THEMA | Die Aufgabe des Journalismus

„Für Klarheit und Klarstellung sorgen“

Journalismus ist eine wichtige gesellschaftliche Kraft
20. März 2024, Carmen Molitor
Prof. Dr. Christoph Bieber in seinem Buero. Er ist Forschungsprofessor am Center for Advanced Internet Studies (CAIS).
Seit 30 Jahren befasst sich Christoph Bieber mit dem Verhältnis von Neuen Medien und Politik.

Wie steht es um die zentrale Rolle des Journalismus? Ist es eine neue oder vielleicht immer noch die bewährte? Das beleuchtet der Politikwissenschaftler Professor Christoph Bieber vom Bochumer Center for Advanced Internet Studies (CAIS) im Interview.

 

JOURNAL: Prof. Bieber, Menschen im ganzen Land demonstrieren für die Demokratie, und der Auslöser ist eine journalistische Recherche. Haben Sie sich vorstellen können, dass Journalismus heute die Massen noch so bewegen kann?

Prof. Dr. Christoph Bieber: (lacht) Ach ja, da habe ich den Glauben längst nicht aufgegeben!

 

Prof. Dr. Christoph Bieber
Prof. Dr. Christoph Bieber in seinem Büro. Er ist Forschungsprofessor am Center for Advanced Internet Studies (CAIS).
Prof. Dr. Christoph Bieber, Forschungsprofessor am Center for Advanced Internet Studies (CAIS).

Jahrgang 1970, ist Inhaber der Johann-Wilhelm-Welker-Stiftungsprofessur für Ethik in Politikmanagement und Gesellschaft an der NRW School of Governance der Universität Duisburg-Essen. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die Bereiche Transparenz und öffentliche Kommunikation sowie Politische Kommunikation und Neue Medien. Seit Oktober 2021 leitet er das erste Forschungsprogramm „Digitale Demokratische Innovationen” am Center for Advanced Internet Studies (CAIS) in Bochum und ist dafür an der Uni Duisburg-Essen freigestellt. Er war von 2013 bis 2017 Mitglied im Rundfunkrat des WDR und ist Mitgründer von politik-digital e.V., dem Trägerverein der gleichnamigen Website.

JOURNAL: Was hat Correctiv richtiggemacht, um so eine Wirkung in der Gesellschaft zu erzielen?

Bieber: Die haben nicht viel anders gemacht, als das, was andere professionelle Akteurinnen und Akteure auch getan hätten. Die Wirkung liegt an der Sprengkraft des Themas, das eine gewisse Ungeheuerlichkeit hat, und am passenden Timing. Außerdem ist der Bericht eine Mischung aus guter handwerklicher Arbeit, Framing und Einpassen in eine wichtige öffentliche Debatte gewesen.

 

JOURNAL: Viele Journalistinnen und Journalisten denken angesichts des Erstarkens der Rechtsextremen neu über ihre Rolle in der Demokratie nach. Ändert sich die Aufgabe von journalistischer Arbeit vor den Wahlen in Ostdeutschland angesichts der Möglichkeit, dass mit der AfD eine in Teilen rechtsradikale Partei an Regierungsverantwortung kommen könnte?

Bieber: Ich glaube nicht, dass sich da vieles gravierend verändert. Auch in einer Welt, in der es immer mehr fabrizierte Fakten gibt, ist es wichtig, diese zu überprüfen und für Klarheit und Klarstellung zu sorgen. Vielleicht hat sich das journalistische Aufgabenspektrum angesichts der vielen Fake News ein bisschen verschoben in Richtung des reinen Factchecking.

Das heißt aber nicht, dass ich deswegen weniger Zeit mit eigener Recherche verbringen sollte. Es geht weiter darum, als investigativ vorgehende Journalistin oder Journalist wichtige Dinge an die Öffentlichkeit zu bringen. Das ist aus ökonomischer Sicht sicher teuer und aufwendig. Aber aus einer Perspektive, die Journalismus als wichtige gesellschaftliche Kraft sieht, sollte man darauf nicht verzichten.

 

JOURNAL: Apropos Factchecking: Macht es Ihnen für die Berichterstattung über die nächsten Wahlen Sorgen, dass durch KI täuschend echte Deep Fakes möglich sind?

Bieber: Ich gehe nicht davon aus, dass wir beispielsweise bei der Europawahl ein unfassbares Aufkommen von digital gefälschtem Material haben werden, das in den Kampagnen bestimmend ist. Es sind eher analoge Bedrohungen, die da herrschen. Wenn wir etwa nach Polen oder Ungarn schauen, wo massiv versucht wurde und wird, journalistisches Arbeiten zu erschweren. Wo Journalistinnen und Journalisten in quasi staatsnahen Medienorganisationen ausgetauscht werden, damit positiv über einen bestimmten Kandidaten berichtet wird und andere dagegen gar nicht in der Berichterstattung vorkommen. Diese ganz analogen Dinge sind im Wahlkampf gefährlicher einzuschätzen als etwa ein fancy Fakebild von Frau von der Leyen.

 

JOURNAL: Verfassungsschutzpräsident Thomas Haldenwang fordert Medien auf, sich angesichts der wachsenden Bedrohung durch extremistische Kräfte ihrer Aufgabe als vierte Gewalt im Staat im Sinne der Demokratie viel bewusster zu werden. Wie sehen Sie das?

Bieber: Das ist nichts Neues! Wir hatten vor zehn bis 15 Jahren die Diskussion, ob es nicht so etwas wie eine fünfte Gewalt gibt – nämlich Wikileaks und andere netzbasierte Whistleblower, denen Daten aus dem Netz zugespielt wurden. Damals hieß es dann: Wenn die vierte Gewalt ihrer Aufgabe der Kontrolle nicht mehr nachkommt, dann macht es halt die fünfte! Mittlerweile gibt es diese Grenze zwischen vierter und fünfter Gewalt kaum noch. Die Kontrolle der Mächtigen ist aber nach wie vor eine wichtige Rolle, Funktion und auch ein Geschäftsfeld für Journalismus, Correctiv ist dafür aktuell ein Paradebeispiel.

Man muss jetzt aber aufpassen, dass man beispielsweise vor den Wahlen in Ostdeutschland nicht nur AfD-kritisch berichtet und enthüllt – und gar nicht mehr darauf achtet, was auf der anderen Seite vielleicht auch schiefläuft. Das zahlt sonst wieder ein auf das rechte Framing einer Erzählung von „links-grün-gesteuerten“ oder „Staatsmedien“. Man muss Unabhängigkeit auch kritisch gegenüber den etablierten demokratischen Parteien verstehen und natürlich ganz genau hinsehen, was am rechten Rand passiert, und das so benennen. Auch auf die Gefahr hin, dass man dann als „Staatsjournalist“ angezählt wird. Da muss man dann durch!

 

JOURNAL: Um sich kritischer Berichterstattung zu entziehen, macht die Politik inzwischen gern selbst Medienangebote und imitiert dabei journalistische Formate. Wie sehen Sie diese Entwicklung?

Bieber: Beim Aufwachsen von quasijournalistischen Angeboten durch politische Akteure ist Barack Obama ein großer Vorreiter. Zum Beispiel in der Art und Weise, wie er Zugang und Nicht-Zugang für Journalistinnen und Journalisten geregelt und wie er mit Bildern gearbeitet hat. Er brauchte keine Deep Fakes. Er hatte mit Pete Souza seinen Hoffotografen, der Bilder gemacht hat, die eben nur er machen konnte. Quasijournalistische Formate suggerieren eine gewisse Unabhängigkeit, die sie nicht haben, denn alles ist durch die politischen Akteurinnen und Akteure selbst gesteuert. Das ist ein Problem…

 

JOURNAL: …das jetzt auch bei uns stärker aufschlägt?

Bieber: Ja, wir haben es zeitversetzt auch bei uns als „Parteifernsehen“ gesehen oder bei den Podcasts der Generalsekretäre. Die Gefahr besteht darin, dass so ein „Interview“ wirkt wie eine Talkshow. Aber es ist eben ein Gespräch von Parteimitarbeiterinnen und -mitarbeitern mit ihren Vorgesetzen. Firmenfernsehen eigentlich! Jedenfalls kein journalistisches Format. Für Menschen, die in Mediendingen nicht so firm sind, ist es aber mitunter schwierig, zu unterscheiden, was denn nun echter journalistischer Inhalt und was eingefärbt ist. Im Zweifel müssen echte Journalistinnen und Journalisten auf diese Nutzungsformen hinweisen und sie entzaubern.

 

JOURNAL: Wieso gelingt es ausgerechnet der AfD so gut, im Netz Aufmerksamkeit zu bekommen?

Bieber: Es hat aus meiner Sicht mit der Entstehungsgeschichte der AfD zu tun, das Digitale war von Anfang an Teil ihrer DNA. Die Partei ist nicht allein mit typischen Ortsvereinen entstanden, die sich im Hinterzimmer treffen, sondern es war immer schon die Facebookgruppe oder eine andere digitale Plattform dabei, mit der man parteiintern eine Kommunikation gepflegt hat. Das führt in der Breite zu einer viel besseren Kenntnis und mehr Erfahrung im Umgang mit den Medien. Da ist keine Übersetzungsleistung mehr nötig, da müssen keine Ortsverbände noch ans Netz angeschlossen werden – sondern sie sind alle schon von Anfang an mit dabei. Dieses organische, digital gestützte Wachstum innerhalb der AfD ist ein großer Vorteil für die Partei.

 

Prof. Dr. Christoph Bieber, Forschungsprofessor am Center for Advanced Internet Studies (CAIS) in Bochum, steht gebückt am Schreibtisch ind schreibt etwas auf.
Factchecking wird wichtiger, aber investigative Recherchen bleiben unerlässlich, damit Journalismus eine wichtige gesellschaftliche Kraft bleibt, sagt Christoph Bieber.

JOURNAL: Spaltet sich das deutsche Medienangebot bald noch stärker entlang der politischen Weltanschauungslinien?

Bieber: Es geht uns relativ gut, weil wir noch einen starken öffentlich-rechtlichen Rundfunk haben, der eine Unabhängigkeit demonstrieren kann und für eine Art Puffer sorgt. In anderen politischen Systemen ist das nicht so. In den USA haben sich inzwischen zwei Märkte gebildet, einmal für demokratische Einstellungen und einmal für republikanische, und beide Systeme funktionieren komplett getrennt voneinander. In Ansätzen sehen wir das hier auch – beispielsweise mit Portalen wie NIUS oder Compact, die gar nicht für alle berichten wollen, sondern für eine bestimmte ideologisch geprägte Gruppe. Aber wir haben hier immer noch in der Mitte den großen Block aus traditionellen Medienhäusern, privaten Sendern, aber vor allem aus den Öffentlich-Rechtlichen. Dieser Block verortet quasi automatisch solche extremen Formate von links und rechts an die Ränder.

 

JOURNAL: Allgemein wird das Konzert der Informationsangebote aller Art immer größer, und viele davon sind im Netz kostenlos. Welche professionelle journalistische Arbeit wird die Gesellschaft künftig noch bezahlen?

Bieber: Das ist eine Diskussion, die es schon lange gibt. Aber Finanzierung, auch klassischer Medien wie der Zeitung, war immer schon anzeigengetrieben. Nicht nur die Menschen selbst haben durch ihre Abos die guten Geschichten in einer Zeitung finanziert, sondern auch andere Quellen. Wenn das versiegt, muss man sich überlegen: Was mache ich stattdessen? Und das machen journalistische Akteurinnen und Akteure ja auch.

Aber vielleicht muss man an der ein oder anderen Stelle offensiver darüber nachdenken, welche Services und Leistungen man erbringen kann, die eben abseits des bisherigen Wegs liegen. Denn: was ist Journalismus eigentlich? Nicht nur das Recherchieren und Erzählen von guten Geschichten oder das Aufdecken von Missständen. Es gibt auch andere Leistungen, die man als Journalistin oder Journalist gut erbringen kann, um auf der anderen Seite Dinge finanzieren zu können, die im klassischen, investigativen Journalismus zu verorten sind.

 

JOURNAL: An was denken Sie da?

Bieber: Dass man beispielsweise versucht, auch Erzeugnisse zu produzieren, um das eigene Portfolio zu erweitern. Und ja, manches davon würde man eher als PR oder eben als Service-Angebote klassifizieren. Auch die Kooperation mit Städten, die sich als „Smart Cities“ digital neu aufstellen, bietet Möglichkeiten. Die Kommunen sitzen immer häufiger auf vielen interessanten Daten, können sie aber nicht ausreichend gut präsentieren und in für die Bürgerschaft greifbare Angebote überführen. Das wäre ein Aufgabengebiet für lokale, datenjournalistisch aktive Akteure. So etwas muss man im Auge haben, wenn man überlegt, wohin sich ein Journalismus entwickelt, für den manche Wege der Erwirtschaftung von Einnahmen nicht mehr offenstehen.

 

JOURNAL: Es gibt ja auch erste Tendenzen hin zu einem „Deep Journalism“, bei dem Medienhäuser hochpreisige Newsletter mit journalistischem Spezialwissen verkaufen.

Bieber: Das wäre ein anderes Ausspielelement, das über das Thema, aber auch über die Person funktionieren kann. Diese „Newsletterisierung“, die in den USA schon länger etabliert ist, ist auch hierzulande angekommen. Das sind die Dinge, die ich meine: Man muss sehr offen sein und überlegen, was heute Journalismus ausmacht. Und das entwickelt sich entlang der jeweiligen Technologien. „KI im Journalismus“ beispielsweise ist mir insgesamt noch zu sehr „Hype“, seriöse Projekte sind eher noch Mangelware. Aber: Manche Medienmacherinnen und -macher verkaufen schon KI-Prompts und ihr Fachwissen über Wege, wie man aus den Sprachmodellen möglichst gute Ergebnisse herausbekommt.

 

JOURNAL: Ist das noch Journalismus?

Bieber: Das weiß ich nicht, man muss noch genauer darüber nachdenken, welche Arbeitsbeziehungen hier entstehen und inwiefern es zu den etablierten Formaten passt. Doch zumindest ist der Umgang mit Angeboten wie ChatGPT, Midjourney und anderen etwas, das in dieses Universum gehört. Die Überlegung ist wichtig: Wohin entwickelt sich die Technologie, wie kann ich das in meinem Geschäftsfeld einsetzen und wo bringt mich das hin? Das sollte im Journalismus bei jeder größeren technischen Entwicklung diskutiert werden, damit er zukunftsfest bleibt.

 

JOURNAL: Die Gesellschaft hätte also aus Ihrer Sicht etwas davon, wenn der Journalismus sein Handwerk auch in anderen Formen zur Verfügung stellt, als wir das bisher gewohnt sind?

Bieber: Anstatt immer darüber nachzudenken, wie ich bestimmte, über Jahrzehnte gelernte Verhaltensweisen noch ein bisschen verlängern kann, muss ich auch mal etwas neu machen und mich wahrscheinlich auch von einigen Angeboten verabschieden. Wenn es wirtschaftlich nicht mehr gut läuft, passiert das ohnehin. Also muss ich mir Gedanken machen, was kann ich anderes tun?

 

JOURNAL: Wofür wird Journalismus nicht mehr gebraucht? Was sollte er lassen?

Bieber: Das ist schwierig. Vielleicht sollte er nicht so sehr in der Sache von etwas die Finger lassen, aber in der Form. Man muss sich jetzt schon gut überlegen, was drucke ich noch auf Papier und veröffentliche es mit einem Tag Abstand? Viele Informationen sind dann schon längst beim Publikum angekommen. Ich muss eher überlegen, was reiche ich in welcher Form an ein Publikum weiter und versuche dann, Produkte zu entwickeln, die für die Menschen einen Mehrwert haben, für den sie idealerweise etwas zahlen.

Ich selbst bin durchaus noch Zeitungsleser – auf Papier – doch vieles darin muss ich nicht lesen, denn das weiß ich schon. Trotzdem gibt es noch genügend Inhalte, die mir etwas bringen, obwohl ich in der Sache weiß, worum es geht. Hier erfahre ich aber nochmal mehr. Es geht also nicht so sehr darum, Dinge nicht mehr zu machen, sondern eher zu überlegen, wie mache ich die Inhalte so, dass sie heute funktionieren.

 

JOURNAL: Wie sieht es denn da bei den Öffentlich-Rechtlichen aus: Hat man hier beispielsweise die zukunftssichernden Möglichkeiten des Digitalen schon ausreichend erkannt?

Bieber: Man kann in dieser Frage zurückhaltend sein, wenn man sich die Ergebnisse des Zukunftsrats ansieht, die kürzlich veröffentlicht wurden. Da findet man nur zwei knappe Abschnitte zur Digitalisierung. Hätte das nicht ein bisschen mehr sein können? Aber ok, zumindest sind sie an zentralen Stellen platziert. So, dass man sagt: Wenn es eine Zukunft der öffentlich-rechtlichen Medienangebote gibt, muss man sich gerade im Feld der Digitalisierung anders aufstellen – auch organisatorisch – und diesem Segment deutlich mehr Gewicht zuweisen, als das bisher der Fall ist. Diese Aussage fällt ja schon, auch wenn sie nicht so genau ausformuliert ist und man noch nicht sagen kann, wo das hinführt. Das Thema Digitalisierung scheint angekommen, aber noch nicht so massiv, wie ich es mir wünschen würde. Das gilt eben auch für andere Organisationen im Journalismus, die sich immer noch sehr an traditionelle Strukturen und Vertriebswege klammern oder auch an Publika, die man erreichen möchte – die es aber in dieser Form nicht mehr oder nicht mehr in ausreichender Zahl gibt. Insofern ist die Perspektive darauf zwiegespalten.

 

JOURNAL: Ist aus Ihrer Sicht gerade eine gute Zeit für Journalismus oder eher eine Krisenzeit?

Bieber: Jede Zeit ist eine gute Zeit für Journalismus, man muss nur eben die richtigen Mittel finden, um sie dazu zu machen. Wir brauchen jetzt ganz viel engagierten, modernen, guten Journalismus. Wenn man dafür wie zurzeit Widerstände zu überwinden hat, dann ist das so. Aber das macht es nicht zu einer schlechten Zeit.||

 

Ein Beitrag aus JOURNAL 1/24, dem Medien- und Mitgliedermagazin des DJV-NRW, erschienen im März 2024.