Ist „User first“ eine neue Art, die journalistische Arbeit zu organisieren? Oder doch eher ein alter Hut, der etwas zurechtgezupft wird? | Foto: Madrabothair
Ist „User first“ eine neue Art, die journalistische Arbeit zu organisieren? Oder doch eher ein alter Hut, der etwas zurechtgezupft wird? | Foto: Madrabothair
 
THEMA | „User first“

Die nächste Runde

Unter dem Motto „User first“ soll die Produktion moderner werden
20. Februar 2019, Werner Hinse

Eigentlich ist es ein alter Hut: „Online first“ oder früher „Web first“. Zeitungen wie der Guardian und die Times sowie in Deutschland die WELT waren vor 14 Jahren gleich dabei. Und nach und nach zogen (fast) alle nach. Dahinter steckt schlicht ein grundlegender Strategiewechsel: Nachrichten und Berichte werden möglichst schnell im Internet veröffentlicht, bevor sie dann tags darauf in der Printausgabe erscheinen. „Erst Online, dann Print“, der gedruckte Text quasi als Zweitverwertung – dieses Gebot schüttelt traditionsreiche Zeitungshäuser seit Jahren durch. Die eigentliche Botschaft heißt aber auch: Das Printzeitalter ist vorbei.

Bei den bundesweit zwölf Regionalzeitungen der Essener Funke-Gruppe mit ihren täglich fast 2 000 Zeitungsseiten, ihren diversen Onlineauftritten und dutzendfachen Apps übersetzt sich dieses Gebot künftig in die Devise „User first“. Die Chefs der Funke-Gruppe, Ove Saffe, Andreas Schoo und Michael Wüller, verkündeten Ende Oktober 2018: „Funke geht den nächsten Schritt seiner Digitaloffensive und richtet die Arbeit in den Redaktionen konsequent auf die Interessen, Bedürfnisse und vor allem die veränderten Nutzungsgewohnheiten der Leserinnen und Leser aus.“ Man habe die Lesegewohnheiten der Nutzer untersucht und festgestellt: „Unsere aktuellen Produktionsworkflows passen nicht immer ideal zur Mediennutzung unserer Leserinnen und Leser“, erklärte Schoo in der damaligen Pressemitteilung (siehe auch Kasten „‚User first‘ bei der Funke-Gruppe“).

Es gibt Kenner der Funke-Gruppe, die einen anderen Blick darauf haben, wie neu und innovativ „User first“ ist. Dazu gehört der Journalist und Sachbuchautor Paul-Josef Raue: Wer ihm zuhört, der sieht schnell den alten zerbeulten WAZ-Hut auftauchen, der nur ein wenig zurechtgerückt wird. Raue war 35 Jahre lang Chefredakteur in Erfurt, Braunschweig, Magdeburg, Frankfurt/Main, Marburg und Eisenach. Im November fragte der erfahrene Medienmann und Freund des Lokaljournalismus in einer kress-Kolumne: „Ist der Journalismus mit ‚Online first‘ zu retten?“ Und stellt fest, dass manche Medienhäuser „versuchen, den Begriff zu meiden, als sei er kontaminiert“.
Die Funke-Gruppe nennt die Strategie, mit der sie „den Ausbau der digitalen Bezahlangebote beschleunigen“ will also „User first“ – und verbrennt den Begriff direkt wieder, indem sie im Februar – also mitten in der Umstellung auf „User first“ – die nächste Sparrunde dreht (siehe dazu Kasten „Sparen ohne Konzept: Erneuter Stellenabbau bei der Funke Mediengruppe“). Als ob die Redaktionen den Bedürfnissen der Leserinnen und Leser mit noch weniger Personal besser gerecht werden könnten. Die viel beschworene digitale Transformation der Zeitungsbranche wird durch diesen Schritt erneut in Misskredit gebracht.

Radikal vom Kunden aus denken

Dabei vollziehen die Essener nun als einer der letzten großen deutschen Zeitungsverlage den wichtigen Schritt, endgültig den Onlinejournalismus zu priorisieren und die Produktionsabläufe danach umzustricken. Anders gesagt: Die Funke-Gruppe akzeptiert das Grundgesetz des digitalen Zeitalters. Und das lautet nun einmal, so sagt es Professor Franz Vallée, der sich am Fachbereich Wirtschaft der FH Münster mit Fragen der Digitalisierung befasst: „Der Prozess muss sehr radikal vom Kunden gedacht werden.“ Nicht mehr das Produkt steht im Zentrum künftigen Handelns, sondern der Kunde.

Eigentlich längst eine Selbstverständlichkeit, oder nicht? Wie sieht es im Redaktionsalltag aus? Bei einer Rundfrage unter Betriebsräten in einigen regionalen Medienhäusern in NRW zeigt sich, dass manche Redakteurinnen und Redakteure zuerst immer noch automatisch an ihre Printseiten denken. Ein lange gewohnter Workflow verschwindet auch mit erfolgreich absolvierten Online-Schulungen nicht ohne Weiteres aus dem Kopf. Auch wenn man weiß und versteht, dass viele Leserinnen und Leser heute etwas anderes erwarten.

Wie schaffen es Zeitungen, als bevorzugte App auf den Smartphones der Userinnen und User zu landen – und ihnen die exklusiven Inhalte auch zu verkaufen? | Foto: inkje
Wie schaffen es Zeitungen, als bevorzugte App auf den Smartphones der Userinnen und User zu landen – und ihnen die exklusiven Inhalte auch zu verkaufen? | Foto: inkje

Zu lange haben Verleger und auch Journalisten nicht wahrhaben wollen, dass der Tag inzwischen für viele Deutsche mit Onlinenachrichten anfängt. Mit dem morgendlichen Themen-überblick in der App. Vielleicht noch begleitet vom Radio. Das Internet ist längst das Nachrichtenmedium Nummer eins. Die möglichen Nutzer publizistischer Angebote sind jeden Tag länger im Internet. Die Nutzungszeit lag 2018 bei durchschnittlich 196 Minuten (3.16 Stunden) pro Tag, das sind im Vergleich zum Vorjahr 47 Minuten mehr. Bei den unter 30-Jährigen beträgt sie knapp sechs Stunden, während die ab 70-Jährigen nicht einmal eine Stunde pro Tag online sind. Das wurde für die ARD/ZDF-Onlinestudie 2018 ermittelt.

Schwieriges Abwägen

Spätestens seit dem Aufkommen von Apps für Tablets und Smartphones vor gut einem Jahrzehnt standen die Zeitungshäuser vor der Frage, wie es weitergehen soll. Exklusives Wissen vor dem Erscheinen der gedruckten Ausgabe zu veröffentlichen, erscheint noch heute in etlichen Verlagshäusern wie ein Sakrileg. Das Abwägen zwischen der Gefahr der Selbst-Kannibalisierung und der Chance zum Überleben mit Online bleibt schwierig, und es ist in vielen Medienhäusern noch nicht entschieden.

In Deutschland war der Axel-Springer-Verlag der Vorreiter, der seine Nachrichten zuerst im Internet veröffentlichte. Matthias Döpfner, heute Vorstandsvorsitzender von Axel Springer SE und Präsident des Bundesverbands Deutscher Zeitungsverleger (BDZV), beschrieb 2006 in einem Essay in der WELT die Unterschiede der beiden Welten: „Die Zeitung wirkt erweiternd, das Internet vertiefend. Die Zeitung funktioniert horizontal, das Internet vertikal. Der zweite Wesensunterschied ist: Im Internet führt der Nutzer den Journalisten. In der Zeitung wird der Leser geführt. Das Internet hat das Hierarchieverhältnis verkehrt.“ Was Döpfner seiner Branche damals zum anstehenden Zeiten-wandel aufschrieb, wurde später oft zitiert: „Wir Verlagsmanager müssen uns deshalb noch bewusster werden, dass unser Geschäft nicht das Bedrucken von Papier ist, sondern Journalismus.“

Mehr als bedrucktes Papier

Den Online-Ball haben viele Zeitungsverlage aufgefangen. So spielt das Aachener Medienhaus heute wie selbstverständlich auf dieses Döpfner-Zitat an, wenn es für seine Angebote wirbt: „Inzwischen reicht unser Leistungsportfolio über das bloße ‚Papier bedrucken’ weit hinaus.“ Neben beiden Tageszeitungen Aachener Nachrichten und Aachener Zeitung sowie den Anzeigenblättern Super Mittwoch und Super Sonntag umfasst das Leistungsspektrum News-App, Websites und das ePaper. Und seit 2018 heißt es für die Kolleginnen und Kollegen im äußersten Westen NRWs: „Alle Geschichten gehen zuerst online raus.“

Das Aachener Regionalangebot könnte man als eine Art Branchenstandard für nordrhein-westfälische Medienhäuser sehen, die sich um die alten Zeitungsmarken gebildet haben. Mitte 2018 führten Redaktionen der Rheinischen Post (RP) „Online first“ als Maxime für alle Redakteure ein. Die Westfälischen Nachrichten arbeiten seit Längerem an einem „Konzept 2020“, um Online und Print ins rechte Verhältnis zu bringen.

„Die Nutzer wollen zwei Dinge“, analysiert der Praktiker Paul-Josef Raue nüchtern: „Alles in einer Nachrichten-App (mehr als zwei, drei mag keiner); und das Lokale zuerst, weil es ihr Alltag, ihr Leben ist, verbunden mit dem Wichtigsten aus ihrem Land, dessen Regierung sie wählen, und aus der Welt, die sie verstehen wollen.“

„User first“ bei der Funke-Gruppe

Ende Oktober meldete die Funke Mediengruppe, dass mit „User First“ der nächster Schritt der Funke-Digitaloffensive eingeleitet werde. Die Umsetzung steht noch aus. Die Eckpunkte der angekündigten Strategie im Überblick:
• Konsequente Trennung zwischen News und Editing
Die Reporter und Autoren konzentrieren sich auf ihre eigentliche Aufgabe: Recherche und Schreiben. Die Redakteure am Newsdesk veröffentlichen die Inhalte dann auf den unterschiedlichen Kanälen. Alle Inhalte werden zuerst auf den digitalen Angeboten der Regionalmedien, den Markenportalen wie zum Beispiel waz.de und abendblatt.de, veröffentlicht.
• Dateninformiertes Arbeiten
Die Auswahl und Gewichtung der Nachrichten, Geschichten und Serviceangebote orientiert sich noch stärker an den Interessen und dem Verhalten der Leser und Nutzer.
• Aufbau einer einheitlichentechnischen Infrastruktur
Die 12 Funke-Regionalzeitungen produzieren ihre täglich fast 2 000 Zeitungsseiten, Dutzende Online- und App-Angebote derzeit auf unterschiedlichen Redaktionssystemen. Bis Mitte 2019 soll für alle Regionalmarken eine einheitliche redaktionelle Infrastruktur und ein gemeinsames digitales Produktportfolio aufgebaut werden./

Ein langer Weg

Digitale Magazine, blätterbare PDF und ePaper sind heute Standard für einen Zeitungs- und Zeitschriftenverlag. Bis zum heutigen Stand bei „Online first“ war es allerdings ein langer Weg. Zum Beispiel bei der WAZ-Gruppe, wie die Funke Mediengruppe noch hieß, als sie 2007 das neue Onlineportal DerWesten präsentierte. Der Branchendienst Werben & Verkaufen (W&V) meldete damals: „Die Devise ‚online first’ (wie sie etwa bei Springer gehandhabt wird) gelte bewusst nicht, heißt es aus Essen. Die Redakteure würden in Absprache mit dem Online-Team selbstständig entscheiden, wo ihre Nachricht zuerst platziert würde.“ Nicht Zeitung machen sei die Kernkompetenz der Gruppe, sondern „verlässlicher Qualitätsjournalismus mit lokalem und regionalem Schwerpunkt“, zitiert W&V den damaligen WAZ-Geschäftsführer Bodo Hombach. Das Portal solle nicht nur netzaffine Nutzer binden, sondern den WAZ-Titeln auch junge Leser zuführen.

Sehr schnell war seinerzeit klar, dass die WAZ-Gruppe und das Ruhrgebiet für „Online first“ noch nicht reif waren. Das ehrgeizige Vorhaben, der zentrale Onlinetreffpunkt des Reviers zu werden, erlahmte und ging kläglich unter. Wie auch das innovative nutzerbasierte Geotagging, das ein Ersatz für die zunehmend wegfallende Printwerbung hätte werden können. Am Ende wurde viel Geld versenkt, und DerWesten-Chefin Katharina Borchert galt vielen Kolleginnen und Kollegen der WAZ und ihrer Schwesterzeitungen als diejenige, die half, den Lokalzeitungen das Wasser abzugraben.

Hinter dem aktuellen „User-first“-Ansatz verbirgt sich der Versuch, die Funke-Gruppe auf einheitliche Strukturen zu trimmen. Ähnlich wie die RP-Gruppe in den vergangenen Jahren will Funke für alle Regionalmarken der Gruppe „eine einheitliche redaktionelle Infrastruktur und ein gemeinsames digitales Produktportfolio“ einführen. Bei der RP-Mediengruppe gehörte zur Grundlage für „Online first“, dass man an allen Standorten das neue Interred-Redaktionssystem eingeführt hat. Ähnlich jetzt bei der Funke-Gruppe: Künftig arbeiten alle Funke-Redaktionen bundesweit in einem Redaktionssystem.
Nicht zum ersten Mal stellt Funke bei einem Strategiewechsel heraus, dass die Chefredakteure der Regionalzeitung als Mit-Denker eingebunden sind. Das Gremium habe gemeinsam mit dem Digital-Chefredakteur der Zentralredaktion in Berlin, Carsten Erdmann, und Marie Todeskino, Chefredakteurin der sogenannten Reichweitenportale mit Sitz in Essen, „User first“ entwickelt. Ziel sei es, vermeldete das Geschäftsführer-Trio per Pressemitteilung und Mail an die Mitarbeiter, die Markenportale journalistisch noch relevanter, interessanter und aktueller zu machen – und so den Ausbau der digitalen Bezahlangebote zu beschleunigen. Sie hoffen darauf, dass Leser inzwischen wieder bereit sind, für regionalen und lokalen Qualitätsjournalismus im Netz zu bezahlen.

Statt des Gangs in die Kneipe

Wie das für die Kolleginnen und Kollegen aussieht, beschreibt Andreas Tyrock, Chefredakteur der WAZ, in Lokalredaktionen an der Ruhr so: „Die digitalen Reichweiten fließen als wichtiger Rückkopplungskanal über Dashbords und Echtzeit-Statistiken in die tägliche Themenplanung ein. Die User-Interessen werden in der Lokalredaktion zusätzlich wöchentlich besprochen und analysiert.“ So weit, so gut. Gestandene Lokalredakteure hätten früher gesagt: Ich gehe in die Kneipe und rede mit den Leuten – dann wissen meine Kollegen und ich Bescheid.

Zugleich bedeutet dieser digitale Richtungswechsel für die Funke-Redaktionen: Wenn bald alle im gleichen Redaktionssystem arbeiten, lassen sich überregionale Inhalte innerhalb der Gruppe noch leichter austauschen. Auf allen Funke-Medienkanälen sollen ab Mitte des Jahres dann Nachrichtenbearbeitung und Nachrichtenbeschaffung personell klar voneinander getrennt sein (siehe Kasten „User first‘ bei der Funke-Gruppe“).

Längere Zeit konnten die Beschäftigten nur spekulieren, ob die Gruppe aus diesem Prozess wieder mal Sparpotenzial schöpfen will und ob das Arbeitsplätze kosten wird. Seit der ersten Februarwoche ist klar: Erneut fallen Arbeitsplätze weg. Dabei ist das Konzept „User first“ eigentlich nicht als Restrukturierungsmaßnahme zum Personalabbau gedacht und erfordert eher mehr als weniger Personal.

Schon im Vorfeld dieser Debatte hatte Funke-Geschäftsführer Andreas Schoo der „User-first“-Debatte mit einem Interview einen Schlag verpasst. Im Gespräch mit W&V unterstellte Schoo, dass Zeitungsredakteure um zehn Uhr morgens kommen, zwei Stunden Kaffee trinken bis zur ersten Konferenz und dann den Tag angehen. Oder ein wenig diplomatischer, wie es auch in der erwähnten Pressemitteilung formuliert war, der Spruch von den „aktuellen Produktionsworkflows“, die nicht immer zur Mediennutzung der Leserinnen und Leser passten. Im Kern blieb öffentlich aber stehen, was der DJV-Landesvorsitzende Frank Stach monierte: „Redakteurinnen und Redakteure als kaffeetrinkende Faulenzer hinzustellen – das geht gar nicht.“

Sparen ohne Konzept:
Erneuter Stellenabbau bei der Funke Mediengruppe

Am 7. Februar (kurz vor Drucklegung des JOURNALs) hat die Funke Mediengruppe ein neues Streichprogramm verkündet – mit einem Stellenabbau im dreistelligen Bereich und einem Sparziel in zweistelliger Millionenhöhe. In der Pressemitteilung aus Essen liest sich das sogenannte „Zukunftsprogramm Funke 2022“ allerdings wieder wie der große Schritt nach vorne.
Dabei sollen in der Berliner Zentralredaktion 22 der insgesamt 94 Redakteurinnen und Redakteure gehen. In NRW fallen bei WAZ, Westfalenpost und NRZ erneut rund 10 Prozent der Stellen weg, heißt es in gut unterrichteten Kreisen. Die fünfköpfige Redaktion der Westfalenpost in Warstein soll geschlossen werden. Die Volontärsausbildung der Medien-Akademie Ruhr wird für ein Jahr ausgesetzt. Komplett schließen will der Konzern die Essener Druckerei mit 120 Mitarbeitern und will seine Printtitel künftig komplett am Standort Hagen drucken.
„Blinde Profitgier“, wirft Frank Stach, Vorsitzender des DJV-NRW, der Mediengruppe vor. Für ihre Renditeziele setze sie wieder reihenweise Menschen auf die Straße. Der Schein trüge, dass der Bezug der neuen Firmenzentrale in Essen auch mit neuer Wertschätzung der Geschäftsführung für die Belegschaft einhergehe.
Auch Landesgeschäftsführer Volkmar Kah kritisiert die Entscheidung deutlich: „Der Konzern setzt die alte, verhängnisvolle Politik des Personalabbaus fort, die bereits hunderte Arbeitsplätze gekostet hat.“ Mit dem Fokus auf Sparmaßnahmen konterkariere Funke den eigenen Anspruch, sich im digitalen Zukunftsmarkt einen guten Platz zu sichern (siehe dazu auch die Titelgeschichte zu „User first“, „Die nächste Runde“). Damit beschädige Funke den eigenen Prozess: „Der kontinuierliche Abbau der Belegschaft und der Aufbau neuer, personalintensiver Online-Projekte schließen sich gegenseitig aus“, betont Kah.
Aus Sicht des DJV-NRW handelt Funke ohne Konzept. Auch wenn das Geschäftsfeld der Zeitungen weniger profitabel sei als früher, liege im weiteren Personalabbau keine Lösung. Funke müsse jetzt schnell die Neuausrichtung auf digitale Medien umsetzen, erklärt Kah: „Dieses Ziel kann nur mit einer ausreichenden Zahl an gut qualifizierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern erreicht werden.“ Stattdessen kürze Funke weiter am Stellenplan, der schon jetzt „auf Kante genäht“ sei.
Von den Gesellschaftern und Geschäftsführern der Funke-Gruppe fordert der DJV-NRW, dass sie nun zumindest ihrer sozialen Verpflichtung gerecht werden und den angekündigten Stellenabbau ohne betriebsbedingte Kündigungen vollziehen. Allerdings ist auf dem Protestblog Medienmoral schon wenige Stunden nach Bekanntgabe der Sparziele zu lesen, dass Funke keinen Sozialplan und keine Regelung zu Altersteilzeit anstrebe, sondern „individuelle Lösungen“./cbl

Online first lebt ab 6 Uhr

Auch der ehemalige Chefredakteur Raue zeigt sich überzeugt: „Der Rhythmus stimmt nicht mehr, er muss sich ändern: Früher planen, früher aufstehen und früher wach werden.“ Es scheint, als ob Schoo und Raue morgens zu spät rauskommen. Denn quer durch die Republik werden auch in ehemaligen Zeitungshäusern spätestens um 6 Uhr morgens die Onlineportale mit aktuellen Nachrichten hochgefahren. Dann beginnt „Online first“ zu leben. Nicht nur in Münster, Aachen, Düsseldorf – und jetzt schon auch in Essen. Jeden Tag. Internetuser haben sich an Nachrichten in Echtzeit aus diversen Quellen gewöhnt.

Unter dem Titel „Es geht lediglich ums Ganze“ beschäftigte sich schon 2015 Veit Dengler, damals noch CEO der Schweizer NZZ-Mediengruppe, in einem Essay auf Spiegel Online mit der laufenden Transformation der Medienbranche. Dengler, der seit 2018 in der Konzerngeschäftsleitung der Bauer Media Group sitzt, schrieb damals: „Der Fokus für das Geschäftsmodell muss daher weg vom Produkt – egal ob Zeitung oder Website – hin zum Fokus auf den zahlenden Kunden und dessen Bedürfnisse. Das journalistische Produkt der Zukunft bleibt noch zu schaffen – es wird aber zunehmend einer Dienstleistung gleichen, nämlich der Einordnung und der Analyse.“

Dengler ist ein unverdächtiger Zeuge für diesen fundamentalen Wechsel in der Branche, der sich in der Strategie „Online first“ zeigt. „Das Kernproblem der Zeitungsbranche liegt nicht in der technischen Entwicklung – jedenfalls nicht stärker als bei anderen Branchen –, sondern darin, dass die Neuen Medien den jahrhundertealten ökonomischen Schutzwall um die Nachrichtenproduktion und -vermittlung niedergerissen haben“, erklärte Dengler schon damals: „Man könnte diesen Vorgang die ‚Ökonomisierung’ der Zeitung nennen. Auch wenn sich diese Einsicht bei vielen damit Befassten noch nicht wirklich durchgesetzt hat: Zeitungsunternehmen sind mittlerweile nach marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten zu führen.“

Ähnlich äußert sich Raue, der „Online first“ als Evergreen bezeichnet und Funke ermahnt: „Es wird Zeit!“ Mit den gedruckten Zeitungen hätten Verlage lange gute, zum Teil hohe Renditen erreichen und Onlineinvestitionen bezahlen können, meint Raue. „Doch die Werbe-Einnahmen brechen immer stärker ein, die Auflagen sinken, sodass sich einige Zeitungen schon der Zehn-Prozent-Marke nähern.“ Sie fragten: „Wer knipst das Licht aus?“ Die Abo-Preise seien so rasant gestiegen, dass immer mehr Leser nicht wegen der Qualität, sondern wegen des Geldes kündigten: „Es ist ein Teufelskreis.“
Allerdings ein Teufelskreis, den die Medienbranche seit mindestens einem Vierteljahrhundert heraufziehen sieht oder hätte sehen können. Es mangelt ja auch nicht an Versuchen, sich mit der Entwicklung neuer Medienkanäle zu arrangieren. Onlineausgaben von Zeitungen gibt es seit den 1990er Jahren.

Nicht bis morgen warten

Den bewussten Schritt zu „Web First“, wie sich die Strategie damals nannte, gingen von 2005 an zunächst in Großbritannien The Times und The Guardian. Bei den großen Zeitungen Amerikas galt damals schon: Wirklich heiße News erscheinen grundsätzlich umgehend online, weil man sah, dass das Web eben schneller war als TV und Radio. Alan Rusbridger, der Chefredakteur des britischen Guardian, brachte es auf den viel zitierten Punkt: „Warum bis morgen warten, um zu erfahren, was heute geschehen ist?“
In Aachen und Umgebung warten die Leser nicht mehr bis morgen. Alle Geschichten gehen bei Aachener Zeitung und den Aachener Nachrichten zuerst online raus. Zumindest ist es so vorgesehen.

Der britische Guardian gehörte ab 2005 mit der damals „Web first“ genannten Strategie zu den Vorreitern (hier ein Bild aus dem Jahr 2010). | Foto: Udo Geisler
Der britische Guardian gehörte ab 2005 mit der damals „Web first“ genannten Strategie zu den Vorreitern (hier ein Bild aus dem Jahr 2010). | Foto: Udo Geisler

Morgens um 6 Uhr kommt der erste Onliner zur Arbeit. Er fragt Polizei- und Feuerwehr-meldungen der Nacht ab und beginnt mit Aktualisierungen des Onlineauftritts der beiden Aachener Zeitungen. Bei absehbar wichtigen Ereignissen mache diesen Dienst immer ein Redakteur, erklärt der Betriebsrat. Bei anderen Terminlagen kann es auch ein fester Freier sein. Der Lohn: „Die festen Freien kriegen bei uns zwölf Euro die Stunde.“

Ab 6 Uhr arbeiten die Onliner in Aachen in drei Schichten, Standardschicht am Tag mit vier Leuten (ein Redakteur, zwei Producer, eine Leiterin) und Spätschicht in der Regel bis 23 Uhr. Bei vorher bekannten Ereignissen ist die Spätschicht allerdings länger besetzt. In der Nacht bleibt der Onlineauftritt unbeobachtet, die Kommentarfunktion wird nicht abgeschaltet. Die Pflege erfolgt erst wieder ab morgens 6 Uhr.

Typische Verflechtungen

Nicht nur der Arbeitstag der Aachener ist typisch für die Tageszeitungen in NRW. Die Verbandelung der Aachener Nachrichten Verlagsgesellschaft (ANV) mit anderen Zeitungshäusern ist es auch: Seit 1996 ist die ANV über eine Holding-Beteiligung Teil der Rheinische Post Mediengruppe. Deshalb bedienen die Aachener längst auch andere Marktteilnehmer. So bezieht die über eine Kooperation verbundene Westdeutsche Zeitung in Düsseldorf für ihren radikal ausgedünnten Mantelteil Inhalte aus Aachen.

Ausgefeilter ist der Umgang mit dem seit Mitte 2018 eingeführten „Online first“ bei der RP, die zu Recht behaupten kann, „eines der erfolgreichsten Nachrichtenportale in Deutschland“ zu haben. Die Rheinische Post Mediengruppe ist inzwischen eins der großen deutschen Medienhäuser, hat – als eine der wenigen deutschen Verlagsgruppen– den Onlinebereich seit Mitte der 1990er Jahre konsequent ausgelotet. Während andere Verlage ihren Lesern online anfangs eine Kurzfassung der Printausgabe boten, setzten die Düsseldorfer früh mit einer richtigen Onlineredaktion auf die Präsentation eigener, aktueller Inhalte. Daraus ist heute ein Newsdesk in der Düsseldorfer Zentralredaktion geworden für die „konvergente Zusammenarbeit zwischen Print und Online“, so die Eigenwerbung.

Die Rheinische Post lotet die Möglichkeiten im Onlinebereich konsequent aus, unter anderem mit dem Listening Center, das auch als Dienstleitung für andere Medien angeboten wird. | Screenshot zeitgeist.rp-online.de
Die Rheinische Post lotet die Möglichkeiten im Onlinebereich konsequent aus, unter anderem mit dem Listening Center, das auch als Dienstleitung für andere Medien angeboten wird. | Screenshot zeitgeist.rp-online.de

In Düsseldorf werden Onlineinhalte in zwei Schichten erstellt. Auch hier geht es um 6 Uhr morgens los, berichtet der Betriebsrat. Zwei Stunden später checkt und aktualisiert das Team „Audience Engagement“ die Social-Media-Kanäle. Seit Sommer 2017 betreibt die Redaktion ihr „Listening Center“, das sie auch als Dienstleistung für fremde Lokalredaktionen anbietet. „Wir hören zu, worüber der Rheinländer im Netz spricht“, erklärt RP-Chefredakteur Michael Bröcker das Prinzip. In Echtzeit analysieren die Algorithmen des Centers, welche Themen, Nachrichten und Personen im Verbreitungsgebiet eine Rolle spielen. Bröcker: „Dadurch können wir unsere Berichterstattung noch relevanter machen.“

Im wahrsten Sinne rund um die Uhr werden sämtliche Nutzungskanäle multimedial bedient. Denn wenn nachts in Düsseldorf die letzten Lichter in der Redaktion ausgehen, übernehmen in Australien zwei dort lebende deutsche Journalistinnen den Job, die wichtigsten aktuellen Meldungen online einzuspielen.

Aber egal, ob das Prinzip „Online first“ oder „User First“ genannt wird. Bisher gilt in Sachen Leserschwund meist: Weg ist erstmal weg. Bisher ist kaum ein Zeitungshaus in der Lage, verlorene Leser zurückzuholen – und schon gar nicht hinter eine Paywall, die wirklich als neues Geschäftsmodell jenseits von Print funktioniert. Das Modell der New York Times, das seit dem Amtsantritt von Präsident Donald Trump noch lukrativer ist, hat in Deutschland bisher keine erfolgreichen Nachahmer gefunden.

So sehen Medienhäuser hierzulande hilflos zu, wie Abonnenten die Zeitung abbestellen, weil sie online alles schneller und obendrein umsonst bekommen – neben den aktuellen Texten auch Ton, Bild und Video-Beiträge, oft sogar das Artikel-Archiv. Der Zustand hat sich über Jahre als Paradies für sparsame Leser etabliert. Über diese Kostenlos-Strategie planten die Zeitungen in all den langen Jahren des digitalen Wandels zumindest theoretisch, ihre Leserinnen und Leser an das jeweilige Blatt zu binden oder sogar neue Leser zu gewinnen.

Zumindest in den 2000er Jahren glaubten Zeitungsgruppen auch in NRW an den schnellen Erfolg und schnelle Erlöse durch Onlinejournalismus. Aber sie fielen damit auf die Nase. So bündelten die Zeitungsverlage im Münsterland und im Raum Dortmund schnell ihre Onlineauftritte zum Angebot Westline, das heute als regionales Sportforum vor sich hinkümmert.

Im Lokalen Geld verdienen

Paul-Josef Raue hört sich an, wie der Mahner in der Onlinewüste, wenn er prophezeit: „Verlage werden aber nur überleben, wenn sie mit dem Lokalen Geld verdienen. Sie haben es im Netz vernachlässigt, haben sich von Klickzahlen verwirren lassen und Blaulicht-Journalismus getrieben, das einem erst die Augen, dann der Verstand tränte.“
Die Dortmunder Medienexpertin und Bloggerin Vanessa Giese ätzte jüngst über die Denkfehler der Zeitungsverlage bei der Digitalisierung: „Manche Unternehmen stellen eine Handvoll Experten ein und glauben, dann brumme das ‚digital business’. Doch die Veränderung, die bewältigt werden muss, ist nicht nur eine technologische.“

Wie schwer es in klassischen Zeitungshäusern noch ist, sich von „Print first“ zu lösen, zeigt sich auch darin, dass digitale Versionen der Tageszeitung in etlichen Verlagen noch an ein Print-Abo gekoppelt werden. Unter dem Strich sind solche Abos dann nicht preiswerter, obwohl die Kosten für Druck und Boten wegfallen und auch der Vertrieb günstiger ist. Dabei werden die Vorteile des digitalen Vertriebs noch nicht mal ausreichend genutzt: Eine eigene Abo-App mit der Möglichkeit des In-App-Kaufs oder einer Seitenauswahl ist selten. Das macht es schwer, in Deutschland genug Abonnenten für „Online first“ aufzutreiben.

Vanessa Giese sieht einen zentralen Denkfehler der Zeitungsverlage darin, zu glauben, der Kunde (also der Abonnent) habe eine Verantwortung für den Verlag. Der Kunde habe keine Verantwortung für den Erfolg des Unternehmens, stellt Giese klar. „Wenn er loyal ist, eine Marke wertschätzt und ihre Angebote vielfältig nutzt, ist es das Ergebnis guter Arbeit – nicht ihre Voraussetzung.“

Experiment in Ibbenbüren

Noch ist aber nicht klar, ob diese journalistische Arbeit, zum Beispiel exklusive lokale Inhalte, auf Dauer hinter einer Bezahlschranke von den Leserinnen und Lesern honoriert wird. Da bleibt das Experiment der Ibbenbürener Volkszeitung im Norden vor den Toren Osnabrücks abzuwarten: Die kleine Zeitung (Print-Auflage: rund 17 500 Exemplare) testet im Lokalen neue Wege mit digitalen Bezahlinhalten in Ibbenbüren und den fünf umliegenden Gemeinden im Tecklenburger Land.

Leser können sich individuell eine Digitalausgabe mit sogenannten „Themenwelten“ aus acht lokalen Rubriken sowie einer Welt-Rubrik zusammenstellen und bezahlen pro Rubrik drei Euro pro Monat (www.ivz-themenwelten.de). Vereinsleben, Lokalsport oder Blaulicht und Verkehr sind solche Rubriken, die je ein Lokalredakteur betreut – auch als Ansprechpartner für die Abonnenten. Für 15 Euro gibt es pro Monat alle Rubriken. Ein Schnäppchen angesichts eines stolzen monatlichen Abopreises von 40,90 Euro (inklusive Print-Zeitung, e-Paper und Online- sowie Archiv-Zugang). Dafür gibt es immerhin einen Zugang für alle Menschen im Haushalt.

Verleger Klaus Rieping glaubt an seine Themenwelten-Idee, die früher oder später die Zeitungswebsite ersetzen und irgendwann zum Hauptprodukt werden soll. Er liegt damit nah an dem, was Vanessa Giese sagt, die auch als Innovationsberaterin arbeitet: „Digitalisierung bietet viele Chancen für durchdachte, auf einzelne Bedürfnisse zugeschnittene Angebote – wenn man bereit ist, die Strategie am Kunden zu orientieren und nicht an den eigenen Vorstellungen.“

Der Blick nach Norwegen

Wer weitere Beispiele sucht, wie Medienhäuser erfolgreich vom Leser aus denken, blickt auf die digitalen Experimente und Erfolge von skandinavischen Verlagen und Zeitungen. Vor allem in Norwegen bieten sich aus Verlegersicht geradezu paradiesische Zustände: 87 Prozent der Norweger sind online. Jeden Tag. Sie lesen Journalismus weitgehend online, auf dem Computer und seit zwei Jahren zunehmend auf dem Smartphone. Und sie zahlen immer öfter dafür. In Norwegen lesen 30 Prozent der Menschen hinter der Paywall, Tendenz: steigend. Nach den aktuellen Zahlen des „Digital-News-Report 2018“ des Reuters Institute sind es in Deutschland gerade einmal acht Prozent.

Skandinavische Medienhäuser gelten international als Treiber für den Onlinejournalismus. So lesen 87 Prozent der Norweger Nachrichten online – und zunehmend mobil.
Skandinavische Medienhäuser gelten international als Treiber für den Onlinejournalismus. So lesen 87 Prozent der Norweger Nachrichten online – und zunehmend mobil.

Treiber dahinter sind drei norwegische Verlagsgruppen: Schibsted, Amedia und Polaris Media haben dafür gesorgt, dass Norwegen laut Reuters Institute heute in Europa das Land mit der höchsten Abo-Rate hinter der Bezahlschranke ist. Die Schibsted-Gruppe, die in 22 Ländern aktiv ist und rund 8 000 Beschäftigte hat, engagiert sich besonders bei digitalen Entwicklungen für den Verlagssektor. Brachte Schibsted um die Jahrtausendwende Verleger in der Schweiz und in Köln mit „20-Minuten“-Kostenlosblättern in Rage, so sind es heute deren digitale Vorzeige-Entwicklungen, die die Verleger aufwühlen. Denn die Norweger belegen, dass es geht, dass „Online first“ funktioniert.

Weltweit Beachtung findet zum Beispiel, was das Schibstedt-Boulevardportal und -blatt Verdens Gang (VG) aus Oslo entwickelt, das stärkste Onlineportal und die zweitgrößte Zeitung Norwegens. VG setzt auf einen anderen Journalismus, wie der Autor Bharat Anand im Buch „The Content Trap: A Strategist‘s Guide to Digital Change“ aufgearbeitet hat, das auszugsweise beim Nieman Report aus Harvard veröffentlich wurde („The New Wisdom of the Crowd“). So werde zum Beispiel für die Leser transparent, wie in einem radikal neuen dreischichtigen Prozess aus der Nachricht als Ausgangspunkt am Ende ein hintergründiger Printartikel werde.

Schibsted hat zudem ein Verfahren entwickelt, wie Leser über ihr Online-Leseverhalten als interessierte Abo-Kunden identifiziert und online angesprochen werden, und ist bei vielen digitalen Projekten in der Verlagswelt zum Vorbild geworden.

Selbst in der kleinen Stadt Bergen entwirft die Schibsted-Tochter Bergens Tidende individuelle Abo-Modelle und gewinnt damit neue Leser. So sichert das Medienhaus online auch die finanzielle Grundlage für Journalismus.||

 

Ein Beitrag aus JOURNAL 1/19 – dem Medien- und Mitgliedermagazin des DJV-NRW, erschienen im Februar 2019.