Superhelden haben Konjunktur, wenn die Verzweiflung besonders groß ist. Der Superheld ist eine von diesen einfachen Antworten auf komplexe Fragestellungen in unübersichtlichen Zeiten: Gewalt und Verbrechen beherrschen die Stadt. Politik, Polizei und Justiz sind in diesem Szenario wahlweise hilflos, korrupt oder beides. In diese Düsternis schwebt er dann ein, der Held im hautengen Dress: Ohne Fehl und Tadel, ausgestattet mit den richtigen Werten und einer hieb- und stichfesten Urteilskraft.
Mit Spiderman in einer Reihe?
„Mit großer Macht geht große Verantwortung einher“ – das weiß Spiderman seit 1962. Und die Erkenntnis ist mehr als 60 Jahre später nicht weniger richtig und wichtig. Aber wie sind wir vom DJV-NRW auf die abstruse Idee gekommen, uns mit Spiderman auf eine Stufe zu stellen? In Zeiten, in denen sich viele klassische Medien einem dramatischen Bedeutungsverlust ausgesetzt sehen, in denen Nachrichtenkonsum und Informationsbeschaffung längst anderen Gesetzen und Gewohnheiten folgen und nicht mehr nur per Zeitung, Radio und Fernsehen stattfinden? Ja klar, stimmt. Einerseits!
Andererseits kann man an den Angriffen auf Medien und ihre Vertreterinnen und Vertreter erkennen: So ganz einflusslos und überflüssig für die Meinungs- und Willensbildung sind wir Medienmenschen und unsere Produkte dann wohl doch nicht. Denn wenn wir bereits bedeutungslos wären, gehörten wir bei autokratischen
Bestrebungen nicht zu den ersten Zielen. Dann müsste man sich von interessierter Seite nicht die (kostspielige) Mühe machen, in freien Gesellschaften mit Desinformationskampagnen das Vertrauen des Publikums in die Medienschaffenden aufwändig zu erodieren.
Sehnsucht nach Rettung
Die Superkraft von Journalistinnen und Journalisten ist nicht, sich unsichtbar zu machen – das wäre ja auch eher kontraproduktiv. Unsere Superkraft ist die Macht des Wortes. Sie liegt im Umgang mit und der Verbreitung von Informationen, sie steckt in der Berichterstattung und damit in der (Beg)leitung öffentlicher Debatten: Bei jeder Schlagzeile, bei jeder investigativen Reportage, bei jedem gewählten Zitat steht der Medienmensch vor der Frage: Was ist meine Verantwortung in einer Welt, die zunehmend aus den Fugen gerät, mit Blick auf diese Veröffentlichung?
In einer zerstrittenen Gesellschaft darf Journalismus nicht nur berichten, er muss auch vermitteln. Vermitteln bedeutet dabei mehr, als einfach alle Seiten in der Berichterstattung zu berücksichtigen. Es geht um das Verständnis, dass das gesprochene oder geschriebene Wort mehr ist als eine Buchstabenfolge mit einem bestimmten Informationsgehalt: Berichterstattung hat die Macht, Realitäten zu formen, Debatten zu lenken, aber – im schlimmsten Fall – auch: Gräben zu vertiefen.
Einfache Botschaften, klickbare Newshäppchen, grelle Streitgespräche und das Ganze dann auch noch befeuert von einer Geschäftsmodellkrise und sozialen Medien mit einem ganz anderen Erlösmodell als Informationsvermittlung: Im digitalen Zeitalter wird die Wahrheit da zu oft zum flüchtigen Konzept. Fake News, sogenannte „alternative Fakten“ und eine zunehmend polarisiert agierende Gesellschaft stellen den Journalismus vor heftige Herausforderungen: Während die Menge an Informationen exponentiell wächst, schrumpft das Vertrauen in die Institutionen, die diese Informationen sortieren und vermitteln.
Wahrheit wird zu einem Kampfbegriff, Wahrhaftigkeit ist für viele kein Wert an sich mehr.
Mit Sachlichkeit punkten
Berichterstattende können da nicht mehr nur Chronisten des Geschehens sein. Sie müssen mehr tun als nur „sagen, was ist“. Sie stemmen sich gegen Desinformation, populistische Manipulationen und die Verflachung der Debatte. In der Aufmerksamkeitsökonomie mit Sachlichkeit zu punkten ist nicht einfach. Es grenzt echt an Superkräfte, das hinzubekommen. Aber es hilft nichts: Mit der Macht, die Öffentlichkeit zu informieren, kommt auch die Verantwortung zu erklären.
In einer Zeit, in der der Ruf nach „neutralem Journalismus“ lauter wird, müssen Journalistinnen und Journalisten paradoxerweise mehr denn je Farbe bekennen. Nicht einem Lager angehören, aber dennoch verortbar zu sein – das ist die hohe Kunst und wird von Medienmenschen ganz selbstverständlich erwartet.
Journalistinnen und Journalisten müssen also, wie Superhelden, ihre Rolle und ihre Position überdenken. Sie haben die Aufgabe, Unrecht aufzudecken, Machtstrukturen zu hinterfragen und Missstände anzuprangern. Gleichzeitig besteht die Gefahr, dass sie durch eine zu starke Positionierung als parteiisch wahrgenommen werden und so ihre Glaubwürdigkeit verlieren. Ihre Verantwortung liegt darin, diese Gratwanderung zu meistern – durch fundierte Recherche, selbstkritische Reflexion, ausgewogene Berichterstattung und den Mut, auch gegen den Strom zu schwimmen und im Zweifelsfall Fehler zuzugeben und offensiv zu korrigieren.
Entthronte Helden
Superhelden werden verehrt – bis sie scheitern. Auch Journalistinnen und Journalisten werden oft beklatscht, wenn sie Skandale aufdecken oder sich mutig gegen autoritäre Regime stellen. Aber die Öffentlichkeit ist ebenso schnell darin, ihre Heldinnen und Helden zu entthronen, wenn sie Fehler machen oder wenn sie als Teil von „denen da oben“ wahrgenommen werden. Der Kampfbegriff „Lügenpresse“ offenbart: Journalistinnen und Journalisten, die einst als Wächter der Demokratie galten, sind für Teile der Gesellschaft zum Feindbild geworden.
Die größte Verantwortung des Journalismus besteht vielleicht darin, die Grenzen seiner eigenen Macht zu erkennen. Es geht nicht darum, jede Krise zu lösen oder jede Debatte zu entscheiden. Es geht darum, den Raum für Diskussion und Erkenntnis offen zu halten, selbst wenn die Gesellschaft gespalten ist. Wie Spiderman muss der Journalismus mit großer Macht umgehen – nicht, um ganz allein die ganze Welt zu retten, sondern um sie im besten Fall immer wieder ein Stück besser zu machen. Journalistinnen und Journalisten müssen dabei gegen die Versuchung ankämpfen, sich selbst zu sehr zur Instanz zu erheben. Das sind sie nicht.
Im Prinzip gilt das Motto: Sei wie Spiderman, der Superheld, der zweifelt und trotzdem oder gerade deswegen dienender Helfer und gleichzeitig Vorbild ist. Sei eher nicht wie Superman, der perfekt agiert und aussieht, der alles überstrahlt und so gerade nicht das Gefühl vermittelt, dass wir alle kleine Wunder vollbringen können, wenn
wir uns nur trauen. Denn: Die Macht der Information verlangt nach Demut – einer Demut, die im Wissen um die eigene Einflussmöglichkeit und die Grenzen des eigenen Handlungsspielraumes liegt.
Durch echten Dialog Kraft schöpfen
In Zeiten zunehmender Fragmentierung und wachsender Konflikte zwischen unterschiedlichen sozialen Gruppen wird die Stimme des Journalismus oft als letzte neutrale Instanz gesehen. Doch dieser Anspruch auf Neutralität wird zunehmend missverstanden: Es geht nicht darum, beiden Seiten blind Recht zu geben, sondern darum, den Raum für echten Dialog zu schaffen. Der Journalismus der Zukunft ist einer, der nicht nur widersprüchliche Meinungen abbildet, sondern aktiv die Suche nach Kompromissen unterstützt. Er sollte Menschen befähigen, selbst zu denken, sich selbstwirksam zu fühlen und ihre Meinungen auf der Grundlage von fundierten Informationen zu bilden und auch zu begründen.
Journalismus ist nicht bloß die Übermittlung von Nachrichten. Er hat das Potenzial, Menschen zu stärken, ihnen das Gefühl zu geben, dass ihre Stimme zählt und sie aktiv am öffentlichen Leben teilhaben können. Der Journalismus der Zukunft muss die Selbstwirksamkeit seiner Rezipienten in den Mittelpunkt stellen: Er sollte informieren, aber auch ermutigen, ermächtigen und aktivieren. Die Leserinnen, Zuschauer und Zuhörenden sollen nicht als passive Konsumierende zurückbleiben, sondern als Akteurinnen und Akteure einer lebendigen Demokratie, die sich der Verantwortung für das Gemeinwohl bewusst sind.
Kompromiss ist dabei kein Zeichen der Schwäche – im Gegenteil: Es ist ein Zeichen von Stärke und Reife. Die Fähigkeit, zuzuhören, nachzugeben und dennoch stark in der eigenen Position zu bleiben, ist der Kern eines neuen, selbstbewussten Journalismus. Er setzt nicht auf einfache Antworten oder spektakuläre Meinungsverschiedenheiten, sondern darauf, dass aus dem Austausch von Ideen etwas Neues entstehen kann. Er bietet Orientierung in einer komplexen Welt, ohne sich auf billige Emotionen und den Alarmismus zu verlassen, der so viele Debatten dominiert.
Dieser Journalismus ist mutig, weil er Vertrauen in die Intelligenz und das Urteilsvermögen seiner Kundschaft hat. Er ist engagiert, weil er sich den großen Fragen stellt, die unsere Gesellschaft bewegen. Und er ist optimistisch, weil er an seine Fähigkeit glaubt, positive Veränderungen bewirken zu können. Es geht darum, den Menschen die Werkzeuge an die Hand zu geben, die sie brauchen, um ihre Zukunft zu gestalten – durch Zugang zu fundierten Informationen, aber auch durch Inspiration, kreative Lösungsansätze und Beispiele, die Mut machen.
Die Kraft der positiven Erzählungen
Einen neuen Journalismus zu fordern bedeutet nicht, auf Unterhaltung oder Emotionalität zu verzichten. Im Gegenteil: Geschichten, die berühren, die Hoffnung geben und uns dazu bringen, über den Tellerrand hinauszublicken, sind mächtige Instrumente. Das zeigen junge Content Creatoren beeindruckend – sie erzählen kurz und trotzdem präzise, mit leichter Hand und dennoch tiefgründig.
Das geht: Was früher ein Widerspruch gewesen ist, gilt heute als Supermove zum Erreichen von Zielgruppen, die klassische Nachrichten nicht mehr rezipieren. Statt auf den Pessimismus zu setzen, der heute zu viele Nachrichten prägt, muss der Journalismus von morgen eine neue Erzählweise entwickeln – eine, die die positiven Aspekte des menschlichen Handelns in den Vordergrund rückt.
Das bedeutet nicht, Probleme und Missstände zu ignorieren. Aber es bedeutet, auch Lösungen und Fortschritte in den Fokus zu nehmen. Journalismus kann und muss inspirieren. Geschichten, die aufzeigen, wie Menschen Herausforderungen überwinden, wie Gemeinschaften stärker zusammenwachsen und wie kreative Köpfe innovative Lösungen für gesellschaftliche Probleme entwickeln, sind nicht nur unterhaltsam – sie sind eine Quelle der Hoffnung. Sie zeigen, dass Veränderungen möglich sind und dass jeder Einzelne etwas beitragen kann.
Optimismus als Haltung
Es ist leicht, zynisch zu werden in einer Welt, die von Krisenmeldungen beherrscht wird. Doch Zynismus ist der Feind des Fortschritts. Der Journalismus der Zukunft muss sich gegen die Versuchung wehren, nur das Schlechte zu sehen. Er muss einen konstruktiven, optimistischen Ansatz verfolgen – ohne naiv zu sein, aber mit dem festen Glauben daran, dass die Welt besser werden kann. Journalistinnen und Journalisten tragen die Verantwortung, nicht nur über Missstände zu berichten, sondern auch darüber, wie diese überwunden werden können. Sie können und sollten positive Beispiele bieten und dazu beitragen, dass die Gesellschaft wieder Vertrauen in sich selbst findet.
Ein Journalismus, der Kompromisse unterstützt, der Menschen ermächtigt, der unterhält und gleichzeitig optimistisch in die Zukunft blickt – das ist die Vision, die unsere Medienlandschaft braucht. Dieser Journalismus setzt nicht auf laute Meinungen und schnellen Klickerfolg, sondern auf nachhaltige, tiefe Auseinandersetzungen mit den wichtigen Themen unserer Zeit. Er bekommt genug Zeit und Ressourcen, um dieser Aufgabe gerecht zu werden und verfolgt das langfristige Ziel, eine aufgeklärte, engagierte und hoffnungsvolle Gesellschaft zu fördern.
Lasst uns Journalismus neu denken
Es ist Zeit, den Journalismus neu zu denken. Lasst uns wegkommen von einem Modell, das auf Alarmismus, Spaltung und Sensation setzt. Stattdessen müssen wir einen Journalismus schaffen, der auf die Kraft des Kompromisses vertraut, der Menschen ermutigt und der auf positive Veränderungen abzielt. Ein Journalismus, der nicht nur informiert, sondern auch inspiriert. Ein Journalismus, der Hoffnung gibt, anstatt Ängste zu schüren. Denn mit großer Macht kommt große Verantwortung – und die größte Verantwortung, die der Journalismus heute hat, ist es, eine bessere Zukunft vorstellbar und damit möglich zu machen.||
Ein Beitrag aus JOURNAL 4/24, dem Medien- und Mitgliedermagazin des DJV-NRW, erschienen im Dezember 2024.