Horse Race Journalism: Wenn Medien die Wahlberichterstattung auf Basis der Umfragewerte als Kopf-an-Kopf-Rennen inszenieren, statt sich für die Inhalte zu interessieren. | Foto: picture-alliance / Norbert Schmidt
Horse Race Journalism: Wenn Medien die Wahlberichterstattung auf Basis der Umfragewerte als Kopf-an-Kopf-Rennen inszenieren, statt sich für die Inhalte zu interessieren. | Foto: picture-alliance / Norbert Schmidt
 
THEMA | Wahlberichterstattung

Im Galopp zum Wahlabend

Was sich aus der Berichterstattung über die Bundestagwahl lernen lässt
20. Dezember 2021, Carmen Molitor

Kapitel 1: Die Vorläufe.
„Jetzt ist es raus“, twittert Olaf Scholz im August 2020, als er von der SPD für das Rennen um die Kanzlerschaft nominiert wird. Nur besonders abgebrühte Zocker setzen darauf, dass er auch am Ende die Nase vorn haben wird. Die SPD steht in den Umfragen bei 15 Prozent. Bis zur Bundestagswahl ist es noch ein gutes Jahr hin.

Bei der ZEIT in Hamburg beginnt man zwei Monate später mit den ersten Planungen zur Wahlberichterstattung. Wie immer ist das für alle Redaktionen eine harte Nuss, denn medial gesehen ist die Wahl wie Weihnachten: Alle kennen den Termin, alle haben schon Hunderte von Geschichten dazu geschrieben, alle suchen nach einem originellen Zugang. „Das ist ja das Interessante“, findet ZEIT-Online-Chef Jochen Wegner, als er in einem Panel bei der DJV-Konferenz „Besser Online“ dazu befragt wird: „Man hat ein planbares Ereignis und alle haben dieselben Startbedingungen. Was kann man jetzt tun?“ Die ZEIT entscheidet sich dafür, zuerst die Stimmung des Wahlvolks zu erkunden. Sie sucht dafür 49 Menschen aus, die demografisch gesehen ein „kleines Deutschland“ repräsentieren und startet eine Serie von Berichten über sie. Das ist der Aufschlag für viele weitere Projekte. „Selbst so etwas Triviales wie eine Wahltafel haben wir neu erfunden“, betont Wegner stolz. Aber davon später mehr.

Falsche Gewichtung

Es wird oft heißen, die Medien haben sich bei der Bundestagswahl zu sehr auf das Kopf-an-Kopf-Rennen von Olaf Scholz, Armin Laschet und Annalena Baerbock konzentriert. Statt einer Berichterstattung, die sich auf die politischen Inhalte konzentriert, habe man den Wahlkampf eher wie ein Pferderennen abgebildet. Medienforscher kennen dafür einen Fachbegriff: Horse Race Journalism. Um Spannung zu erzeugen, reduziert man das Kräftemessen der Parteien dabei auf den persönlichen Wettstreit zwischen den Kandidatinnen und Kandidaten, ihre Taktik, ihre Umfragewerte.

Die überregionalen Redaktionen bereiten sich ein paar Monate vor dem Wahlabend auf das große Rennen um die Kanzlerschaft vor. Die Regional- und Lokalredaktionen in NRW denken über die kleineren Wettläufe nach, die in den 64 Wahlkreisen des Bundeslandes stattfinden werden. Das heißt, man muss sich innerhalb der Medienhäuser verständigen, wer von welcher Tribüne aus berichtet.

Bei der Rheinischen Post (RP) trägt dabei das Berliner Büro die Verantwortung. Büroleiterin Kerstin Münstermann koordiniert die Absprachen zur überregionalen, regionalen und lokalen Wahlberichterstattung. Sie arbeitet dabei eng mit dem News-Management zusammen, „das alle anderen Nachrichtenströme koordiniert und zwischen den einzelnen Kanälen, Autorenteams, Editoren und so weiter, alles in die richtigen Bahnen lenkt“, erklärt Maximilian Plück, Leiter der Redaktion Landespolitik. Neben der RP informiert und beliefert die achtköpfige Berliner Redaktion beispielsweise auch den Bonner General-Anzeiger und die Aachener Nachrichten, die zur Mediengruppe gehören, sowie zahlreiche weitere externe Kunden.

Für die Planung der Wahlberichterstattung nutzt die RP die etablierten Besprechungsformate: Maximilian Plück spricht täglich mit den Berlinern, außerdem gibt es wöchentlich einen Austausch zwischen Berlin, Landespolitik, Lokalkollegen und News-Management – sowohl aus dem Print- als auch dem Onlinebereich. Zusätzliche größere Treffen beraumt die RP nur um die Frage an, wie der Wahlabend konkret gestaltet werden wird. Nebenher bilden sich verschiedene Projektteams. Eines bereitet zur Wahl das neue, später sehr erfolgreiche zwölfteilige Podcastformat „Goldwaage“ vor. Ein anderes plant unter der Führung von Clemens Boisseré, Leiter der redaktionellen Produktentwicklung, den Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI) für die Darstellung der Wahlergebnisse aus NRW.

Haben mit ihren Redaktionen in der Berichterstattung über die Bundestagswahl Neues ausprobiert (v.l.): Wiebke Breuckmann, Chefredakteurin von Radio Berg., Maximilian Plück, Redaktionsleiter Landespolitik bei der Rheinischen Post, und Martin Dowideit, Head of Digital beim Kölner Stadt-Anzeiger. | Foto: Radio Berg, Andreas Krebs/RP, Frank Breera
Haben mit ihren Redaktionen in der Berichterstattung über die Bundestagswahl Neues ausprobiert (v.l.): Wiebke Breuckmann, Chefredakteurin von Radio Berg., Maximilian Plück, Redaktionsleiter Landespolitik bei der Rheinischen Post, und Martin Dowideit, Head of Digital beim Kölner Stadt-Anzeiger. | Foto: Radio Berg, Andreas Krebs/RP, Frank Breera

„Bis zum letzten Wahlbüro“

Umfassende Datenaufbereitung steht zu diesem Zeitpunkt auch beim Kölner Stadt-Anzeiger (KStA) ganz oben auf den Planungslisten. Sechs Monate vor dem Zieleinlauf formiert sich im KStA die „Forschungsgruppe Wahlen“, ein Team aus vier Kollegen, das Martin Dowideit, Head of Digital beim KStA und Mitglied der Chefredaktion, leitet. Er will die Wahlergebnisse „in unserem Erscheinungsgebiet bis zum letzten Wahlbüro herunter anbieten“. Davon werden auch die Regionalausgaben der Kölnischen Rundschau aus dem Heinen-Verlag profitieren, die über die gemeinsame Tochtergesellschaft, die Rheinische Redaktionsgemeinschaft (RRG) mit der Unternehmensgruppe DuMont verbunden sind.

Die überregionale Politikberichterstattung bezieht der KStA vom Redaktionsnetzwerk Deutschland. „Wir sind im täglichen Austausch“, berichtet Dowideit. Im beginnenden Wahlkampf stimmt man sich darüber ab, welche eigenen Serien und welche Berichterstattung gefahren werden sollen. Das Thema „Jung gegen Alt“ will man zu einem Akzent machen. „Sollen die Alten im Auftrag und Sinne der Jungen wählen?“ ist angesichts von Klimafragen eine der Debatten, die man begleiten möchte.

Auch ein spezieller „Pop-Up-Newsletter“ mit Kölner Themen rund um die Wahl wird geplant, als zusätzliche Sonntagsausgabe für die 50 000 Abonnenten des Morgen-Newsletters „Stadt mit K“. „Wir haben es als siebte Ausgabe angeboten, weil wir so nicht von Null an einen neuen Verteiler aufbauen mussten“, erklärt Dowideit. Außerdem auf dem To-do-Zettel der Regionalredaktionen: Videos von den Kandidatinnen und Kandidaten aus dem Wahlkreis mit Kurzportraits. Beim Podcastformat „Talk mit K“ freut man sich auf Robert Habeck im Doppelinterview mit Wolfgang Niedecken.

Alles aus Bordmitteln

Ähnlich wie bei der RP plant auch der KStA diese Angebote mit finanziellen und personellen Bordmitteln: Personal wechselt kurzzeitig in ein anderes Themengebiet, Budgets werden etwas umgeschichtet. Ein eigener Topf für die Angebote rund um den Wahlkampf wird nicht bereitgestellt.

Als im April 2021 nach Annalena Baerbock auch Armin Laschet als Letzter seine Teilnahme am Rennen verkündet, wird Maximilian Plück klar, dass diesmal erheblich mehr Arbeit auf die beiden „Landespolitiker“ der RP zukommen wird als bei vorherigen Bundestagswahlen. Schließlich kennen sie Laschet als Ministerpräsidenten von NRW gut und müssen jetzt auch beobachten, wie er seine Nachfolge als Landeschef zu ordnen beginnt. „Das war schon der Auftakt für den Landtagswahlkampf 2022“, sagt Plück.

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Kapitel 2: Wo laufen sie denn?
Kaum ist das Rennen um den wichtigsten Posten der Regierung so richtig gestartet, machen die privaten Sender durch ihre Newsoffensiven von sich reden: Ein Raunen geht über die Tribünen, als Annalena Baerbock ihr erstes großes Interview nach der Nominierung nicht ARD und ZDF, sondern Pro7 gibt. Erstmals wird es drei Trielle mit den Kanzlerkandidaten und der Kanzlerkandidatin geben – und RTL kündigt schon früh an, dass man mit dem „eigenen“ Triell als „zentralen Baustein eines umfangreichen Wahlprogramms“ zwei Wochen vor ARD und ZDF auf Sendung gehen wird.

Bekommen die öffentlich-rechtlichen Sender als auftragsgemäß größte Flagschiffe der Bundestagsberichterstattung in der Wahlberichterstattung also diesmal ernstzunehmende Konkurrenz von Seiten der Privaten? Unbeirrt ziehen sie mit der gewohnten Kompetenz, Teamgröße und einer großen Formatfülle ins Rennen. „Mehr als 1 500 Minuten“ plant die ARD für Extrasendungen zur Wahl- und Vorberichterstattung. „Gerade im Hinblick auf die große Zahl der Erstwählerinnen und Erstwähler wird das Konzept um eine intensive Web-Präsenz ergänzt“, verkündet der Sender.

Zwei geraten aus dem Tritt

In den Vorläufen haben Annalena Baerbock und Armin Laschet die parteiinterne Konkurrenz besiegt, aber jetzt, auf der Rennbahn Richtung Berlin, geraten beide bald aus dem Tritt: Nicht ihre inhaltlichen Ideen prägen die Schlagzeilen, sondern immer mehr individuelle Fehler und Ungeschicklichkeiten. Laschet lacht am falschen Ort zur falschen Zeit, nämlich im Flutgebiet in NRW während einer Rede von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Baerbock wird beim Abschreiben und Aufhübschen ihrer Vita erwischt und muss zudem im Netz und anderswo reichlich frauenfeindliche Kampagnen ertragen.

Es setzen sich Bilder fest, die nicht mehr auszulöschen sind: „der Karnevalsprinz aus Aachen und die Hochstaplerin“. So beschreibt es Winnie Heescher vom ZDF-Hauptstadtstudio, als sie Anfang Oktober mit NDR-Moderatorin Julia Stein und Robin Alexander, dem stellvertretenden Chefredakteur der WELT, auf einem Panel zur Wahlberichterstattung beim Netzwerk-Recherche-Treffen darüber diskutiert.

Während der Dreharbeiten für ihre Dokumentation „Der Kampf ums Kanzleramt“ habe sie dagegen beispielsweise einen Armin Laschet beobachtet, der bei einem weiteren Besuch im Flutgebiet in NRW dem Hallodri-Image gar nicht entsprach, sondern „Taschentücher gereicht hat“ und „ernsthaft bemüht war, den Leuten zuzuhören“.

„Das ist eine Petitesse, aber das hat mich daran erinnert, dass ich selber genau hingucken muss“, sagt sie. „Es ist elend für unseren Job, dass diese Stilbetrachtungen die Substanz erschlagen“, pflichtet ihr Robin Alexander bei, und Julia Stein ergänzt: „Es gab wohl in jeder Redaktion die Diskussion, dass man mehr Inhalte in diesen Wahlkampf bringen muss.“

Eine „teilweise fast kampagnenartige Berichterstattung zu Vorkommnissen etwa mit Frau Baerbock und Herrn Laschet“, hat auch Anke Vehmeier, die Leiterin des Lokaljournalistenprogramms der Bundeszentrale für politische Bildung registriert. „Da hätte ich mir gewünscht, dass sich die Medien mehr auf politische Inhalte fokussieren.“ Insgesamt sei die Wahlberichterstattung im Lokalen aber „absolut informativ, umfassend und sehr, sehr intensiv“ gewesen. Was ihr auffällt: Social Media wird bei den Zeitungen ein immer wichtigerer Ausspielkanal, „sei es in der Vorberichterstattung mit bemerkenswerten Instagram-Serien, Umfragen und Kurzinterviews mit Kandidaten.“ Auch die Formate, „mit denen man sich schnell über die Kandidaten informieren kann – Blitzinterviews, Steckbriefe, Speeddating mit Kandidaten“ würden „sehr gerne genutzt“.

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Kapitel 3: Endspurt
Die drei Trielle laufen, zuerst bei RTL, dann bei ARD und ZDF, zuletzt bei Sat.1, ProSieben und Kabel Eins. Drei Abende für Baerbock, Laschet und Scholz, um in der Diskussion das festgefügte Bild von sich noch aufzubrechen. Doch auch im Endspurt gelingt Baerbock und Laschet das nicht mehr. Medial findet wieder am meisten Beachtung, wer in den anschließenden Umfragen beim Wahlvolk am besten ankam: Olaf Scholz.

Entspannt zurücklehnen und die Trielle genießen? Das Publikum hatte offenbar keinen Bedarf an mehreren Diskussionsrunden – hier die erste Diskussion bei RTL und ntv. | Foto picture alliance/dpa | Henning Kaiser
Entspannt zurücklehnen und die Trielle genießen? Das Publikum hatte offenbar keinen Bedarf an mehreren Diskussionsrunden – hier die erste Diskussion bei RTL und ntv. | Foto picture alliance/dpa | Henning Kaiser

Aufteilung hat sich nicht bewährt

Die Einschaltquoten der einzelnen Trielle bleiben verhältnismäßig niedrig und ergeben ein gewohntes Bild: Bei ARD und ZDF fand der Schlagabtausch doppelt so viel Zuschauende wie bei den Privaten. Die Aufteilung der Diskussionsabende zwischen Öffentlich-Rechtlichen und den beiden privaten Sendegruppen habe keinem der Programme wirklich geholfen, konstatieren Fachleute. Nur eine einzige Wahldebatte mit möglichst vielen angeschlossenen Sendern zu machen, wie es bei früheren Wahlen praktiziert wurde, war unterm Strich erfolgreicher.

Kurz vor dem Zieleinlauf ziehen die Öffentlich-Rechtlichen noch einmal die Zügel straff, um Unparteilichkeit zu signalisieren. So sendet der Deutschlandfunk in der Woche vor der Wahl wie üblich keine Interviews mit Spitzenkandidaten der Parteien mehr. Man wolle sich nicht nachsagen lassen, einen Kandidaten oder eine Kandidatin zu bevorzugen, erklärt Friedbert Meurer, Leiter der Abteilung Aktuelles, im DLF-Medienmagazin @mediasres.

Ebenfalls zum Kodex gehört es, dass sich Mitarbeitende während des Wahlkampfs nicht öffentlich politisch engagieren. Moderator Jörg Thadeusz, der einen Text für eine FDP-Broschüre verfasst hat, muss seine Talk-Sendung bei WDR 2 bis zur Wahl ruhen lassen. Auch der RBB setzt seinen Thadeusz-TV-Talk einmal aus. Zuvor hatte der Sender bereits eine Radio-Eins-Mitarbeiterin wegen eines Unterstützungsaufrufs zugunsten der Linken bis zur Wahl von ihrem Dienst entbunden. Dass Thadeusz und die RBB-Kollegin pausieren müssen, findet Friedbert Meurer richtig: „Wir Öffentlich-Rechtlichen stehen nun mal im Feuer“, sagt er zu @mediasres. „Jeder bezahlt die Rundfunkgebühr, wir dürfen nicht einseitig sein.“

Ungewohnte Kooperationen

Im Lokalen bringt die Wahlkampfzeit seltene Kooperationen und ungewohnte Formate. Für den gemeinsamen Podcast „1 000 Schritte zur Bundestagswahl“ arbeitet Radio Berg mit den Redaktionen von Bergischer Landeszeitung und Kölner Stadt-Anzeiger, Oberbergischer Volkszeitung und Oberbergischem Anzeiger zusammen. Während eines Spaziergangs fühlt man jeweils einem Direktkandidaten aus dem Verbreitungsgebiet, darunter FDP-Chef Christian Lindner, auf den Zahn. Das Ergebnis ist auf den Websites der beteiligten Medien abrufbar.

Die für Privatradio-Verhältnisse epische Länge von rund 40 Minuten pro Folge hat Chefredakteurin Wiebke Breuckmann genossen: „Wir haben das als Riesenchance gesehen, in die Tiefe, ausführlich, in Ruhe und mit ein paar Nebenwegen über inhaltliche Themen sprechen zu können“, sagt sie. Obwohl der DuMont-Verlag 75 Prozent der Anteile von Radio Berg hält, gibt es keinen ganz regelmäßigen Austausch mit dessen Zeitungsredaktionen.

Bei der Kommunalwahl hatte es eine erste Kooperation gegeben, als man alle Bürgermeisterkandidatinnen und -kandidaten aus 21 Städten und Gemeinden interviewte. „Ich nehme die Zeitungskollegen nicht als Konkurrenz wahr, weil das eben eine ganz andere Art der Berichterstattung ist“, sagt Breuckmann. „Das mal zusammenzuwerfen und zu sehen, wie die einen und die anderen jeweils mit Themen umgehen, finde ich wahnsinnig spannend.“

Auch das Team von Stefan Prinz, Redaktionsleiter der Bocholt-Borkener Volksstimme (BBV), konzentriert sich bei der Wahlberichterstattung auf die Themen, die vor der Haustür liegen. Die Zeitung bezieht den Mantel von der RP. Die Bundestagswahl ist für die Redaktion deshalb längst nicht so wichtig, wie es die Kommunalwahlen 2020 waren oder die Landtagswahl werden wird – zumal der neue NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst aus dem Verbreitungsgebiet stammt.

Zur Bundestagswahl suchte sich die BBV aber ebenfalls Partner und streamt in Zusammenarbeit mit dem lokalen Radio WMW und der Borkener Zeitung eine Live-Diskussion mit den sechs Direktkandidaten des Wahlkreises Borken auf der Website. Warum? „Weil wir als lokales Nachrichtenmedium eine journalistisch begleitete Plattform für die Kandidaten bieten wollen“, erläutert Prinz. „Wir haben diesen Abend gut vorbereitet, moderiert und journalistisch ausgewertet.“ Die Frage, was die Bundestagswahl für die Region bedeutet, würde außer von den drei wichtigsten lokalen Medien vor Ort eben von keinem anderen gespiegelt. Deshalb der Schulterschluss bei dieser Veranstaltung. „An diesem Abend ging es nicht um Olaf Scholz oder Armin Laschet, sondern beispielsweise um die Frage, welchen Wert es hat, dass wir vier Bundestagsabgeordnete aus dem Kreis in Berlin haben.“

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Kapitel 4: Im Ziel
Am Wahlabend schlägt die Stunde des Datenjournalismus. Das Team von Jochen Wegner bei ZEIT-Online steht unter Strom: „Wir haben in dem Moment, in dem die Wahldaten veröffentlicht wurden, über 300 einzelne Seiten rausgeschossen, wo sich für die verschiedenen Wahlbezirke nach und nach die Daten aufgefüllt haben. Das ist bis heute – neben der Coronagrafik – eines der meistabgerufenen Items, das wir je produziert haben“, sagt der Online-Chef. Auf die Wahlgrafiken klicken allein am Wahlabend vier Millionen Userinnen und User. Man habe Rekordzugriffszahlen und Reichweitengewinne erzielt und unerwarteterweise seien sogar die Abo-Abschlüsse an diesem Abend in Rekordhöhe gewesen.

Auch die „Forschungsgruppe Wahlen“ beim Kölner Stadt-Anzeiger kommt ins Schwitzen: Man besorgt sich per OpenData die ausgezählten Stimmen von allen Wahlleitungen, rechnet Prozentzahlen aus, recherchiert die Namen der Kandidatinnen und Kandidaten, ordnet zu, verfeinert, justiert. Nach und nach veröffentlicht der KStA die so aufbereiteten Wahlergebnisse aus dem gesamten Erscheinungsgebiet.

Höhenflüge bei den Zugriffszahlen

„Das hat im Großen und Ganzen sehr gut geklappt“, fasst Head of Digital Martin Dowideit zusammen. Es ist genau das, wonach die Menschen suchen und wird „das mit Abstand stärkste Element, das wir auf der Seite hatten“. Wird es sich in Abos auszahlen? „Wir haben etwa die doppelte Anzahl an Zugriffszahlen gehabt, im Vergleich zu einem normalen Tag. Wir gehen stark davon aus: Wenn man Informationen bietet, die man woanders nicht findet, steigert das die Bereitschaft, ein Abo abzuschließen.“

Auch bei der Rheinischen Post sorgt die neue Datenaufbereitung mit Hilfe von KI für Höhenflüge bei den Zugriffszahlen: „Am Wahltag allein hat das Politikressort seine Reichweite verdoppelt“, berichtet Maximilian Plück. „Bei den Abos hat sich bestätigt, was wir schon bei der Kommunalwahl gesehen haben: Analytische, einordnende Inhalte funktionieren durchaus als Plus-Themen, für die User bezahlen.“

Im Fernsehen bleibt am Wahlabend alles beim Alten: Das Erste holt die mit Abstand stärksten Quoten. RTL richtet sein Programm ab 12 Uhr auf die Bundestagswahl aus, geht aber mit einer Quote von 2,6 Prozent zur Primetime unter. Und BILD-TV übernimmt ohne zu fragen ein Stück aus der Elefantenrunde der ARD – ohne jedoch das Publikum davon überzeugen zu können, auch den Kanal zu wechseln. Das Interesse ist marginal.

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Kapitel 5: Nach dem Rennen ist vor dem Rennen
Schon wenige Tage nach der Bundestagswahl haben die Vorbesprechungen für die Landtagswahl im Online-Team des KStA begonnen: „Wir haben eine ganze Menge gelernt und das wollen wir für die Landtagswahl nutzen – vor allem, was die Suchmaschinenoptimierung angeht“, sagt Martin Dowideit. Die neue Darstellung der regionalen Ergebnisse wolle man „natürlich wiederholen“.

Vom Blick zurück zum Blick nach vorne: Die Medien bereiten sich bereits auf die kommenden NRW-Landtagswahlen im Mai vor. | Foto picture alliance / Oliver Berg/dpa
Vom Blick zurück zum Blick nach vorne: Die Medien bereiten sich bereits auf die kommenden NRW-Landtagswahlen im Mai vor. | Foto picture alliance / Oliver Berg/dpa

Auch für Maximilian Plück, „Landespolitiker“ der RP, hat die Planung längst begonnen: Armin Laschets Abgang und Hendrik Wüsts Amtsübernahme waren ein erster Vorgeschmack, dass es in NRW spannend wird. „Was wir aus der Wahlberichterstattung gelernt haben: Man braucht einen hohen organisatorischen Aufwand, um es gewuppt zu bekommen“, sagt Plück.

Die Landesredaktion wird deshalb im nächsten Wahlkampf von zwei Kolleginnen aus anderen Ressorts unterstützt. „Wir sind also im Kernteam eine Vierer-Mannschaft: Eine Kollegin für das Thema Online, die unter anderem als Bindeglied zwischen SEO-Team und Social-Team und zum Onlinedesk dient, die anderen beiden Kolleginnen und ich selbst sind als Autoren unterwegs und generieren den Content.“ Zurzeit werte man aus, welche Geschichten am besten funktioniert haben und warum. Nach dem Erfolg des Goldwaage-Podcasts könnte ein ähnliches Format wieder auf der Liste stehen.

Noch bleibt allen Redaktionen Zeit, darüber nachzudenken, wie sie im Frühjahr 2022 in ihrer Wahlberichterstattung mehr Platz für politische Ziele der Parteien, Analysen und für die Erläuterung von Wahlverfahren schaffen können. Ob alle diesmal dem Impuls widerstehen können, stark personalisiert zu berichten? Und es schaffen, sich nicht von den erhitzten Debatten über einzelne Fehler der Kandidatinnen und Kandidaten auf den Social-Media-Kanälen treiben zu lassen? Mehr über die Bedürfnisse derer zu berichten, die auf der Tribüne stehen, als über die, die da laufen?

Denn der Kern der politischen Berichterstattung sollte doch ein anderer sein: „Ich glaube, wir haben einen Bildungsauftrag und sollten den Leuten umfassend näherbringen, dass es für ihr persönliches, tägliches Leben von Bedeutung ist, was zur Wahl steht“, sagt Maximilian Plück nachdenklich. „Viele sagen, die Musik spiele ausschließlich im Bund, aber de facto ist das gar nicht so. Die Landtagswahl ist sehr wichtig und die Aufmerksamkeit darauf zu lenken ist jetzt eine zentrale Aufgabe.“ Das ist doch mal ein Ansatz für ein Themen-Brainstorming! ||

 

Ein Beitrag aus JOURNAL 6/21, dem Medien- und Mitgliedermagazin des DJV-NRW, erschienen im Dezember 2021.