Was bedeuten die verschiedenen Farben der Mülltonnen? Wie heißt der Fußballverein meiner Stadt? Welche Metropolen gibt es in NRW? Mit der Tageszeitung Deutsch lernen und zugleich das deutsche Alltagsleben kennenlernen – diese Möglichkeit haben Geflüchtete und Zuwanderer im Großraum Dortmund und Unna seit dem vergangenen Jahr. Hier starteten Ruhr Nachrichten (RN) und Hellweger Anzeiger (HA) im Herbst 2016 ein gemeinsames Bildungsprojekt (siehe Kasten unten „Noch mehr Einheitsbrei“).
Das Konzept: Alle Schüler der teilnehmenden Sprachkurse und Klassen erhalten vier Wochen lang die Zeitung. Anhand eines 80-seitigen Übungshefts durchforsten sie die Ausgaben, kommen ins Gespräch und erweitern ihre Sprach- und Ortskenntnisse. Die Lehrkräfte bekommen zusätzlich ein Begleitheft mit Tipps und Informationen. Sowohl die Zeitungen als auch das Begleitmaterial sind kostenlos. Neben Deutschlernen und Dialogübungen stehen Medienkompetenz sowie Wissensvermittlung über Demokratie und Gesellschaft auf der Agenda. Den Schwerpunkt bildet nützliches Alltags- und Vor-Ort-Wissen.
Positive Leserreaktionen
„Als wir gestartet sind, konnte keiner absehen, wie das Projekt ankommen würde“, sagt Anja Willich, Projektleiterin bei den RN in Dortmund. Zwar vermutete man in den Verlagen Lensing-Wolff (RN) und Rubens (HA) einen großen Bedarf an Sprachunterricht und Integrationshilfe. Zugleich herrschte Unsicherheit, was mögliche Leserreaktionen auf die Initiative betrifft. Die anfängliche Willkommenseuphorie gegenüber den Neuankömmlingen war zu dem Zeitpunkt bereits abgeflaut. Inzwischen sind die Unsicherheiten beseitigt. Innerhalb eines Jahres hat das Projekt enormen Zulauf seitens interessierter Klassen und Kurse erhalten. Auch die Leserreaktionen sind laut Willich durchweg positiv.
Je 20 Klassen oder Kurse zum Mitmachen zu bewegen – dieses Ziel hatten sich die beiden Ruhrgebiets-Zeitungen, die seit Jahrzehnten eine enge Partnerschaft pflegen, im Sommer 2016 gesetzt. Sie haben es bei Weitem übertroffen: Mehr als 260 Klassen mit insgesamt 4.300 Teilnehmern haben das Angebot bislang angenommen. Neben Grundschulen und weiterführenden Schulen nutzen etwa auch Bildungszentren, Berufskollegs, Volkshochschulen und ehrenamtliche Sprachkurse die Möglichkeit, die Tageszeitung als Lernmedium zu verwenden. „Das riesige Interesse bestätigt, was wir geahnt hatten“, erläutert Anja Willich. „Es gibt zwar Lehrmaterial, aber nichts, was sich konkret an Flüchtlinge wendet und noch dazu erklärt, wie das Leben in unserer Region funktioniert.“
Entwickelt wurde das Projekt von der Dortmunder Medienagentur mct, bei der auch größtenteils die Organisation liegt. Als einer der führenden Anbieter von schulischen Medienprojekten ist die Agentur bereits seit Mitte der 90er Jahre auf diesem Gebiet aktiv. Mit Bildungsprojekten für Geflüchtete hat mct allerdings vor rund zwei Jahren Neuland betreten. Die Initiative ging vom Schleswig-Holsteinischen Zeitungsverlag sh:z aus, erzählt mct-Projektleiterin Anke Pidun. Im Auftrag des norddeutschen Verlags (u.a. Flensburger Tageblatt) erarbeitete sie 2015 das Konzept für ein dreimonatiges Schulprojekt. Dazu holte sie auch die Expertise von Sprachdidaktikern der Universität Duisburg-Essen ein und befragte Lehrer, die Willkommensklassen unterrichten. „Willkommen in Schleswig-Holstein“ läuft bereits seit zwei Jahren und gewann einen Preis des Weltzeitungsverbands WAN-IFRA für „Dienst am Gemeinwohl“.
Noch mehr Einheitsbrei
/AvG
Übungsinhalte spiegeln das Ruhrgebiet
Davon angespornt, versuchte die Dortmunder Medienagentur, weitere Verlage für die Idee zu gewinnen. Und wurde in NRW vor der eigenen Haustür fündig. Für RN und HA haben Anke Pidun und ihr Team das Konzept komplett überarbeitet. Nicht nur wurden alle Übungsinhalte von der maritimen Küstenregion in das urbane Ruhrgebiet mit seiner prägenden Industriegeschichte verlagert. Auch der Fokus hat sich verschoben. „Wir sprechen mittlerweile eigentlich weniger von einem Flüchtlingsprojekt, sondern mehr von einem Integrationsprojekt“, erklärt Pidun.
„Hier ankommen“ richtet sich an Zugewanderte ab etwa sechs Jahren. Im Unterschied zum norddeutschen Vorläufer gibt es für die NRW-Kurse zwei verschiedene Übungshefte – eins für Kinder, das andere für Ältere. Letzteres beschäftigt sich auch mit Aspekten wie Ausbildung, Beruf oder Immobilienmarkt. Die Teilnehmer lernen, wie eine Stellenanzeige aussieht oder wie man mithilfe der Zeitung eine Wohnung sucht. Etwa ein Drittel der Schüler seien Jugendliche und Erwachsene, sagt Anke Pidun. Der Kurszeitraum umfasse nun nicht mehr drei Monate wie in Schleswig-Holstein, sondern vier Wochen. Das ermögliche eine größere Flexibilität. „Die Klassen müssen ja ihre Lehrpläne einhalten.“
Der Run auf das Projekt wundert Pidun nicht. Sie ist von der integrativen Kraft der Zeitung überzeugt. „Die Menschen begreifen sie als lebendiges Produkt“, sagt sie. „Die Arbeitshefte geben eigentlich nur Impulse, um dann aktiv mit der Zeitung zu arbeiten.“ Die größte Herausforderung sieht die Projektverantwortliche in der Heterogenität der Gruppen. „Das Spektrum ist riesig. Es reicht von Analphabeten, die Buchstaben und Wörter gerade erst kennenlernen, bis zu jenen, die fließend mehrere Sprachen sprechen, nur eben kein Deutsch.“ Deshalb gebe es in allen Modulen leichte und schwierige Aufgaben. „Nicht jeder kann mit jedem Arbeitsblatt etwas anfangen, aber jeder kann etwas für sich entdecken.“
Das eingegangene Feedback bestätigt Piduns Ansatz. 55 Lehrkräfte haben sich bislang an der Evaluation des Projekts beteiligt. Ihr einhelliges Fazit: Das Material ist flexibel einsetzbar, es bereichert den Unterricht, schafft Anlässe für Gespräche und fördert den Spracherwerb. Auch den Schülern gefällt die Lektüre und die Beschäftigung mit aktuellen Ereignissen in ihrer neuen Umgebung, ist den Rückmeldungen zu entnehmen. Anja Willich von den Ruhr Nachrichten hat einige Klassen während des Kurses besucht. „Die meisten Schüler sind unglaublich engagiert“, berichtet sie. „Sie wollen Arbeit finden, sich integrieren und aktiv einbringen.“
Erstmal nur fürs Renommee
Im September und Oktober läuft die vorerst letzte Welle des Projekts. Anschließend wollen die Verantwortlichen Bilanz ziehen und den weiteren Bedarf prüfen. Ob es 2018 weitergeht mit „Hier ankommen“ ist noch ungewiss. Anke Pidun, die gerne noch weitere Zeitungen von der Idee überzeugen würde, könnte sich das Bildungsprojekt auch als Lizenzangebot vorstellen. Doch einen Haken gibt es: Die Initiative bringt den Verlagen außer Renommee und guten Kontakten zu den Bildungsträgern nichts ein. Weder Geld noch neue Abonnenten – zumindest kurzfristig nicht.
Zwar konnten sowohl sh:z als auch die beiden NRW-Verlage einen Teil ihrer Kosten mit Leserspenden und Sponsoring querfinanzieren, doch unter dem Strich müssen sie selbst – wenn auch nicht allzu tief – in die Tasche greifen. „Bei einem solchen Projekt eine Schutzgebühr zu nehmen, und sei es nur ein Euro pro Heft, würde der ganzen Intention zuwiderlaufen“, sagt Anja Willich. Als Motivation für das Projekt verweist sie auf die soziale Verpflichtung, die das Medienhaus Lensing als großes Unternehmen der Region habe. Ein Verweis, der wenige Tage später einen seltsamen Nachgeschmack erhält, als bekannt wird, dass RN und HA ihre Mantelredaktionen in Unna zusammenlegen werden. So wirft die verlegerische Entscheidung gegen die Pressevielfalt im Ruhrgebiet einen Schatten auf den Bericht über ein gutes und vorbildliches Projekt für Zuwanderer.||
Ein Beitrag aus JOURNAL 4/17, dem Mitglieder- und Medienmagazin des DJV-NRW.