Deutschland hat ein Problem mit der Pressefreiheit? Das will manchem noch immer nicht in den Kopf. Dabei konnte man es auch in diesem Jahr am 3. Mai im aktualisierten Länderreport nachlesen, die die Organisation Reporter ohne Grenzen (ROG) zum Tag der Pressefreiheit traditionell vorlegt. Für Deutschland signalisierte die Rangliste der Staaten zuletzt einen alarmierenden Abwärtstrend: Bereits 2022 ein Absacken aus dem Spitzenfeld der Länder, in denen die Lage der Pressefreiheit „gut“ ist, 2023 ging sogar Boden innerhalb der Länder mit „befriedigender“ Pressefreiheit verloren: Deutschland fiel um fünf Plätze und steht nun auf Platz 21.
Angriffe auf der Straße
Der wichtigste Grund dafür laut ROG: Journalistinnen und Journalisten werden hierzulande bei der Arbeit immer häufiger tätlich angegriffen (siehe Grafik) – vor allem während der Berichterstattung über Demonstrationen und insbesondere aus dem verschwörungsideologischen, antisemitischen und extrem rechten Milieu heraus. 2019 zählte ROG nur 13 solcher Angriffe. Seither stieg die Zahl stetig und erreichte im Jahr 2022 den Rekordwert von 103 Vorfällen. Die meisten Attacken geschahen in Sachsen (24). Aus NRW schafften es drei Angriffe in diese beunruhigende Statistik.
Film über Julian Assange
Der Trend ist Grund genug, über schwierige Fragen nachzudenken: Wieso werden Journalistinnen und Journalisten immer häufiger zu Freiwild auf den Straßen und zu Dauer-Angegriffenen auf Social Media Plattformen? Was bedroht ihre Arbeit konkret? Und was bedeutet das für die Demokratie? Dazu wollte der DJV-NRW rund um den Tag der Pressefreiheit auf unterschiedlichen Ebenen mit Menschen ins Gespräch kommen: In einem prominent besetzten Panel zum Fall Julian Assange im Ruhrgebiet, in Gesprächen mit Bürgerinnen und Bürgern von Diskussionsabenden in Volkshochschulen in ganz NRW und im Austausch mit jungen Menschen bei den Schülermedientagen der Initiative „Journalismus macht Schule“.
An den spektakulären Fall des WikiLeaks-Gründers Julian Assange erinnerte der DJV-NRW mit seiner Hauptveranstaltung zum Tag der Pressefreiheit im Kino Schauburg in Gelsenkirchen. Seit Assange über die Enthüllungsplattform WikiLeaks geheime Dokumente und Videos des US-Militärs aus dem Irak und Afghanistan öffentlich gemacht hat, versucht die amerikanische Justiz, ihn hinter Gitter zu bringen. Um der Auslieferung in die USA zu entgehen, flüchtete Assange 2012 in die ecuadorianische Botschaft in London. Dort erhielt er sieben Jahre Asyl. Inzwischen sitzt er im Londoner Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh in Einzelhaft. Seit 2022 gibt es einen Auslieferungsbefehl gegen ihn, der wegen des laufenden Berufungsverfahrens noch nicht ausgeführt wurde.
Die 120 Gäste in Gelsenkirchen sahen zunächst den Dokumentarfilm Ithaka, der sich dem Geschehen aus Sicht der Familie von Assange nähert, die für seine Freilassung kämpft. Danach diskutierten auf dem Podium – moderiert von Nancy Isenson (Deutsche Welle) – der isländische WikiLeaks-Chefredakteur Kristinn Hrafnsson, Georg Restle, Leiter der Monitor-Redaktion, und die neue DJV-NRW-Landesvorsitzende Andrea Hansen.
Für die Veröffentlichung im Gefängnis
Hrafnsson stellte schnell klar, dass es sich bei der Inhaftierung von Assange seiner Ansicht nach um eine beschämende Menschenrechtsverletzung handele. Daran änderten auch die vielen medialen Nebenschauplätze nichts, etwa der zweifache Vergewaltigungsverdacht gegenüber Assange und die Vorwürfe, dass WikiLeaks von Russlands Propaganda gelenkt sei oder an Verschwörungsmythen bezüglich politischer Hintergründe der Bedrohung ihres Gründers stricke. Wenn man das Geschehen auf seinen Kern reduziere, komme dabei schlicht eines heraus: „Ein Mensch, der etwas veröffentlicht hat, sitzt deswegen im Gefängnis“, erklärte der WikiLeaks-Chefredakteur.
„Es geht bei dem Fall nicht um Julian Assange, es geht um Pressefreiheit. Er sitzt im Gefängnis, weil er ein Kriegsverbrechen veröffentlicht hat“, stimmte ihm Georg Restle zu. Dabei sei es das, was Journalistinnen und Journalisten tun sollten: „die Verbrechen von Staaten veröffentlichen. Darum geht es im Journalismus!“ Restle beklagte, dass Whistleblower in Deutschland nicht rechtlich geschützt seien und zeigte sich enttäuscht darüber, dass die deutschen Medien über den Fall Assange inzwischen weitgehend schwiegen. Das sah Hrafnsson ähnlich, der sich „mehr Mut“ von den Journalistinnen und Journalisten wünschte: „Sie müssen deutlicher werden; das ist ihr verdammter Job!“
Vom Recht auf Enthüllungen
Auch Andrea Hansen bekräftigte die nötige Solidarität mit Assange: „Dabei ist es völlig irrelevant, ob ich ihn mag oder das mag, das er getan hat. Wir reden hier über Grundrechte, und die sind universell.“ Es sei nicht nur ein Recht, über Verbrechen des Staates zu berichten, sondern auch, solche Enthüllungen lesen zu können. Erst daraus entstehe überhaupt die Angst der Mächtigen vor Journalistinnen und Journalisten: „Die haben keine Angst vor der einen Geschichte, sondern davor, dass sie von vielen gelesen und wahrgenommen wird.“ Darin liege laut Hansen auch die Macht der Lokalberichterstattung: „Pressefreiheit fängt mit kleinen Geschichten an kleinen Orten an.“ So erfülle der Journalismus eine wesentliche Aufgabe in der Demokratie. Das gehe schon mit der Frage los, welche Themen bei einer Ratssitzung in den nichtöffentlichen Teil verschoben würden, wo weder Presse noch andere Interessierte zuhören dürften.
Im Lokalen könnte und müsste der Journalismus also viel bewegen. Aber ausgerechnet dort verliert er immer mehr an Zuspruch – und ausgerechnet dort leben Journalistinnen und Journalisten immer gefährlicher, wie eine Studie des European Center for Press & Media Freedom in Leipzig („Feindbild Journalist:in: Berufsrisiko Nähe“) herausgearbeitet hat: Danach wurden 2022 drei Mal so viele Lokaljournalistinnen und -journalisten tätlich angegriffen wie 2021. Zwar noch auf einem zahlenmäßig geringen Niveau (12 Fälle), aber mit eindeutiger Tendenz: Die Nähe zur Leserschaft, die einst maßgeblicher Vorteil von Lokalberichterstattern war, sei für Teile von ihnen inzwischen zur Bedrohung geworden, schlussfolgerten die Macher der Studie.
Etwas Hornhaut auf den Gefühlen
Wie vermittelt man Kindern und Jugendlichen die Bedeutung der Pressefreiheit? Zum Beispiel, indem man ihnen die Gelegenheit gibt, sich eine bekannte Auslandsreporterin per Zoom in den Unterricht zu holen und sie mit Fragen über ihre Arbeit zu löchern. Dieses Angebot machte der DJV-NRW Schulklassen und Schülerzeitungredaktionen im Rahmen der Schülermedientage der Initiative „Journalismus macht Schule“ in der ersten Maiwoche. Sieben Schulen aus NRW nutzten die Chance, mit Isabel Schayani, Leiterin des mehrsprachigen Onlineprojekts „WDRforyou“, Moderatorin des ARD-Weltspiegels und Tagesthemen-Kommentatorin, per Zoom-Chat ins Gespräch zu kommen. Schayani erzählte lebendig und detailliert über ihre intensiven Recherchen über das Leben von geflüchteten Kindern im ehemaligen Flüchtlingscamp Moria auf Lesbos und über ihre Berichte aus Bachmut nahe der russisch-ukrainischen Frontlinie.
Ein spannender Berufsalltag, zu dem die jungen Zuschauerinnen und Zuschauern viele Fragen hatten: „Haben Sie sich schon einmal in Ihrer Pressefreiheit eingeschränkt gefühlt? Welche Regeln haben Journalisten? Wie sieht Ihr Alltag als Journalistin aus? Haben Sie auch schon schlechte Erfahrungen bei einem Bericht aus dem Ausland gemacht?“ Auch die persönliche Gemütslage war von Interesse: „Wie fühlen Sie sich, wenn Sie über die oft schrecklichen Situationen anderer Menschen berichten?“ Da stockte Isabel Schayani ein bisschen. „Mit der Zeit kriegen die Gefühle irgendwie eine Hornhaut“, antwortete sie dann.
Die WDR-Journalistin gab einen tiefen Einblick in die Schwierigkeiten, aber auch das Schöne und Bereichernde der Auslandberichterstattung.
Danach hatten alle verstanden, dass eine Recherche vor Ort nicht durch einfaches Googlen vom Sofa aus zu ersetzen ist – und dass wichtige menschliche Geschichten fehlen, wo diese Art der Berichterstattung behindert oder gar verboten ist./CM
Mangel an Respekt
Was da so schief läuft zwischen den Medienschaffenden und manchen Teilen ihres Publikums? Darüber diskutieren am 3. Mai vor spärlich besetzten Stuhlreihen in der Volkshochschule Köln-Mülheim der deutsch-kasachische Filmemacher Alexej Getmann, Lokalredakteur Stefan Lenz (stellvertretender Vorsitzender des DJV-NRW) und der freie Hörfunkjournalist und Autor Miltiadis Oulios (WDR, Deutschlandfunk).
Alle drei können von Bedrohungen und Beschimpfungen berichten, Getmann hat auch schon Morddrohungen erhalten. Er habe „nicht mehr erlebt, dass man einem Journalisten, der in einen Raum kam, Respekt entgegengebracht hat“, erzählte der 40-jährige, der als Kind mit seiner Familie aus Kasachstan nach Deutschland einwanderte. Wer über kritische Themen berichte, müsse heute wohl oder übel auch mit Hasskommentaren leben können. „Andererseits: Wenn man als Journalist etwas veröffentlicht und alle finden es super, hat man vielleicht eher etwas verkehrt gemacht“, gab Getmann zu bedenken.
„Die Leute sind aggressiver“, hat auch Stefan Lenz festgestellt. Rechte Aktivistinnen und Aktivisten etwa aus der Reichsbürger-Szene hätten sich auch für manche Lokalredaktionen zu einer indiskutabel massiven und dauerhaften Bedrohung der Berichterstattung ausgewachsen. Andererseits versteht Lenz auch manche Kritik des Publikums an der Medienbranche und sieht einige Langzeitentwicklungen mit Sorge.
Dazu gehören beispielsweise das Verkürzen von Information, um sie den Formaten der Sozialen Medien anzupassen, und das zunehmend rasante Tempo, das es den Redaktionen schwer mache, immer mit hoher Qualität zu arbeiten. „Wir geben denen Futter, die nach Fehlern suchen“, sagt er.
Immer drängender werde auch die Frage nach mehr Medienkompetenz, damit die Menschen den Wahrheitsgehalt und die Verlässlichkeit von Informationen besser beurteilen könnten. Eine grundlegende Voraussetzung für eine funktionierende Demokratie.
Wie die Schere im Kopf funktioniert
Miltiadis Oulios machte sich darüber Gedanken, wie es um die innere Pressefreiheit in den Redaktionen bestellt ist – vor allem dann, wenn sich die Berichterstattung mit politisch oder wirtschaftlich Mächtigen kritisch befasst. Stellt sich die Redaktionsleitung vor ihre Redakteurinnen und Redakteure, wenn es zu heftiger Gegenwehr kommt? Oder bremst sie kritische Geister in den eigenen Reihen lieber aus, um Ärger zu vermeiden?
Oulios wies auch auf den Trend hin, dass mehr Journalistinnen und Journalisten mit Klagen („SLAPP-Klagen“) überzogen werden, um kritische Recherchen gegen mächtige Wirtschaftsinteressen oder Prominente zu bremsen. Wer eine Kaltstellung in der Redaktion oder eine Klagewelle befürchten muss, recherchiert eben nicht mehr unbefangen und kompromisslos, sondern entweder mit Angst oder gar nicht.
Der Hörfunkjournalist gab auch einen Einblick in die Situation in Griechenland, dem europäischen Land, das auf der Rangliste von Reporter ohne Grenzen noch hinter Ungarn und Polen 2023 am schlechtesten abgeschnitten hat. Wer dort gegen Machtmissbrauch, Korruption oder organisierte Kriminalität recherchiert, riskiert mitunter sein Leben. 2021 wurde ein Polizeireporter vor seiner Haustür auf offener Straße erschossen.
Woher der Hass auf Journalistinnen und Journalisten kommt, das ließ sich bei dieser Diskussion nur anreißen. Das Problem wird aber bleiben. „Es gibt ein Milieu, das Journalisten als Feindbild entdeckt hat“, konstatierte Miltiadis Oulios. Möglicherweise lägen Gründe dafür darin, dass der Großteil der Medien im „Sommer der Migration“ und während der Coronazeit „zu sehr auf Regierungslinie“ gelegen habe.
Was bleibt, ist die Notwendigkeit, Vertrauen neu aufzubauen. Darin, dass Presse essenziell für eine funktionierende Demokratie ist. Alexej Getmann, der auch viel in Kriegs- und Krisenländern recherchiert, hatte noch eine eigene Theorie: „Vielleicht ist es in Deutschland auch zu selbstverständlich, dass die Presse frei ist.“ Man lernt ja manches erst zu schätzen, wenn man es nicht mehr hat.||
Ein Beitrag aus JOURNAL 2/23, dem Medien- und Mitgliedermagazin des DJV-NRW, erschienen im Juni 2023.