THEMA | Die Aufgabe des Journalismus

Auf den Kern besinnen

Wie der Journalismus seiner Aufgabe gerecht wird
2. April 2024, Annika Schneider
Ein Mann sitzt in einem Hörfunkstudio und spricht ins Mirko. Im Hintergrund ein Regiekollege hinter einer Scheibe.
Redaktionen müssen sich heute andere Fragen stellen als früher, sagt Jochen Trum, Leiter der WDR-Programmgruppe Politik und Dokumentation. Dazu gehöre zu verstehen, „wann unser Publikum Zeit für uns hat“. | Foto: Bernd Arnold

„Früher haben wir uns gefragt, welche Geschichte wir erzählen wollen“, sagt Jochen Trum. „Heute fragen wir viel öfter, wen wir damit erreichen wollen.“ Der Journalist leitet im WDR-Funkhaus Düsseldorf die Programmgruppe Politik und Dokumentation und ist damit im Sender für die Landespolitik zuständig. In seiner Redaktion beliefern 17 angestellte Redakteurinnen und Redakteure sowie diverse Freie den WDR-Newsroom, alle Radiowellen des Landessenders, das wöchentliche TV-Magazin „Westpol“, das Hörfunkmagazin „Westblick“, den Podcast „Rheinblick“ und neuerdings auch einen Newsletter mit allem Wichtigen, was sich im Landtag und bei der Landesregierung tut.

Aber wen erreichen die Redaktionen des WDR und anderer Medienhäuser eigentlich mit ihren Berichten über das aktuelle Geschehen, seien es private oder öffentlich-rechtliche Sender, Tageszeitungen oder Onlinemedien? Wer nimmt das Angebot Journalismus noch an? Wer bedient sich dagegen lieber an anderen Informations- und Meinungsangeboten? Und wie wird der Journalismus seinen Aufgaben in Zukunft gerecht?

Während in Redaktionen noch diskutiert wurde, ob die Treckerkolonnen der wütenden Bauern zu viel Aufmerksamkeit bekommen, reihten die Algorithmen bei TikTok tausendfach Clips von Traktoren und Deutschlandfahnen aneinander, sodass der Eindruck entstehen konnte, dass die „Bauernproteste“ sich zum Volksaufstand ausweiten, während die Demonstrationen gegen Rechtsextremismus zum Nischenphänomen schrumpfen. Entsprechend berichteten im Deutschlandfunk zwei Jugendliche aus Sachsen-Anhalt, deren Hauptnachrichtenquelle TikTok sei, dass sie von den Demos für ein vielfältiges Land nur wenig, von den wütenden Protesten gegen die Ampel-Regierung dafür umso mehr mitbekommen hätten.

Eine Option von vielen

Das Beispiel zeigt einmal mehr: Journalistinnen und Journalisten haben ihr Deutungsmonopol verloren. Sie entscheiden eben nicht mehr alleine, welche Themen in die Öffentlichkeit gelangen und wessen Stimmen dazu gehört werden. Nachrichten, Einordnung, Meinung gibt es längst auch woanders.

Vor allem im Netz ist Journalismus nur noch eine von vielen Optionen, um auf dem Laufenden zu bleiben. Bei TikTok stehen Privatvideos neben Politiker-Statements, Talkshow-Ausschnitte neben Propagandakanälen, Wut-Appelle neben seriösen Erklärvideos. Das ist zwar ein großes Durcheinander, aber nicht immer schlecht: Den Austausch mit ihrer Community bekommen Influencerinnen oft besser hin als viele Redaktionen, und mancher YouTuber verweist transparenter auf seine Quellen als die meisten Journalistinnen und Journalisten.

Facebook-Gruppen oder Telegram-Kanäle mit Nachrichten aus ihrer Region gehören für viele Menschen heute selbstverständlich zum täglichen Medienmix. Klassisch Nachrichten zu konsumieren oder eine Lokalzeitung zu lesen ist dagegen für immer mehr Mediennutzende keine Pflicht, sondern eine Kür, von der sie erst überzeugt werden wollen.

Besonders stark trifft das auf diejenigen unter den Jungen zu, die das Hans-Bredow-Institut in einer Studie als „gering informationsorientiert“ bezeichnet: Ein Drittel der 14- bis 24-Jährigen nutzt kaum etablierte Medienangebote, interessiert sich nur mäßig für das Weltgeschehen und bekommt aktuelle Themen vor allem über TikTok und YouTube mit (siehe Infokasten). Was für Medienschaffende die Fragen aufwirft: Wenn Politiker auf Instagram posten, Aktivistinnen livestreamen und Influencer Debatten zusammenfassen: Was bekommen die Menschen nur durch Journalismus? Was sind seine Unique Selling Points (USP), wie man es im Marketing nennt?

Die verlorenen Mediennutzenden
Im Projekt „UseTheNews“ forscht das Hans-Bredow-Institut in Hamburg zur Nachrichtenkompetenz von jungen Menschen unter 30. Fast die Hälfte der Jugendlichen zwischen 14 und 17 wird mit journalistischen Angeboten nicht erreicht. Zwischen 18 und 24 Jahren ist es immer noch jeder und jede Fünfte. In zehn Fokusgruppen hat sich das Forschungsteam mit dieser Gruppe der „gering Informationsorientierten“ näher ausgetauscht – ohne die Ergebnisse verallgemeinern zu wollen. Viele der Teilnehmenden haben laut der im Oktober veröffentlichten Studie eine niedrige formale Bildung und kritisieren an etablierten Medien vor allem, dass diese keine Berührungspunkte zur Lebenswelt der Jugendlichen aufwiesen. Mit dem Begriff „Journalismus“ verbinden die Befragten vor allem Negatives, Informationen greifen sie eher nebenher in sozialen Medien auf. An Influencern wie Rezo schätzen sie, dass sie „die richtigen Themen auf eine neutrale Art mit der entsprechenden unterhaltenden Darstellungsweise behandeln“, wie die Forscher schreiben. Klassischen Medien vertrauen die jungen Menschen weniger, weil ihrer Meinung nach über manche Tatsachen, Ereignisse und Meinungen nicht berichtet wird. Dagegen wünschen sie sich von Journalismus neutrale Darstellungen, Meinungsvielfalt, Verständlichkeit und Begegnung auf Augenhöhe./

Fragt man Journalistinnen und Journalisten nach diesem Alleinstellungsmerkmal, geht es zum einen um die Frage, was gutes journalistisches Handwerk ausmacht. Aber es geht auch darum, wie sich Menschen heute von diesen Qualitäten überzeugen lassen. Und das heißt auch, wie es Jochen Trum über die Arbeit der landespolitischen Redaktion des WDR sagt: sich die Frage stellen, wen man mit einer Geschichte erreichen will.

Die klassische Kontroll- und Wächterfunktion

Welche Inhalte interessieren die Menschen, die auf das Onlineportal des WDR gehen? Zu den meistgeklickten Texten der vergangenen Monate gehört eine Recherche zur Frage, warum die Behörden bis heute Millionen betrügerisch abgerechneten Coronatests nicht nachgegangen sind – Journalismus in seiner klassischen Kontroll- und Wächterfunktion.

Solche investigativen Recherchen seien nur mit entsprechenden Ressourcen zu stemmen, betont Trum. Für ihn ist die Expertise seiner Fachredaktion ein wichtiges Merkmal, das sie aus der allgemeinen Kommunikationsflut heraushebt: Seine Kolleginnen und Kollegen brächten einiges an Erfahrung mit. Dass sie in der Politik schon viel gesehen hätten, sei bei der Einordnung des aktuellen Geschehens eine wichtige Zutat. Außerdem hätten sie die Zeit, sich auch mal im Landtag in eine Ausschusssitzung zu setzen, ohne darüber zu berichten. Das helfe beispielsweise dabei, eine Partei wie die AfD auch jenseits offizieller Verlautbarungen einschätzen zu können.

Ein Mann sitzt mit Schiebermütze am Schreibtisch, er dreht sich halb nach hinten, um mit jemandem zu sprechen.
Bastian Schlange leitete bei der Recherche über gepanschte Krebsmedikamente die Correctiv-Ruhrgebietsredaktion. Heute ist er inhaltlicher Leiter im Correctiv-Verlag. | Foto: Bernd Arnold

Gesicht zeigen, um Vertrauen zu gewinnen

Themen kuratieren und einordnen, Missstände kritisieren, verschiedene Sichtweisen zu Wort kommen lassen, und das alles aus einer unabhängigen Position: Das gilt als Kern des journalistischen Handwerks. „Journalismus sind nicht nur die Fakten, die er liefert, sondern auch die Menschen, die ihn machen“, ergänzt Bastian Schlange. Er arbeitet als inhaltlicher Leiter im Correctiv-Verlag. Vorher war er Redaktionsleiter der Ruhrgebietsredaktion beim gemeinwohlorientierten Medienhaus Correctiv, das spätestens seit seinen Recherchen zum Potsdamer Geheimtreffen in der breiten Öffentlichkeit bekannt geworden ist. Bei einer Demo gegen Rechtsextremismus in Bonn gab es im Januar Applaus und Jubel für das Correctiv-Team – eine seltene Anerkennung für den zuletzt oft kritisierten Berufsstand. Bastian Schlange ist überzeugt, dass Journalistinnen und Journalisten wieder mehr Gesicht zeigen sollten, um Vertrauen zurückzugewinnen.

Was er damit meint, erklärt er mit seinem persönlichen „Aha-Moment“ im Journalismus: Als in Bottrop 2016 einem Apotheker vorgeworfen wurde, Krebsmedikamente gepanscht zu haben, mietete die Ruhrgebietsredaktion von Correctiv unter Bastian Schlange wenige Meter von der beschuldigten „Alten Apotheke“ ein Ladenlokal an und eröffnete für zwei Monate eine mobile Lokalredaktion. Hier konnten Betroffene mit den Journalistinnen und Journalisten ins Gespräch kommen, ihre Geschichte erzählen, sich nach ihren Rechten und Hilfsangeboten erkundigen. Das Redaktionsteam habe dadurch mit über 300 Opfern des Apothekers sprechen und ausführlich über den Skandal berichten können, der neben viel menschlichem Leid auch 56 Millionen Euro Schäden bei Krankenkassen verursacht habe, erzählt der Correctiv-Journalist.

Den Austausch ermöglicht

„Man kennt das ja: Wenn es in einer Stadt so einen Fall gibt, kreisen die Reporter wie Aasgeier um die Betroffenen, um von ihrem Leid zu hören. Wir haben es halt andersherum gemacht: Die Leute sind zu uns gekommen“, sagt Bastian Schlange. Dafür habe die Redaktion auch Infoabende mit Anwälten und Medizinexperten organisiert und eine Facebook-Gruppe mit zuletzt mehr als 1 000 Mitgliedern gegründet, in der sich die Opfer und Angehörige des Medikamentenbetrugs austauschen konnten. So entstand in Bottrop auch eine Protestbewegung, bei der Betroffene gegen die schleppende Aufklärung des Falls auf die Straße gingen.

Ist dieses Engagement von Correctiv noch Journalismus oder schon Aktivismus? Sie hätten den Servicegedanken des Journalismus mit ihrer Recherche kombiniert, sagt Bastian Schlange und betont: „Wir haben die Leute nicht angeheizt. Wir haben Transparenz geschaffen, Informationen veröffentlicht und damit Menschen befähigt, ihre demokratischen Rechte in Anspruch zu nehmen und selbst aktiv zu werden.“

Er hält es für unverzichtbar, dass Journalismus Orte schaffe, an denen Menschen zusammenkommen. Denn das Vertrauen der Menschen in „die Medien“ stehe und falle mit dem Lokaljournalismus – also mit der Frage, ob sie vor Ort mit ihren Anliegen Gehör finden. „Es ist wichtig, als Journalistin oder Journalist den Dialog zu suchen und sich auf Augenhöhe mit den Menschen zu verstehen, für die man seinen Job macht. Man macht den ja nicht für sich“, erklärt Bastian Schlange.

Gegenseitige Missverständnisse

Tatsächlich scheint es an Austausch zwischen Medienschaffenden und ihrem Publikum zu mangeln, denn es haben sich einige Missverständnisse angehäuft. Das zeigt eine Studie der TU Dortmund, die 2023 beide Seiten zu ihren Erwartungen befragt hat (siehe Infokasten/Grafik). Grundsätzlich sind sich Journalistinnen und Journalisten sowie ihre Zielgruppen in vielen Punkten einig, was Journalismus in einer Demokratie leisten sollte.

Grafik: Was Menschen über Journalismus denken.

Viele Mediennutzende unterstellen „den Medien“ aber, gar kein Interesse daran zu haben, Meinungen von Fakten klar zu trennen, neutral und präzise zu informieren oder ihre Arbeitsweisen transparent zu machen. Weniger als die Hälfte der befragten Nutzerinnen und Nutzer glaubte, dass den Medienschaffenden diese Punkte wichtig sind – obwohl die Mehrheit der befragten Journalistinnen und Journalisten sie durchaus als relevant ansah.

Besonders vielsagend sind die Antworten auf die Frage, ob Journalismus Toleranz und kulturelle Vielfalt fördern sollte. 80 Prozent der Medienschaffenden und 74 Prozent der Mediennutzenden stimmten hier zu – Werte, die eigentlich nah beieinander liegen. Allerdings vermuteten nur 38 Prozent der Journalistinnen und Journalisten, dass das Publikum diese Vielfaltsförderung auch erwartet. Im Gegenzug glaubten nur 54 Prozent der Mediennutzenden, dass Journalistinnen und Journalisten selbst Vielfalt fördern wollten. Beide Seiten konnten zumindest in einigen Punkten nicht gut einschätzen, wie die andere Seite eigentlich „tickt“.

Ein Mann sitzt in seinem Arbeitszimmer am Laptop, im Hintergrund eine Bücherwand.
Mit der Beziehung zwischen Medienschaffende und Mediennutzenden beschäftigt sich der Journalistik-
Professor Michael Steinbrecher an der TU Dortmund. | Foto: Bernd Arnold

Diesen Bruch in der Beziehung zwischen Journalismus und Publikum sieht Michael Steinbrecher, Professor am Institut für Journalistik an der TU Dortmund, auch bei seinen Studierenden, die seit etwa 2015 immer häufiger davon berichtetet hätten, im privaten Umfeld Journalismus gegen massive Kritik und Misstrauen verteidigen zu müssen. „Lügenpresse“, „Lückenpresse“, „System-Medien“, lauteten einige der Schlagwörter.

„Ich glaube, es ist wichtig, sich die Kritik des Publikums anzuschauen und sich damit zu beschäftigen“, sagt Michael Steinbrecher. „Wie entsteht das Bild, das das Publikum von uns hat? Decken wir wirklich die Breite an Themen ab?“ Fast 90 Prozent der befragten Mediennutzenden gaben an, dass Journalismus für eine funktionierende Demokratie wichtig sei. Knapp die Hälfte sagte
aber auch, dass er in den vergangenen Jahren schlechter geworden sei. Und nur etwas mehr als die Hälfte hält den Journalismus in Deutschland generell für glaubwürdig.

Lernprozesse anstoßen

Tatsächlich ist die Diskussion um das eigene Selbstverständnis auch in der Branche in vollem Gange. In einer Demokratie sei es „die wichtigste Aufgabe journalistischer Medien eine gemeinsame Faktenbasis bereitzustellen, die wir als Grundlage für einen sinnvollen öffentlichen Diskurs über unsere gemeinsamen Angelegenheiten brauchen“, sagte der ORF-Nachrichtenmoderator Armin Wolf im Januar in einer Hamburger Ringvorlesung.

Etwas anders setzte der Mainzer Medienprofessor Tanjev Schultz den Fokus in einem Beitrag Anfang des Jahres beim Branchenportal Übermedien: Journalismus solle nicht nur widerspiegeln, was die Menschen ohnehin glauben und wollen. Seine Aufgabe sei es vielmehr, „individuelle und kollektive Lernprozesse anzustoßen und den Menschen zu helfen, ihre Präferenzen zu reflektieren und unter Umständen zu verändern“.

Die beste Recherche nützt allerdings nichts, wenn sie keiner liest oder hört. Denn immer weniger Menschen konsumieren Nachrichten aktiv, sie bekommen die Meldungen eher nebenbei mit – beim Autofahren im Radio, beim Scrollen auf Instagram. Deswegen versuche seine Redaktion sich an diese Bedürfnisse anzupassen, sagt WDR-Landespolitikchef Jochen Trum: „Wir müssen verstehen, wann unser Publikum Zeit für uns hat.“ Das wirke sich auf die Entscheidung aus, ob man auf Texte oder Bilder setze, welchen Stil und welche Sprache man verwende. Das alles lasse sich vom Inhalt heute kaum noch trennen.

Noch radikaler experimentiert Correctiv mit neuen Formen, bringt journalistische Arbeiten als Comics heraus oder inszeniert Recherchen direkt im Theater, wie im Fall des Potsdamer Treffens.

Was kommt an?

Die Krux ist: Was Nutzerinnen und Nutzer einschalten oder anklicken, passt nicht immer mit dem zusammen, was aus Sicht der Redaktionen journalistisch besonders wertvoll ist. Das ist vor allem für die Medienhäuser relevant, deren finanzielles Auskommen direkt an Reichweite geknüpft ist. „Ich kann mich vier Stunden lang in den Stadtrat setzen und einen fundierten Text darüber schreiben – wenn an dem Tag ein schwerer Unfall passiert, landet der in unserem Online-Ranking sowieso auf Platz 1“, klagte jüngst eine befreundete Lokaljournalistin. Die ZEIT, eine der erfolgreichsten deutschen Printzeitungen, setzt neben klassischen journalistischen Recherchen, Interviews und Debattenbeiträgen inzwischen zu guten Teilen auf Lebenshilfe, von Berichten aus der Paartherapie bis hin zu Ratschlägen für die beste Geldanlage.

Auch Arno Wiechern beschäftigt sich täglich mit dem Spagat zwischen dem, was das Publikum sehen will, und dem, was seine Redaktion für relevant erachtet. Er ist Chef vom Dienst beim „RTL Nachtjournal“, das von Montag bis Freitag um Mitternacht einen halbstündigen Überblick über die Nachrichten des Tages liefert und gerade sein 30. Jubiläum gefeiert hat.

Im Vordergrund schaut ein Mann in die Kamera, hinter ihm ein Kollege vor einer Wand aus Bildschirmen.
Der späte Beginn des „RTL Nachtjournals“ ermöglicht der Redaktion um CvD Arno Wiechern, den besonderen Dreh zu finden. | Foto: Bernd Arnold

Wiecherns Aufgabe ist es nicht nur, mit seinem Team festzulegen, welche aktuellen Themen am Abend in die Sendung kommen, sondern sich auch einen „Dreh“ für jede Geschichte zu überlegen. „Dass wir so spät senden, hat einerseits den Nachteil, dass die Nachrichten oft schon über den Tag woanders gelaufen sind. Aber wir haben eben auch viel Zeit, uns kreativ Gedanken zu machen, was wir erzählen und wie man ein Thema auch mal eine Schraube weiterdrehen kann“,
sagt er. „Was wir als Journalisten bieten, ist eben nicht ein schnelles, reflexhaftes, meinungsorientiertes Reagieren auf Themen –also das, was im Internet wahnsinnig gut funktioniert –, sondern eine Analyse und ein neutrales Bewerten.“

Perspektivwechsel anbieten

Gerade zeige sich, was ohne guten Journalismus passiere – wenn jeder sich aus eigenen Quellen informiere und Menschen Fakten aus dem Zusammenhang rissen, um ihre eigene Meinung zu unterfüttern. Journalistinnen und Journalisten „bieten Perspektivwechsel. Wir bieten an, über Dinge zu streiten, zu debattieren. Wir geben auch den Dingen Raum, die uns nicht gefallen. Das ist eine sehr große Stärke.“

Das Bemühen um Ausgewogenheit würden heute allerdings nicht mehr alle Menschen erkennen. Gerade in der Coronapandemie hätten einige nicht mehr gesehen, dass sich Journalismus „dem System“ entgegenstelle und Gegenmeinungen zulasse – obwohl die Berichterstattung unterm Strich ausgewogen gewesen sei. Dieser Eindruck lasse sich nun schwer wieder wettmachen. Grundsätze wie Recherche, Sorgfaltspflicht, Mehr-Augen- und Mehr-Quellen-Prinzip sind aus Sicht des RTL-Kollegen daher umso wichtiger, um sich von zweifelhaften Quellen abzugrenzen.

Auch die zunehmende Nachrichtenvermeidung beschäftigt ihn schon länger. Seine Redaktion setze bewusst darauf, nicht nur Probleme darzustellen. Tage mit vielen schlimmen Nachrichten könne man nicht schönreden, sagt Wiechern: „Aber man kann anhand eines Positivbeispiels oft auch das Negative gut beschreiben, indem man zeigt, wo etwas besser funktioniert.“ Dieser konstruktive Ansatz werde schon seit Jahren in den Nachrichtenredaktionen von RTL, Vox und ntv gelebt.

„Wir müssen immer wieder versuchen, die Menschen auch für schwierige Themen zu gewinnen“, findet der CvD des „RTL Nachtjournals“. Es sei eine sehr hohe Kunst, einen unterhaltsamen Beitrag zu machen, den die Leute gerne schauen, darin etwas Komplexes verständlich darzustellen und gleichzeitig noch konstruktive Ansätze zu finden.

Jenseits des Linearen

Aber was ist mit denen, die gar nicht mehr linear einschalten? Sandra Schulz leitet beim Deutschlandfunk in Köln den Nachrichtenpodcast „Der Tag“. Darin widmet sich das Team seit 2017 montags bis freitags rund 30 Minuten lang zwei aktuellen Themen, die im Gespräch mit Kolleginnen, Experten oder Korrespondentinnen umfassend abgehandelt werden. In einer Befragung hätten einige Hörerinnen und Hörer angegeben, den Podcast inzwischen als einzige Nachrichtenquelle nutzen, erzählt Sandra Schulz, die beim Deutschlandfunk auch regelmäßig die Morgensendung moderiert. Sie bekomme inzwischen Bewerbungen von Nachwuchsjournalistinnen und -journalisten, die unbedingt bei „Der Tag“ anfangen wollten und denen das lineare Flaggschiff des Senders, die „Informationen am Morgen“, unbekannt sei.

Im Vordergrund eine Frau, die in die Kamera schaut. Hinter ihr ein Bildschirm mit Newsticker.
Sandra Schulz leitet beim Deutschlandfunk in Köln den Nachrichten­podcast „Der Tag“. | Foto: Bernd Arnold

Es gebe zwar ein riesengroßes Informationsangebot, vor allem aber ein Überangebot an Meinung, findet Sandra Schulz. Das Bedürfnis nach Hintergrund und Einordnung sei groß. Es gehe dabei nicht darum, wiederzugeben, was die eine oder andere Seite sage, sondern wie etwas wirklich sei: „Das ist das Angebot, das wir machen wollen.“ Als gesellschaftlicher Kompass stünden Emotionen gerade sehr im Vordergrund. „Mein Verständnis von Journalismus ist es, daran zu arbeiten, dass wir in unserer Demokratie vernunftgeleitete Entscheidungen treffen können. Das haben wir uns ja als aufgeklärte Gesellschaft mühevoll in Jahrhunderten erarbeitet.“

Mehr Tiefe für die Themen

Zum Podcast-Konzept von „Der Tag“ gehört es, weniger Themen mit mehr Tiefe anzugehen. Die Hosts haben dafür mehr Zeit als in anderen Nachrichtensendungen. So können sie auch immer wieder transparent machen, wie sie arbeiten und wo Recherchen an ihre Grenzen stoßen. Außerdem ist das Format wenig kontrovers, es gibt so gut wie keine Streit-Diskussionen oder kritischen Interviews – stattdessen profitiert das Team davon, dass diese Interviews an anderer Stelle im Programm des Deutschlandfunks schon gelaufen sind und daraus O-Töne gespielt werden können.

Vor allem der öffentlich- rechtliche Journalismus werde inzwischen sehr viel stärker beobachtet und auf die Probe gestellt, berichtet Sandra Schulz. Das merke sie auch daran, dass in ihrem Team über einzelne Formulierungen, Sprache und Fakten viel präziser diskutiert werde. Trotzdem könne man es nie allen recht machen: „Neu ist, dass man heute oft schon beim Texten weiß, dass man dafür kritisiert werden wird – für welche Formulierung man sich auch entscheidet.“

Das eigene Selbstverständnis hinterfragen

Dass ihr Berufsstand in Frage gestellt wird, heißt für viele Journalistinnen und Journalisten auch, ihr eigenes Selbstverständnis zu hinterfragen. „Wenn Menschen uns nicht vertrauen, haben wir ein Problem“, sagt WDR-Journalist Jochen Trum. Ein glaubwürdiger Umgang mit eigenen Fehlern sei deswegen „extrem wichtig“. RTL-Journalist Arno Wiechern betont: „Wir müssen uns davon verabschieden, in irgendeiner Art und Weise den Zeigefinger zu heben und zu sagen: Ich kenne die ganze Wahrheit.“ Journalismus könne immer nur mit Zahlen und Expertenmeinungen eine bestimmte Lage zum Zeitpunkt X wiedergeben.

Sandra Schulz sieht sich als öffentlich-rechtliche Journalistin vor allem der Objektivität und Neutralität verpflichtet: Was sie selbst über die Nachricht des Tages denkt, dürfe bei „Der Tag“ keine Rolle spielen – anders als in anderen Nachrichtenpodcasts oder auch bei Influencern wie Rezo.

Für Correctiv-Journalist Bastian Schlange gehört es zum professionellen Handwerk dazu, dass Journalistinnen und Journalisten sich vor jeder Recherche ihre Vorannahmen neu bewusst machen und sich quasi „auf neutral setzen“. Alle Menschen neigten dazu, sich Quellen zu suchen, die das eigene Weltbild bestätigen – davor sei kein politisches Lager gefeit. Aber ihr beruflicher Ethos
verpflichte Journalistinnen und Journalisten zur besonderen Sorgfalt.

Zu den „Unique Selling Points“ von Journalismus gehört somit die professionelle Arbeitsweise, die entscheidend auch davon abhängt, dass Medienhäuser dafür ausreichende Ressourcen sicherstellen. Außerdem die umfassende Einordnung von Themen mit Hintergrund, Fakten und journalistischem Fachwissen, auch kritisch und mit Wächterfunktion. Drittens die neutrale Beobachterposition, die auch den Sichtweisen Raum gibt, die im Social-Media-Getöse unterzugehen drohen.

Das hieße aber auch: Oberflächlicher Journalismus, der vor allem Zitate und Meinungen in die Welt trägt, hat auf lange Sicht schlechte Chancen, Menschen für kostenpflichtige Abos zu gewinnen, weil er sich zu wenig von anderem Content unterscheidet.

Letztendlich sei Journalismus Handwerk, sagt dazu der Dortmunder Professor Michael Steinbrecher. Das heißt auch: Journalismus ist weder an den Ausspielweg noch an den Background eines klassischen Medienhauses gebunden. Wenn Influencerinnen, Podcaster und TikTokerinnen sich an die journalistischen Grundsätze halten, machen sie am Ende eben auch: Journalismus.||

 

Ein Beitrag aus JOURNAL 1/24, dem Medien- und Mitgliedermagazin des DJV-NRW, erschienen im März 2024.