten. Grafikkarten, Arbeitsspeicher, schnelle externe Festplatten und interne Festplatten – mein treuer Laptop, ein älteres Macbook Pro, muss jedenfalls einem leistungsfähigeren Gerät Platz machen. Mit der mitgelieferten Software lässt sich die Basisverarbeitung grundsätzlich machen. Will man mehr, muss man zwangsläufig in neue Software investieren.

Der 360-Grad-Boom kommt 2017

Für 360-Grad-Einsteiger war 2016 schon ein interessantes Jahr. Der große 360-Grad-Video-Boom hat aber gerade erst begonnen. Wie bei allen Medienformaten, wird auch hier die verbreitete Technik einen Einfluss auf immer mehr Medienproduktionen haben.

Ein interessantes internationales Projekt dazu ist „Journalism360“ – ein Zusammenschluss von Medienschaffenden und Wissenschaftlern, die sich mit dem Thema 360-Grad-Journalismus auseinandersetzen. Hier geht es um den Austausch von Best Practices, um ethische und technologische Fragen, aber auch um die Zukunft: Welchen Effekt kann Virtual Reality auf den Journalismus haben?