JOURNALISTENTAG

Den Finger in die Wunde legen

Der Journalismus braucht eine neue Fehlerkultur, mehr Selbstreflexion und Transparenz
16. Dezember 2019, Jörn-Jakob Surkemper

Als der Spiegel im Dezember 2018 publik machte, dass Reportagen seines Autors Claas Relotius zum Teil frei erfunden waren, erschütterte dies die gesamte Branche. Ausgerechnet die vermeintliche Speerspitze des seriösen, investigativen Journalismus‘, deren Gründer Rudolf Augstein den Satz prägte „Sagen, was ist“, musste zugegeben, dass einiges eben nicht war wie gesagt. Auch fast ein Jahr später beschäftigt den Journalismus noch der Umgang mit derartigem Versagen und Fehlern und wie beides zu vermeiden ist. „Fakten versus Fakes – Schwamm drüber oder Finger in die Wunde? Fehlerkultur in Redaktionen“ hieß eines der beiden Foren, in denen sich der Journalistentag NRW am 23. November in Dortmund dem Thema widmete.

Medien brauchen eine bessere Fehlerkultur (v.l.): David Schraven, Marlis Prinzing, Brigitte Fehrle und Andrea Hansen. | Foto: Udo Geisler
Medien brauchen eine bessere Fehlerkultur (v.l.): David Schraven, Marlis Prinzing, Brigitte Fehrle und Andrea Hansen. | Foto: Udo Geisler

Einig war sich die Runde auf dem Panel, dass Relotius kein repräsentatives Beispiel für den Journalismus in Gänze sei, zumal ihn außerhalb von einigen Elfenbeintürmen kaum jemand wirklich gelesen habe. Das bestätigte auch das Publikum per Handzeichen, welches Moderatorin Andrea Hansen eingangs dazu befragte. Zudem, so betont Prof. Dr. Marlis Prinzing: „Bei Relotius ging es nicht bloß um Fehler, sondern um Betrug und bewusste Irreführung.“ Die Professorin für Journalistik befasst sich an der Hochschule Macromedia in Köln schwerpunktmäßig mit Ethik, digitaler Transformation und Innovation. Die Aufarbeitung des Falls sei „absolut notwendig“ gewesen. „Man konnte nicht einfach zur Tagesordnung übergehen“, zumal sich die Frage stellte, wie der Betrug so lange unbemerkt bleiben konnte.

Antworten auf diese Frage suchte auch Brigitte Fehrle, die als externe Journalistin an der Spiegel-Kommission zur Aufklärung des Falls Relotius beteiligt war und mit vielen Redakteurinnen und Redakteuren sprechen konnte. Für die Politologin und freie Journalistin lagen die Gründe zum einen im Wesen der Reportage, zum anderen aber auch in der Sonderstellung des zuständigen Gesellschaftsressorts beim Spiegel, das eine gewisse Unantastbarkeit genoss. „Die Reportage ist ein anfälliges Genres, weil sie unter dem Diktum steht, besonders schön geschrieben sein zu müssen“, sagte Fehrle. Zudem seien einige Fakten speziell in der Auslandsreportage praktisch nicht zu überprüfen.

Keine Angst vor Fehlern

Das sahen ihre beiden Mitdiskutanten auf dem Podium anders. „Die Reportage ist bedingungslos der Wahrheit und der Wirklichkeit verpflichtet und nicht der Schönheit“, sagte Marlis Prinzing. „Wahrheit kann vielschichtig sein, aber nicht beliebig.“ Die Professorin sieht den Relotius-Skandal als Chance, sich wieder auf journalistische Kerntugenden zu besinnen – mit verstärktem Blick auf das Publikum statt auf Kollegen oder Juroren von Journalistenpreisen.

David Schraven vom Recherchenetzwerk Correctiv, das sowohl intern als auch im Auftrag externer Kunden Faktenchecks durchführt, forderte eine andere Fehlerkultur im Journalismus. „Ein Problem ist der Genie-Gedanke. Nach Goethe ist kein Genie mehr da gewesen. Wir brauchen eine Fehlerkultur, in der man keine Angst haben muss, Fehler zuzugeben.“ Ein Weg sei die Pflege des Vier- und Mehr-Augen-Prinzips und des Faktenchecks, ohne damit automatisch Misstrauen zu verbinden.

„In den USA ist der Faktencheck viel normaler“, führte Schraven aus und erzählt: „Wir haben selbst für ein Fahrradmagazin gecheckt, ob es eine bestimmte Tankstelle gibt und ob dort eine bestimmte Person arbeitet, die in einer Reportage vorkam.“ Natürlich sei der Aufwand größer, „aber wenn man es auf die größeren Storys beschränkt, ist es machbar“, zeigte sich Schraven überzeugt.

Zu perfekt, um wahr zu sein

Dabei hat der Journalismus, wie Brigitte Fehrle betont, insgesamt wohl weniger ein Problem mit dem bewussten Fälschen und Erfinden als mit dem Weglassen und Glattschleifen von Fakten, die nicht zur These oder zum Plot passen. Letzteres war auch das Thema eines weiteren Forums: Unter dem Titel „Storytelling – zu perfekt, um wahr zu sein? Wenn die Story heißer ist als die Wirklichkeit“ ging es um mögliche Diskrepanzen zwischen Erwartungshaltungen etwa der Redaktion und den Wirklichkeiten, die eine Reporterin oder ein Reporter vor Ort vorfindet. Ein Dilemma, das nach Ansicht von Prof. Dr. Rainer Leschke, Medienwissenschaftler an der Universität Siegen, eigentlich nicht aufzulösen sei. Objektivität und Narration schlössen sich geradezu gegenseitig aus: „Wenn Sie versuchen, komplexe Sachverhalte in eine Narration zu pressen, entfernen Sie sich vom Sachverhalt. Wenn Journalistinnen und Journalisten erzählen, dann ‚lügen‘ sie also – wenigstens systematisch.“

Über die Tücken des Storytelling sprachen (v.l.) Thomas Münten, Martin Suckow, Rainer Leschke und Ilka Brecht. | Foto: Udo Geisler
Über die Tücken des Storytelling sprachen (v.l.) Thomas Münten, Martin Suckow, Rainer Leschke und Ilka Brecht. | Foto: Udo Geisler

Diese These wollten diejenigen auf dem Panel nicht unterschreiben, die aus der journalistische Praxis kamen. „An Objektivität glaube ich sowieso nicht“, sagte Ilka Brecht vom ZDF-Magazin Frontal21. Es gehe vielmehr darum, die eigene Subjektivität und Erwartungshaltung, aber auch diejenige von Informantinnen und Informanten infrage zu stellen. Man müsse schauen, welche Interessen hat derjenige, müsse unterschiedliche Perspektiven einnehmen und diesen Prozess transparent machen. „Unser Beruf ist Fragen stellen, auch sich gegenseitig hinterfragen.“

Mehrstufiges Verfahren der Qualitätskontrolle

Martin Suckow, Redakteur bei den WDR-Formaten Menschen hautnah, Die Story und Die Story im Ersten gab zu bedenken: „Die Reportage zeichnet sich nicht in erster Linie durch sehr komplexe Sachverhalte aus, sondern durchs Dabeisein bei einem Geschehen, wie etwa dem Alltag eines Rettungssanitäters.“ Um Fakes oder Verfälschungen zu vermeiden, gebe es ein mehrstufiges Verfahren der Qualitätskontrolle. Das beginne schon bei der Auftragsvergabe: „Wir versuchen eine Atmosphäre herzustellen, wo es in Ordnung ist, dass eine Recherche im Sande verläuft.“ Solche Recherchen würden bezahlt, auch wenn kein sendefähiger Beitrag dabei entsteht. „Das liegt ja auch in der Natur des Formats“, ergänzte ZDF-Kollegin Ilka Brecht: „Sechs von zehn Geschichten verlaufen im Sande.“

Es bleibt also dabei: Die Story muss sich letztlich immer an der Wirklichkeit messen lassen.||

 

Ein Beitrag in Ergänzung zu JOURNAL 6/19, dem Medien- und Mitgliedermagazin des DJV-NRW, erschienen im Dezember 2019.