Die meisten der Geschassten von damals haben sich kurz vor Weihnachten getroffen: zum Frühstück im „Kirchenasyl“. Das jährliche Treffen verbindet bis heute die früheren Redakteure der Münsterschen Zeitung (MZ), die am 19. Januar 2007 von ihrem Verleger vor die Tür gesetzt wurden. Damals bot das Pfarrheim der Herz-Jesu-Gemeinde in Münster Zuflucht zum Reden, Planen und zum Überlegen, wie es mit ihnen weiter gehen sollte. Zehn Jahre ist es her, dass der Dortmunder Verleger Lambert Lensing-Wolff eine komplette deutsche Zeitungsredaktion ausbootete und durch eine hinterrücks aufgebaute Redaktion aus Jungredakteuren ersetzte. Dieser „Schwarze Freitag“ ist auch heute noch einzigartig in der Nachkriegsgeschichte des deutschen Journalismus.
An einem Freitagabend, dem Tag nach dem Jahrhundertsturm Kyrill, erfuhren die Redakteurinnen und Redakteure der MZ sowie die Redaktionssekretärin in einem Hotel-Konferenzraum von ihrer Freistellung. Ihr Verleger hatte den Produktionsauftrag an eine neue Redaktion weitergegeben. Die hatten Chefredakteur Stefan Bergmann (heute: Emder Zeitung, Ostfriesland) und Geschäftsführer Lutz Schumacher (heute: Nordkurier in Mecklenburg-Vorpommern) still und heimlich aufgebaut – ein Novum in Deutschland. Entsprechend unvorbereitet waren die MZ-Redakteure. Wolfram Linke, Ex-MZler und heute Vorsitzender des Pressevereins Münster-Münsterland (PVMM), sagte jüngst im kress-Interview selbstkritisch: „Wir hatten einen Identifikationsgrad von 100 Prozent mit der Zeitung. Deswegen waren wir wohl auch ziemlich blauäugig.“
Der Redaktionsaustausch störte den sozialen Konsens in der Universitäts- und Beamtenstadt. Es folgten zahlreiche Abo-Kündigungen, Aktionen der beiden Journalistengewerkschaften und der Betroffenen, Münster war über Monate hinweg bundesweit in den Schlagzeilen.
Das neue MZ-Team war jünger und damit billiger. Und angeblich auch williger als die Truppe erfahrener Lokalredakteure. Das behauptete jedenfalls der Verleger und brachte am Montag nach dem „Schwarzen Freitag“ die Zeitungsausgabe der Nachfolgeredaktion auf den Markt. Lensing-Wolff pries seine Neuen als das „bundesweit innovativste Redaktionsteam“, musste sich allerdings vom Spiegel gleich sagen lassen: „Andere Häuser sind da schon weiter.“
Ankündigung massiver Umbrüche
Das rücksichtslose Vorgehen bei der Münsterschen Zeitung kündigte die massiven Umbrüche in der deutschen Medienlandschaft an. Mit den „Jagdszenen in Münster“ (FAZ) beschäftigten sich zahlreiche Medien. „Münster ist überall“ titelte der Spiegel damals, aber der Spruch war mehr. „Münster“ wurde zum Maßstab für ruppigen und unsozialen Umgang von Verlagen mit Redakteuren. Oft hieß es seitdem bei Kündigungswellen und Betriebsversammlungen gleich vorneweg: „Aber nicht wie Münster.“
Verleger Lensing-Wolff brachte die Aktion einen Millionenverlust, die Zeitungsbranche kostete der „Fall MZ“ viel Vertrauen. Denn er diskreditierte das damals neue Newsdesk-Modell: Das Modernisierungs- und Rationalisierungsinstrument bekam den Ruf einer reinen Sparmaßnahme. Die Branche ging vorsichtig auf Distanz zum Dortmunder Verleger – aber nicht lange. Denn ein bisschen Münster ist inzwischen überall in der Branche. Die Begriffe Produktionsauftrag und Redaktion, die in Münster erstmals zusammenkamen, werden heute wie selbstverständlich miteinander verbunden. Verloren ging dabei die alte Selbstverständlichkeit, dass Redaktionen eines Titels sich zwar aus Agenturmaterial bedienen, aber ansonsten selbst für die Inhalte ihrer Zeitung zuständig sind.
Was danach kam
Gut ein Jahr später begann der bis heute andauernde Umbau des damaligen WAZ-Konzerns im Ruhrgebiet (heute Funke Mediengruppe). Rund 300 Redakteure und damit ein Drittel der Redakteure verloren ab 2008 ihren Job, zusammen mit unzähligen Freien. 2013 folgte die Schließung der Redaktion der Dortmunder Westfälischen Rundschau (WR), die für 120 Redaktionsmitarbeiter das Aus bedeutete. Als Zombiezeitung wird die WR heute aus fremden Inhalten zusammengestellt: Der Mantel kommt von der WAZ, der Lokalteil aus dem Hause Lensing-Wolff. Der Aufbau einer Funke-Nachrichtenzentale in Berlin kostete weitere journalistische Arbeitsplätze in der Essener Zentralredaktion.
Im März 2014 wurde auch die Westdeutsche Zeitung (WZ) in Wuppertal zu einer Art Zombiezeitung. Fünfzig Mitarbeiter aus der Redaktion mussten gehen, viele Freie verloren ihre Aufträge. Auch bei der WZ ging es zuerst nicht mehr um Journalismus, sondern um „Produktionsaufträge“. Für den Zeitungsmantel und dann für die Lokalausgaben in den Kreisen Viersen, Neuss und Mettmann.
Ebenfalls 2014 gründeten die Kölner Verlage M. DuMont-Schauberg (heute DuMont Mediengruppe) und Heinen eine gemeinsame Tochter, in der die Außenredaktionen von Kölner Stadt-Anzeiger (KStA) und Kölnischer Rundschau zusammengezogen wurden. Große Teile der DuMont-Redaktionen in Köln sind inzwischen auch in Tochtergesellschaften gewandert.
In den vergangenen Monaten machte DuMont mit dem angekündigten Stellenabbau bei Berliner Zeitung und Berliner Kurier von sich reden. Der „neuartige integrierte Newsroom“ in Berlin soll 50 Stellen weniger haben als die bestehenden Redaktionen. Wer von den bisherigen Redakteuren dabei sein will, muss sich in der neuen Tochtergesellschaft bewerben. Nicht ganz so schmerzhaft sind die Einschnitte in Köln, wo ebenfalls ein gemeinsamer Newsroom für Abo-Zeitung und Boulevardblatt entsteht und im kleineren Umfang Stellen wegfallen.
Die Münstersche Zeitung hat den schweren Schlag, den der eigene Verleger gegen sie führte, trotz Redaktionstausch letztlich nicht als eigenständige Zeitung überlebt. Sie gehört seit 2014 dem einstigen Konkurrenz-Verlag Aschendorff. Der MZ-Mantelteil kommt heute von den Lensing-Wolffschen Ruhr Nachrichten, den Lokalteil liefern die Westfälischen Nachrichten. Die Stadt Münster hat an Pressevielfalt verloren, die meisten Zeitungsredakteure arbeiten dort heute mehr oder weniger freiwillig außertariflich.
Erinnerung an die große Solidarität
Auch die geschassten MZ-ler hatten sich vor zehn Jahren für den „Spatz in der Hand“ entschieden, wie der Betriebsrat Stefan Clauser damals sagte. Ende März 2007 unterschrieben zehn von ihnen Aufhebungsverträge. Ex-Redakteurin Bruni Frobusch zog am Jahrestag ihr Fazit: „Tröstend war der Zusammenhalt der Kollegen und die Rückendeckung der Gewerkschaften DJV und dju sowie der Münsteraner. Auch zehn Jahre später bleibt die Fassungslosigkeit über die perfide Planung unseres Rauswurfs.“ Die Redakteursgruppe baute über eine Qualifizierungsgesellschaft das Onlineportal „Echo Münster“ auf und sorgte so über Jahre für mehr Meinungsvielfalt in Münster. Inzwischen ist es eingestellt.
Einige der früheren MZ-Redakteure sind heute im Ruhestand, manche haben neue Arbeitsplätze in der Medienbranche gefunden. Nach Einschätzung des PVMM-Vorsitzenden Wolfram Linke haben manche allerdings zu knapsen – „bis zu Hartz IV“. Gefühlsmäßig haben die meisten mit dem für sie traumatischen Kapitel „MZ Münster“ abgeschlossen – nur das jährliche „Kirchenasyl“ im Advent bleibt.