Es ist Oktober 2017, Einführungswoche der Lehrredaktion Print am Institut für Journalistik der Technischen Universität Dortmund. Gut ein Dutzend Studierende sind aus ihren einjährigen integrierten Volontariaten an die Hochschule zurückgekehrt. Lehrredaktionsleiterin Sigrun Rottmann will wissen, wer von ihnen im neu erlebten Berufsalltag Gewalt, verbale Einschüchterung oder Bedrohung erfahren hatte. Die Antwort der Studierenden gibt ihr sehr zu denken: „So gut wie alle Hände gingen hoch“, erinnert sie sich. „Es war das erste Mal, dass hier von Anfeindungen in solch einer Breite berichtet wurde.“
Valentin Dornis war als damaliger Seminarteilnehmer schockiert von dem, was seine Kommilitonen über Feindseligkeiten gegen sie erzählten. Von bösen Briefen, Kommentaren oder Mails bis hin zu persönlichen Anfeindungen und körperlicher Bedrohung war alles dabei, erinnert sich der 24-jährige Student, der sich im Vorstand des Vereins Junge Presse in Essen engagiert.
Seit er 2010 mit einem Praktikum bei der Westfälischen Rundschau in die journalistische Laufbahn eingestiegen ist, hat er viel Praxiserfahrung gesammelt – zuletzt während seines Jahresvolontariats bei der Süddeutschen Zeitung, wo er anschließend Teil des Teams um die Paradise Papers war. „Als ich im Journalismus anfing, hätte ich nie gedacht, dass man sich mal Sorgen darüber machen muss, wie man seine Arbeit sicher ausübt“, sagt er. „Der Beruf hat sich in dieser kurzen Zeit ziemlich verändert.“ Er hält es inzwischen für geboten, dass Journalisten in der Ausbildung den richtigen Umgang mit Anfeindungen lernen.
Auch Dornis ist es schon gewohnt, dass man auf ihn als Journalist aggressiv und misstrauisch reagiert und dass es dabei egal ist, welches Thema er bearbeitet: „Selbst, wenn ich über kaputte Autobahnbrücken schreibe, wird mir vorgeworfen, dass mir irgendwer vorgibt, was ich zu schreiben habe. Es wird sehr häufig vermutet, dass es im Hintergrund eine Agenda gibt, die man verfolgt.“ Dabei meldeten sich nicht unbedingt Sektierer zu Wort, sondern „ganz unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen“. Allerdings hielten sich die persönlichen Angriffe gegen ihn im Rahmen. „Ich bin ein junger, weißer Mann mit einem deutsch klingenden Namen“, sagt Dornis. „Wenn ich einen ausländisch klingenden Namen hätte, sähe das Ganze anders aus. Erschreckend, dass man so was sagen muss!“
Wenn der Hass täglich niederprasselt
Der Hass, der täglich auf jemanden niederprasseln kann, der besagten „ausländisch klingenden Namen“ hat, veranlasste eine Gruppe von Journalistinnen und Journalisten 2012, „Hate-Poetry“-Lesungen durchzuführen. Um auf das Phänomen Hate Speech aufmerksam zu machen, trugen Özlem Gezer, Hasnain Kazim (Spiegel), Yassin Musharbash, Mohamed Amjahid und Özlem Topçu (ZEIT), Mely Kiyak, Ebru Tasdemir (freie Autorinnen), Deniz Yücel (WELT) und Doris Akrap (taz) ein „Worst of“ der Beschimpfungen und Drohungen vor, die sie erreichten. Sie machten eine ausgelassene Performance daraus, bei der dem Publikum das Lachen im Halse stecken blieb.
Damals betrachteten viele Journalistinnen und Journalisten die Anfeindungen, die die Hate-Poetry-Slammer beschrieben, und später auch die ersten „Lügenpresse“-Beschimpfungen und körperliche Bedrohungen der Berichterstatter bei Pegida-Demos in Dresden zwar interessiert und mit Empörung, aber auch mit einer gewissen Distanz. Es hatte mit ihrem eigenen Berufsalltag wenig zu tun. Heute ist die deutsche Gesellschaft politisch polarisierter, der Diskurs aggressiver und die Kritik am Journalismus feindseliger und maßloser. Wer in den Medien arbeitet, braucht eine Strategie, mit dem Hass und der Aggression umzugehen, die ihm entgegenschlagen. Und damit nicht genug: Wer kritisch berichtet, muss sich auch darauf vorbereiten, von Unternehmen, Parteien und allen möglichen Gruppierungen systematisch vor den Kadi gezerrt zu werden.
„Publizieren wird zur Mutprobe“ war das Fazit einer Studie über den „Hass im Arbeitsalltag Medienschaffender“ der Universität Bielefeld. Als Datengrundlage dienten den Forschern Auskünfte von knapp 800 Journalistinnen und Journalisten, die Ende 2016 online Fragen beantwortet hatten. Zwei Drittel der Befragten sagten, dass hasserfüllte Angriffe des Publikums deutlich gestiegen seien. 42 Prozent gaben an, selbst Angriffe erlebt zu haben, mehr als die Hälfte davon mehrmals oder regelmäßig. Viele fanden Unterstützung bei Kollegen und Familienmitgliedern. Ein Drittel der Befragten gab aber auch an, dass Redaktionen ihnen keine Hilfestellung im Umgang mit Angriffen anbieten.
Wichtiger Rückhalt
Auf den Rückhalt der Kollegen, des Chefredakteurs und der Justiziar-Abteilung kann Julia Rathcke dagegen zählen. Seit zwei Jahren ist sie Politikredakteurin bei der Rheinischen Post und spezialisiert auf die Berichterstattung über die AfD in NRW. Der Partei gefielen weder sie als Person noch ihre Berichterstattung. Vor allem der frühere Landes- und Fraktionsvorsitzende Marcus Pretzell habe sich dabei hervorgetan, ihr Steine in den Weg zu legen, berichtet die Redakteurin. Er habe Interviewanfragen ablehnen oder zugesagte Gespräche ohne Begründung platzen lassen und mehrfach juristische Verfahren gegen ihre kritischen Artikel angestrengt. Damit musste Rathcke umzugehen lernen.
Herablassend behandelt
„Früher durfte niemand von der AfD in NRW mit mir reden“, berichtet sie. Das sei von Pretzell so kommuniziert worden. Jetzt sei es etwas lockerer geworden. „Bei persönlichen Begegnungen auf Parteiveranstaltungen habe ich immer wieder versucht, Statements einzuholen. Pretzells Art mir gegenüber war immer herablassend, er lachte mich aus und sagte: ,Sie schreiben ja doch, was Sie wollen‘.“ Sie empfand das als unprofessionell. „Es war wohl auch persönlich gemeint“, sagt Rathcke. „Ich bin 29 Jahre alt, damals war ich noch zwei Jahre jünger. Wenn ein gestandener Kollege von einer anderen Zeitung zu ihm ging, benahm er sich nicht so.“
Irgendwann versuchte Marcus Pretzell, sie auch mit juristischen Auseinandersetzungen einzuschüchtern. Als sie in einem Text beschrieb, dass der AfD-Bundestagskandidat Udo Hemmelgarn offenbar zur Reichsbürger-Szene gehöre, erhoben sowohl dieser als auch Pretzell persönliche Strafanzeigen gegen sie. Beide scheiterten vor Gericht. Rathcke wird häufig auch schriftlich beleidigt oder bedroht. Sie ist sich sicher, dass das aus dem rechten Spektrum kommt. „Es kommt vor, dass mir jemand den Tod wünscht. Dann wird der Staatsschutz informiert, er kann aber nicht viel machen, wenn das – wie meistens – anonym geschieht.“ So darum kämpfen zu müssen, einfach nur ihren Job zu machen, habe teilweise sehr an ihren Nerven gezerrt, räumt Julia Rathcke ein. Sie habe dadurch auch ihre Arbeitsweise geändert: „Aber nicht in dem Sinne, dass ich jetzt vor Sachen zurückschrecke“, betont sie. „Sondern, dass ich viel mehr schriftlich festhalte. Ich mache mir Rechercheprotokolle, schreibe mir auf, wann ich wen anrufe oder was ich wo lese, und sichere mich mit jedem Text bei der Rechtsabteilung ab.“
Insgesamt sei sie auch auf Social-Media-Plattformen vorsichtiger geworden: „Ich mache mir immer bewusst, dass auch jeder AfD-Anhänger meine Tweets lesen kann und denke dreimal darüber nach, was ich schreibe.“ Julia Rathcke könnte das Thema AfD in der Redaktion wieder abgeben, aber das will sie nicht: „Ich mache nur meinen Job und wenn ich den nicht mehr mache, dann haben die, was sie wollen.“
Auch Herbert Malcus (Name geändert), freier Reporter beim WDR-Hörfunk, hat seine frühere Unbekümmertheit bei Recherchen abgelegt. Er arbeitet oft im Tagesaktuellen und erlebte die ersten körperlichen Anfeindungen bei der Berichterstattung über die Demos von Dügida in Düsseldorf und von Pegida NRW in Duisburg. Wie er es immer tut, wollte er auch in Düsseldorf inmitten der Demonstranten einige O-Töne einholen und war mit dem Mikrofon in der Hand klar als Pressevertreter erkennbar. „Ich bin da relativ unbedarft drangegangen, weil mir damals nicht so hundertprozentig klar war, was für ein Publikum das ist“, sagt Malcus. „Ich hielt die Leute für erzkonservativ und rechtsaußen, aber nicht unbedingt für gefährlich.“
Von den „Lügenpresse“-Rufen, die in Düsseldorf aufbrandeten, ließ er sich nicht abschrecken. Er kannte sie aus dem Fernsehen von den Dresdner Pegida-Demos, sie amüsierten ihn fast ein bisschen. Bis er selbst bedrängt und angespuckt wurde. „In dem Moment wurde mir klar: Die meinen ja mich!“, sagt Malcus. „Ich habe in den Augen dieser Menschen gesehen, dass sie richtig böse waren – offenbar auch auf mich. Dabei bilde ich mir ein, dass ich meine Arbeit vernünftig mache.“
Ein anderes Mal wurde er bei einer Pegida-Demo in Duisburg geschubst. Er brach die Recherche ab und baute den Bericht ohne die O-Töne der Demonstranten. „Ich konnte den Job einfach nicht so machen, wie ich ihn gerne gemacht hätte. Das ist schade für alle Seiten, weil der Diskurs an dieser Stelle – wie immer, wenn Gewalt im Spiel ist – sofort zusammenbricht.“ Malcus versucht weiterhin, sich zur Recherche unter die Demonstranten zu mischen. „Aber ich gucke, dass ich die Polizei in Blick- oder Rufnähe habe. Da bin ich vielleicht früher ein bisschen naiv rangegangen.“
Seine Erlebnisse erinnern an Vorfälle in Dresden und Leipzig, wo Anfang 2016 bei Pegida- bzw. Legida-Demonstrationen Reporter tätlich angegriffen wurden. Der MDR beschloss damals, Reporterinnen und Reporter bei solchen Einsätzen künftig generell von Sicherheitspersonal begleiten zu lassen.
Besser geplant geht Herbert Malcus heute auch vor, wenn er zum Thema radikale muslimische Communitys arbeitet. Auslöser dafür war eine Erfahrung, die er bei Recherchen über eine Gruppe deutscher Jugendlicher sammelte, die sich in Syrien und im Irak dem IS angeschlossen hatten. Eine Gruppe junger Migranten hatte ihm mitten in der Stadt Schläge angedroht und ihn verjagt.
Wenn es um Rechte oder radikale Muslime geht, hält er eine Vorort-Recherche allein als Freier seither für gefährlich. „Im Zweifel weiß ja keiner, wo ich in dem Moment bin, und ich habe keinerlei Unterstützung vor Ort.“ Einfach auf eigene Faust losfahren und schauen, was er herausbekommen kann? „Das würde ich nicht mehr so ungeplant machen, wie ich das früher gerne gemacht habe. Heute würde ich zumindest potenzielle Auftraggeber oder vielleicht auch die Polizei über meine Pläne informieren.“
Während Radio- und Printjournalisten wie Malcus auch vom Rande einer Demonstration berichten können, müssen Fotografen genau da hin, wo etwas passiert und die Stimmung besonders aufgeheizt ist. Sie sind deshalb inzwischen auch besonders häufig körperlicher Gewalt ausgesetzt, die ihnen sowohl bei rechten Aufmärschen als auch auf Demos der militanten Antifa oder anderen Extremisten entgegenschlägt.
Hartmut Schneider, freier Fotograf aus Bergisch Gladbach, dokumentiert häufig Protestveranstaltungen. Nach seiner Beobachtung werden die Angriffe immer massiver. Allein in den vergangenen zwei Jahren wurde er nach eigenen Angaben von Rechtsextremen in Dortmund mit dem Tod bedroht, in Köln-Deutz massiv bedrängt, mit einem selbstgebastelten Böller beworfen und bei einer rechten Veranstaltung in seinem Heimatort von Ordnern körperlich genötigt.
Schneider lässt so etwas nicht auf sich beruhen. In allen drei Fällen hat er Anzeige gegen die Täter erstattet – und war über den Ausgang jedes Mal sehr ernüchtert. Beispiel Dortmund, wo er bei einer Demo von Rechtsradikalen am bundesweiten „Tag der deutschen Zukunft“ beobachtete, wie Demonstranten mit Regenschirmen systematisch die Presse-Fotografen traktierten: „Sie benutzten die Schirme nicht nur, um passiv einen Sichtschutz aufzubauen, sondern liefen hinter den Fotografen her, stachen mit den Schirmspitzen auf sie ein und schlugen auch zu“, berichtet Schneider.
Ihm habe dort ein rechter Demo-Teilnehmer unter den Augen eines Polizisten angedroht, ihn am nächsten Baum aufzuhängen. „Meine Strafanzeige gegen den Mann ist mit der Begründung eingestellt worden, es hätte in der betreffenden Situation ja an Tatmitteln gefehlt. Weder ein Galgen noch ein Baum, noch ein Seil hätten zur Verfügung gestanden.“
Strafanzeige stellen
Für den DJV ist die Bedrohung von Journalistinnen und Journalisten zum Beispiel bei Demos inzwischen ein Dauerthema. Er hat deswegen wiederholt mit Ordnungsbehörden und Justizministerien in Bund und Ländern gesprochen und unter anderem dafür geworben, Einsatzkräfte besser zu schulen. Und er macht immer wieder deutlich: Es gehört zu den Aufgaben der Polizei, Medienvertreter bei der Ausübung ihrer verfassungsrechtlich gesicherten Arbeit zu schützen. Zugleich fordert der DJV Betroffene auf, Übergriffe und tätliche Angriffe immer und unverzüglich anzuzeigen. „Der Zeitaufwand, eine Strafanzeige online zu stellen, ist gering“, erklärt der DJV-Bundesvorsitzende Frank Überall. „Diese Zeit sollten alle betroffenen Kolleginnen und Kollegen investieren – für sich selbst und für andere Journalisten, die in die gleiche Situation kommen können.“ Nur so lasse sich der Gewalt gegen Journalisten Einhalt gebieten. Auch wenn in letzter Zeit Übergriffe auf Journalisten seltener Gegenstand der Berichterstattung seien, habe sich an der feindlichen Haltung insbesondere von Rechtsextremisten gegenüber Medienvertretern nichts geändert. Rechtliche Unterstützung erhalten DJV-Mitglieder bei Bedarf von ihrem Landesverband./cbl
Kein Schutz, kein Ermittlungsehrgeiz
Hartmut Schneider fühlt sich als Pressevertreter von der Polizei nicht gut geschützt. „Fotografieren Sie doch woanders“, so immer wieder die lapidare Empfehlung der Beamten, wenn er darauf hinweise, dass Demonstranten ihn seine Arbeit nicht machen ließen und bedrängten. Anzeigen würden oft nur widerwillig aufgenommen, und bei den Vorfällen, die er gemeldet habe, könne er auch keinen großen Ermittlungsehrgeiz feststellen.
Immer wieder beobachtet Schneider, „dass junge Bereitschaftspolizisten keinerlei Verständnis von Presserecht und Pressefreiheit zeigen, wenn sie im Einsatz sind“ (siehe auch Kasten „Strafanzeige stellen“). Er macht sich nicht extra mit einer Weste als Pressevertreter kenntlich, ist aber durch seine Kameras gut als solcher einzuordnen. Seine Frau besteht darauf, dass er inzwischen zumindest ab und zu einen Helm zur Arbeit mitnimmt.
Manchmal habe er Angst, räumt der Fotograf ein. Zumal die Gerichtsverfahren, die er angestrengt hat, einen ungewollten Nebeneffekt haben: Sein Name und seine Adresse sind dadurch bei den Prozessgegnern bekannt geworden. Das hat psychologische Folgen: „Wenn ich abends nach Hause komme, steige ich manchmal aus und gucke mich instinktiv erst einmal genau um. Das ist ein unangenehmes Gefühl.“ Trotzdem werde er weiter seine Fotos machen. „Ich habe mir irgendwann mal geschworen, keinen Fußbreit gegenüber Nazis zurückzuweichen.“
Ähnlich wie der Bergisch Gladbacher Fotograf, der im Job von ganz rechten und ganz linken Demonstranten angegangen wird, kommt die Bedrohung auch bei Lamya Kaddor abwechselnd von Gruppen, die völlig gegensätzliche Positionen vertreten. Mit ihren Büchern wie „Muslimisch, weiblich, deutsch“ (2010), „Zum Töten bereit. Warum deutsche Jugendliche in den Dschihad ziehen“ (2015) oder „Die Zerreißprobe: Wie die Angst vor dem Fremden unsere Demokratie bedroht“ (2016) zog die Publizistin und Religionspädagogin aus Duisburg den Hass von religiösen muslimischen Eiferern, Konvertiten und Islamisten auf der einen und von der nicht-muslimischen Mehrheitsgesellschaft sowie der rechten Szene auf der anderen Seite auf sich. Kaddor, deren Familie aus Syrien stammt, ist heftige Anfeindungen gewohnt, seit sie mit ihren Texten und als Person in der deutschen Öffentlichkeit steht. Sie ist Gründungsvorsitzende des Liberal-Islamischen Bundes und sieht sich als Mittlerin zwischen traditionellem und modernem Islam. Aber moderate Positionen haben es schwer in diesen polarisierten Zeiten. Seit „Die Zerreißprobe“ erschienen ist, in der sie eine wachsende Islamfeindlichkeit in Deutschland analysiert, steigerte sich die Bedrohung um ein Vielfaches, erzählt sie. „Ich habe nicht ansatzweise gedacht, dass die Leute so Amok laufen und mir fieseste Beschimpfungen und Morddrohungen schicken würden.“ Weil sie ihren Job als Lehrerin nicht mehr ausüben konnte, musste sie sich beurlauben lassen. Heute schützt die Polizei sie bei Lesungen.
Immer skrupelloser
„Man muss damit umgehen lernen, dass man gehasst wird“, findet Lamya Kaddor. „Ich bin in 15 Jahren da reingewachsen, weil ich durch immer mehr Publikationen eine immer öffentlichere Person wurde. Heute merke ich, dass diese Leute und ihre Kampagnen immer skrupelloser werden.“ Es helfe ihr, viel darüber zu sprechen, den Austausch zu suchen und sich bewusst zu machen, wie der Mechanismus des organisierten Hasses funktioniert. „Wenn es ganz massiv wird, schalte ich den Rechner aus und beschäftige mich mit meinen Kindern. Die erden mich wieder und bringen mich zu dem zurück, was tatsächlich wichtig im Leben ist.“
Journalisten leben in ganz Europa gefährlicher. Im März 2017 erschien die Studie „Journalism under pressure“ des Europarats, für die 940 Journalistinnen und Journalisten aus den 47 Mitgliedsstaaten befragt worden waren. 40 Prozent der Befragten hatten zwischen 2013 und 2016 „ungerechtfertigte Eingriffe“ in ihre Arbeit erlebt, davon knapp 70 Prozent als psychische Gewalt in Form von Bedrohung, Einschüchterung, Hetze und Verleumdung. Mehr als die Hälfte berichtete über „Cyberbullying“, fortgesetzte persönliche Angriffe im Netz. 50 Prozent hatten Einschüchterungen durch Interessengruppen erlebt, bei 46 Prozent war es die Androhung physischer Gewalt, und 43 Prozent berichteten von Drohungen durch politische Gruppierungen, andere von Überwachung und Bedrohung durch die Polizei. Fazit: Viele der Menschen, die im Journalismus arbeiten, lebten in Angst, die zur Selbstzensur führe, so der Europarat.
Auch in Polen werden Reporter bedroht, und nicht nur einheimische. Das bekam die NDR-Korrespondentin Annette Dittert zu spüren: Als auf arte ihre Dokumentation „Polen vor der Zerreißprobe – Eine Frau kämpft um ihr Land“ über die polnischen Oppositionelle und Europaparlamentarierin Róa Thun gelaufen war, heizten rechte polnische Gruppen eine regelrechte Hetzkampagne gegen Dittert an, die bis zu Todesdrohungen reichte. Der Hass gegen den in Augen der Gegner „antipolnischen Film“ wurde auch vom Vizepräsidenten des Europaparlaments geschürt, Ryszard Czarnecki von der Regierungspartei PiS, der sich dazu verstieg, Dittert mit Nazi-Regisseurin Leni Riefenstahl zu vergleichen. Schon vor diesen Vorfällen fiel Polen in der jüngsten „Rangliste der Pressefreiheit“ um sieben Plätze auf Platz 54. Auch Ungarn befindet sich in der Regierungszeit von Viktor Orbán in diesem Ranking im freien Fall und ist inzwischen auf Rang 71 hinter Malawi angekommen.
Konflikte schwappen hierher
Besonders viele Negativschlagzeilen in Sachen Pressefreiheit liefert seit dem Putschversuch gegen den Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoan aber die Türkei. Durch die große türkeistämmige Community sind die Konflikte zwischen AKP-Getreuen und Gülenisten, zwischen Türken, Kurden und Aleviten sowie andere innertürkische Probleme längst nach Deutschland geschwappt.
Türkische und deutsche Journalistinnen und Journalisten, die aus Deutschland über die Situation in der Türkei berichten, erleben Einschüchterungsversuche und Shitstorms. So bedrohten 2017 laut Reporter ohne Grenzen Unbekannte den türkischstämmigen Blogger Ali Utlu in Köln an seiner Wohnungstür und forderten ihn auf, nicht mehr über die Türkei zu twittern. Und nach Drohungen gegen Mitarbeiter und Abonnenten stellte die Deutschland-Ausgabe der Gülen-nahen türkischen Zeitung Zaman ihr Erscheinen ein.
Vor allem türkische Exil-Medienprojekte sind Zielscheibe der Bedrohung. So wie das deutsch-türkische Online-Magazin #Özgürüz („Wir sind frei“), das Can Dündar, ehemaliger Chefredakteur der Zeitung Cumhuriyet, mit dem Essener Recherchebüro Correctiv in Berlin begründet hat. Dort hilft zurzeit nur ein massiver Personenschutz: „Can Dündar hat mittlerweile vier Personenschützer, mit denen er sich bewegen muss. Die sind auch bei uns in der Redaktion, beziehungsweise vor der Tür. Das ist alles kein Spaß!“, sagt David Schraven, Correctiv-Gründer und -Geschäftsführer. „Die Bedrohung gegen uns ist latent und permanent. Nach dem Verfassungsreferendum im April 2017 war der Druck erst ein bisschen raus. Aber seit Dezember haben wir gerade mal wieder so eine Phase, wo die Bedrohung erhöht ist.“
Gegen Dündar, der über Korruption berichtete und anschließend wegen des „Verrats von Staatsgeheimnissen“ verurteilt wurde, gab es bereits in Istanbul einen Anschlag. Auch in Deutschland ist die Gefahr real: Ein Team des türkischen Staatsfernsehens filmte den Eingang der Redaktion in Berlin, kurz darauf veröffentlichten zahlreiche türkische Medien Berichte, in denen #Özgürüz als Hort von Terroristen dargestellt wurde, wo man angeblich mit der PKK und Gülenisten zusammenarbeite. Die türkischen #Özgürüz-Kollegen erhielten Morddrohungen. Fünf von ihnen kündigten Anfang 2017 ihre Jobs.
Die Bedrohung habe die Herangehensweise der Redaktion an Themen nicht grundsätzlich geändert, sagt David Schraven. „Man kann aber sagen, dass die Kollegen, die neuerdings in der Türkei für uns arbeiten, sehr vorsichtig sind. Die schreiben nicht, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist, sondern überlegen sich sehr genau, was sie machen.“ Schraven findet die Situation surreal: „Ich hätte nie im Leben gedacht, dass ich hier in Deutschland mal mit Polizeischutz arbeiten muss. Man denkt, das kann doch nicht wahr sein. Aber die Polizisten sind nicht ohne Grund da.“
Richard Gutjahrs Tipps zum Umgang mit Hetze im Netz
• Hass-Urheber anzeigen! Strafanzeigen kann man über Online-Wachen bequem von zuhause aus erstatten. Das ist mit ein paar Klicks erledigt – der ganze Vorgang dauert keine 10 Minuten.
• Screenshots machen – aber richtig: Um Polizei und Staatsanwaltschaft die Arbeit zu erleichtern, unbedingt die folgenden Punkte beachten:
• Rechtschutzversicherung abschließen. Gerade Zivilverfahren dauern lange und verschlingen unfassbar viel Geld.
• Fachanwälte suchen. In den etwas heftigeren Auseinandersetzungen haben es mir meine Gegner leicht gemacht, weil sie Anwälte beschäftigten, die vom Internet (und manchmal auch vom deutschen Rechtssystem) wenig Ahnung hatten.
• Professionelle Hilfe konsultieren. Gemeint sind Therapeuten, die einen über längere Zeit hinweg begleiten. Gerade wenn sich die Attacken über mehrere Monate hinweg ziehen, ist die Gefahr groß, sich mehr und mehr von der Umwelt zu isolieren und in eine Depression zu verfallen.
• Nicht wegschauen! Wenn Euch Hass im Netz begegnet, eilt dem Opfer zur Hilfe. Solidaritätsbekundungen im persönlichen Chat sind toll. Noch besser ist es, dem Opfer öffentlich, also für alle Welt sichtbar, mit Counter Speech zu helfen. Das spornt andere Unbeteiligte an, es Euch gleichzutun.
• Vernetzt Euch! Es gibt tolle Initiativen und Einrichtungen für Opfer von Hate-Crime. Bewegungen wie #ichbinhier oder no-hate-speech.de haben auch mir in so manch schwerer Stunde geholfen. Denn egal, wie düster einem die Welt auch immer gerade erscheint – vergesst nicht:
• Du bist nicht allein.
Quelle: http://www.gutjahr.biz/
Bedrohungskulisse aufgebaut
„Allgemein ziemlich beängstigend“ findet auch der deutsch-türkische Dokumentarfilmer Osman Okkan die Situation. „In der Türkei, aber auch hier in Deutschland, werden prominente Journalisten von AKP-Anhängern auf der Straße beschimpft und angegriffen.“ Okkan arbeitete mehr als zwei Jahrzehnte als Redakteur und Moderator für deutsch- und türkischsprachige Programme des WDR und ist unter anderem bekannt für seine Dokumentation über den ermordeten armenisch-stämmigen Journalisten Hrant Dink. Er selbst fühlt sich in Deutschland sicher, aber: „Die Bedrohungskulisse von AKP-Unterstützern ist hierzulande aufgebaut“, sagt Okkan, „und Diffamierungen aus dem türkischen Fernsehen und von der AKP-Presse gegenüber Journalisten sind gang und gäbe.“
Auch das neue Notstandsdekret 696, das am 23. Dezember in der Türkei in Kraft trat, bereitet Okkan Sorgen. Damit werden vordergründig alle Menschen amnestiert, die bei der Niederschlagung des Putsches gegen Erdoan an Gewalttaten beteiligt waren. Dahinter verbirgt sich aber auch die Straffreiheit für alle Zivilisten, die weiterhin gewaltsam gegen „Terroristen“ vorgehen. Und solange die türkische Regierung selbst Journalisten wie Deniz Yücel als „Terroristen“ bezeichnet und ohne Prozess hinter Gitter bringt, werden mit dem Gesetz auch regierungskritische Journalisten für vogelfrei erklärt. Das Signal lautet: Wer ihnen etwas antut, muss in der Türkei nichts befürchten.
„Das übernimmt ein Teil der türkischen Community in Deutschland auch“, befürchtet Okkan. „Erdoan versucht durch diese Polarisierung ganz gezielt, die Massen, die ihm ergeben sind, hinter sich zu vereinen. Das wird eins zu eins auch auf Deutschland übertragen.“ Er habe Verständnis für türkische Journalisten in Deutschland, die sich angesichts dieser aufgeheizten Stimmung von heiklen Themen zurückziehen. „Es geht um Leib und Leben, um das Leben der Verwandten und sehr häufig auch um ihre Habe in der Türkei.“
Kein Platz mehr für Grautöne
Das Prinzip „Wer nicht für mich ist, ist gegen mich“ spürt auch die in der Türkei aufgewachsene und heute im Rheinland lebende politische Radio- und Fernsehjournalistin Aysel Ates (Name geändert) bei ihren Recherchen in der türkischstämmigen Community in NRW. „Die Leute haben sich seit dem Putschversuch stark polarisiert, sowohl Regierungsunterstützer als auch Regierungsgegner. Es ist kein Platz mehr für Grautöne“, erzählt die freie Reporterin. „Man wird dazu gezwungen, für eine Seite Partei zu ergreifen. Auch die Journalisten. So kann man nicht objektiv und sachlich berichten, wie es ein Journalist ja tun sollte.“ Sie bemüht sich, weiterhin objektiv zu bleiben. Doch schon das empfinden nicht wenige als Affront. Immer wieder habe sie Einschüchterungsversuche erlebt. Sie ziehe bereits Hasskommentare auf sich und sogar Beschwerden an die Intendanz des öffentlich-rechtlichen Senders, für den sie als Freie arbeitet, wenn sie das Wording einer der beiden Seiten nicht benutzt. Es kann Proteststürme auslösen, wenn sie von „getöteten türkischen Soldaten in Ostanatolien“ spricht und nicht von „Märtyrern“ – oder allein schon, wenn sie für einen Sender arbeitet, der das tut.
Wütende, ungläubige Reaktionen
Sie wird beschimpft, weil sie über die Resolution des Bundestags zum Völkermord an den Armeniern berichtete. Man hält ihr vor, ihr Auftraggeber zähle zur „Lügenpresse“. Wenn sie darüber berichtet, dass einfache kurdische oder alevitische Familien aus NRW grundlos an der Einreise in die Türkei gehindert werden, erntet sie wütende und ungläubige Reaktionen. Nach AKP-kritischen Berichten wird es für sie immer schwieriger, Zuwanderer aus der Türkei und Deutsche mit türkischen Wurzeln als Interviewpartner und O-Ton-Quelle zu finden. Man schickt sie weg.
„Ich versuche bei all dem einfach, ich selbst zu sein“, erklärt Aysel Ates ihre Strategie. „Die Menschen sehen ja schon seit Jahren, wie ich darüber berichte.“ Beständigkeit, Fachkenntnis und Verlässlichkeit sind ihre vertrauensbildenden Maßnahmen. Angst hat sie nicht, sagt sie, aber: „Die Arbeitsatmosphäre ist schwierig geworden“. Das gilt für immer mehr gesellschaftliche Bereiche. Als Rechte den Redakteur Peter Bandermann von den Ruhr Nachrichten mit dem Tod bedrohten und sogar eine fingierte Todesanzeige mit seinem Namen veröffentlichten (JOURNAL berichtete), dachte man, es könnte kaum noch schlimmer kommen. Doch es hörte nicht auf, viele beängstigende Fälle folgten. Reporter Christian Gesellmann gestand im Januar in einem aufsehenerregenden Text im Tagesspiegel („Wie es sich lebt in einer von Rechten dominierten Stadt?“), dass er allmählich den Mut verliert: „Im siebten Jahr als Journalist in Sachsen fühle ich zum ersten Mal Angst. Und was viel schlimmer ist als das, ist die Scham darüber.“ Er werde bedroht, in rechtsextremen Gruppen zur Schau gestellt – und das alles in einer Gesellschaft, in der rechtsextreme Auffassungen allmählich Mainstream werden, wie er findet. „Die Bedrohung ist zugleich abstrakt und real. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass mir selbst etwas passiert. Die Bedrohung ist zudem geplant und sie soll ja genau das erreichen: dass ich Angst bekomme. So funktioniert Terrorismus nun mal.“ Die renommierte Mafiaexpertin Petra Reski (siehe auch JOURNAL 5/14) gab den Journalismus inzwischen auf – zermürbt von Prozessen, die aufgrund ihrer investigativen Recherchen gegen sie angestrengt werden. Sie veröffentlicht ihre Erkenntnisse sicherheitshalber nur noch als Belletristik. Und auch der freie Journalist und Netzexperte Richard Gutjahr war kurz davor, aufzugeben. Er fühlte sich angesichts einer von Antisemiten und Verschwörungstheoretikern weltweit lancierten Verleumdungskampagne und den damit verbundenen Bedrohungen gegen sich und seine Familie so hilflos, dass er zwischenzeitlich völlig abtauchte.
Teilen, um damit nicht allein zu sein
Anfang 2018 kehrte er zurück in die Öffentlichkeit und erzählt seither ausführlich die Geschichte der Hexenjagd gegen ihn. Die begann, weil er zufällig sowohl bei dem Attentat auf der Promenade von Nizza und eine Woche später beim Amoklauf in einem Münchner Einkaufszentrum sofort vor Ort war. Er müsse seine Erlebnisse jetzt teilen, denn das Schlimmste sei gewesen, sich in der Bedrohung allein zu fühlen, sagte Gutjahr. Auf der TEDx-Konferenz im Januar 2018 fasste er in einem Vortrag seine „Lessons learned“ in zehn Ratschlägen zusammen. Sein Punkt 6 lautete: „Sei vorbereitet!“ Damit wird er bei der Lehrredaktionsleiterin Sigrun Rottmann von der TU Dortmund offene Türen einrennen. Sie denkt über ein Konzept nach, wie der richtige Umgang mit Anfeindungen und Bedrohungen ein Teil des Journalistikstudiums werden kann.||
JOURNAL 1/18