Als Thomas Reisener beschloss, nach einer langen Journalistenkarriere die Schreibtischseite zu wechseln, war die Welt noch eine andere. Die größte absehbare Herausforderung in seinem neuen Job als Leiter des Presse- und Informationsamts der Stadt Münster dürfte aus damaliger Sicht die Kommunalwahl im September gewesen sein. Doch dann kam Corona – und wirbelte bereits an Reiseners erstem Arbeitstag, dem 16. März 2020, alles durcheinander. Wenige Wochen später erschütterte ein schrecklicher Fall von Kindesmissbrauch das sonst so bürgerlich-beschauliche Münster. Die Stadt musste Stellung beziehen, Entscheidungen treffen, Zusammenhänge erklären. Wie haben Reisener und sein Team die Belastungen des vergangenen halben Jahres gemeistert?
Sein erster Termin im neuen Job, erzählt Reisener im Gespräch mit dem JOURNAL, habe ihn an einem sonnigen Vorfrühlingsmorgen zum Corona-Krisenstab in Münsters Hauptfeuerwache geführt. Das Gremium war kurz zuvor installiert worden und tagte zu dieser Zeit mehrmals wöchentlich, um schnelle und pragmatische Lösungen im Kampf gegen die um sich greifende Seuche zu finden. Mit dabei: Spitzenkräfte aus Verwaltung, Feuerwehr, Polizei, Krankenhäusern, Hilfsorganisationen und Kassenärztlicher Vereinigung. Und erstmals der neue Amtschef Thomas Reisener. Der stammt aus Münster und hat zuvor lange Zeit für die Rheinische Post (RP) in Düsseldorf gearbeitet, die letzten sieben Jahre als landespolitischer Chefkorrespondent.
Kaum Zeit für die Begrüßung
„Nach der Besprechung bin ich ins Amt gefahren und habe mich erst mal vorgestellt.“ Reisener lacht. „Das war wohl die kürzeste Ansprache, die die Kolleginnen und Kollegen je von einem neuen Amtsleiter gehört haben.“ Die Zeit drängte. Es galt, Medien und Öffentlichkeit über die Coronamaßnahmen zu informieren und zahlreiche Fragen – etwa zu Schul- und Geschäftsschließungen – zu beantworten. Auch für das Amt selbst mussten Abstands- und Hygieneregelungen getroffen werden.
Der neue Chef teilte die Pressestelle in zwei Teams ein – „Tip“ und „Top“. „Man hätte sie natürlich auch Team A und Team B nennen können“, sagt der 50-Jährige, „aber ich wollte kein Team B haben, weil ich finde, dass wir alle erste Wahl sind.“ Die Teams wechselten sich wöchentlich ab – jeweils eins arbeitete komplett im Homeoffice, das andere war teilweise im Büro, Besprechungen liefen per Videokonferenz. Seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, lobt Reisener, hätten sich als belastbar, vertrauenswürdig und flexibel erwiesen.
So ähnlich dürften es auch andere kommunale Presseämter gehandhabt haben. In Münster war die Situation womöglich noch etwas prekärer als anderswo: „Corona war nur ein Teil der Probleme“, erläutert Reisener. „Es gab noch zwei andere: Zum einen fand im Grunde keine Amtsübergabe statt, da mein Vorgänger bereits ausgeschieden und seine Stellvertreterin zu dem Zeitpunkt erkrankt war. Zum Zweiten hatten wir aufgrund eines hohen Krankenstands und mehrerer Elternzeiten akute Personalnot. Ich habe in die Gesichter geguckt und buchstäblich gesehen: Die Leute arbeiten mehr, als man eigentlich vertreten kann.“ Nun kam Corona oben drauf – und damit die Unsicherheit, wie die Gesundheitskrise sich auf die ohnehin angespannte Personalsituation auswirken würde.
Aufs Wesentliche konzentriert
Reisener startete ein internes Notfallprogramm: Er suchte das Gespräch mit seinem Chef, Oberbürgermeister Markus Lewe, und erreichte eine Aufstockung des Personals auf insgesamt 19 Voll- und Teilzeitkräfte. Zugleich reduzierte er das Aufgabenspektrum auf das Wesentliche. „Wir haben einige Dienstleistungen weggelassen – zum Beispiel unsere Schriftenredaktion, die sich unter anderem um die Aktualisierung von Broschüren kümmert.“ Stattdessen produzierte das Team tägliche Online-Updates zu Corona. „Das Format war mit einer Farbe hinterlegt, die komplett aus unserem Corporate Design ausgebrochen ist“, erzählt der Amtsleiter. Eigentlich ein No-go. Daneben gab es Pressemitteilungen und Pressekonferenzen, Experteninterviews und Ortstermine – etwa um zu zeigen, welche Ersatzkapazitäten zur Verfügung stehen, falls die Krankenhausbetten nicht ausreichen würden. Ein Fall, der glücklicherweise bis heute nicht eingetroffen ist.
Darüber hinaus produzierte das Team Videobotschaften mit dem Oberbürgermeister: Nahezu täglich informierte Markus Lewe die Bürgerinnen und Bürger direkt aus dem Krisenstab über die getroffenen Entscheidungen. „So ein Format gab es hier vorher nicht“, sagt Reisener. „Wir haben es sozusagen über Nacht entwickelt.“ Rund 70 000 Menschen haben sich nach Angaben der Pressestelle die Videos von Lewe angesehen. Zurzeit ruht die Produktion allerdings – weil die Coronalage sich beruhigt hat, aber auch, weil Reisener und sein Team gerade andere Schwerpunkte setzen. Sie sind damit beschäftigt, das Presseamt in einen Newsroom umzustrukturieren. Momentan laufen mehrere Stellenbesetzungen. Unter anderem wird jemand für die Videoredaktion gesucht.
Schwerer Fall von Kindsmissbrauch
Als wären die Wochen seit März nicht anstrengend genug gewesen, musste das Presseamt der Stadt Münster noch eine weitere Belastungsprobe bestehen. Kaum waren die Wogen der ersten Covid-19-Welle verebbt und mit ihnen die größten Unsicherheiten um Gesundheits- und Hygienemaßnahmen, deckte die Polizei Anfang Juni einen schweren Fall von Kindesmissbrauch auf. Das Ausmaß und die Brutalität der sexuellen Gewalt, die sich in einer Gartenlaube im Stadtteil Kinderhaus zugetragen haben soll, erschütterten die 300 000-Einwohner-Stadt in Westfalen und lösten bundesweit Entsetzen aus.
„Auch wir waren von der Dimension überrascht und schockiert“, erinnert sich Thomas Reisener. Zwar hatte die Polizei die Stadtverwaltung informiert, dass in Kürze eine Nachrichtenlage zu erwarten sei. Doch das Presse- und Informationsamt kannte die detaillierten Zusammenhänge nicht und konnte sich deswegen auch nicht auf das immense Berichterstattungsinteresse einstellen. Sämtliche regionalen und überregionalen Medien meldeten sich, teilweise auch Redaktionen aus dem Ausland.
„Wir haben natürlich sofort versucht herauszufinden, ob es eine Schnittstelle zwischen diesen schrecklichen Taten und der Stadt Münster gibt“, erzählt Reisener. Als sich herausstellte, dass das Jugendamt zwischen 2014 und 2016 in Kontakt zur Mutter des Hauptopfers gestanden hatte, um die Situation des Kindes in den Blick zu nehmen, sei ihm direkt klar gewesen, „dass uns eine Defensivsituation droht“.
Reisener, der sich im vergangenen Jahr noch als RP-Korrespondent mit den Missbrauchsfällen von Lügde beschäftigt hatte, verständigte sich mit dem Oberbürgermeister über die Kommunikationsstrategie: „Der natürliche Reflex eines jeden Apparats in einer solchen Lage ist: Wir sagen erst mal gar nichts. Doch der OB und ich waren uns schnell einig, dass wir genau das nicht machen.“ Stattdessen informierte das Presseamt die Öffentlichkeit über die Berührungspunkte zum Jugendamt.
Aus Sicht des Pressestellenchefs hat sich diese Transparenz bewährt: „Wir konnten zwar nicht alle Fragen sofort beantworten, weil wir uns teilweise erst selbst schlau machen, in die Archive gehen und mit anderen Behörden Kontakt aufnehmen mussten.“ Aber die meisten Journalistinnen und Journalisten hätten dafür Verständnis gehabt. „Was sie einem übelnehmen, ist, wenn sie das Gefühl haben: Der weiß was und sagt es nicht.“
Einige Tage später bedurfte es erneut einer kommunikationsstrategischen Entscheidung. Die Stadt Münster trennte sich von ihrem Wirtschaftsförderungschef. Auch hier gab es Berührungspunkte zum Missbrauchsskandal, deren Art und Umfang jedoch im Dunkeln blieben, zumal es keinen staatsanwaltschaftlichen Anfangsverdacht gab. „Auch diese Personalie haben wir sofort kommuniziert, allerdings ohne die Gründe im Detail öffentlich machen zu können.“
Zwickmühle für die Kommunikation
Reisener verweist auf die komplizierten rechtlichen Rahmenbedingungen und die Folgen, die eine unbedachte Kommunikation in Missbrauchsfällen auch für das Umfeld möglicher Opfer und Täter haben kann. „Das war eine kommunikative Zwickmühle“, räumt er ein. „Einerseits wollten wir die Personalie schnell und proaktiv kommunizieren. Andererseits durften wir nur wenig zu den Hintergründen sagen. Also haben wir das eine getan und das andere gelassen. Ich glaube, für solche Situationen gibt es keine perfekten Lösungen. Manchmal kann man sich nur für das kleinere Übel entscheiden.“
Dem Presseamt wurde seine restriktive Kommunikationspolitik aber auch vorgeworfen. Das neue Lokalmedium RUMS (siehe JOURNAL 4/20) sah im Umgang mit der Spitzenpersonalie gar „ein Lehrstück für missglückte Kommunikation“. Die Pressemitteilung habe geklungen, „als ginge es hier lediglich um die Neubesetzung einer offenen Stelle“, schrieb RUMS-Redaktionsleiter Ralf Heimann. Dass der Wirtschaftsförderungschefs per Dringlichkeitsentscheidung abberufen wurde, „steht weiter unten, als wäre es gar nicht so wichtig. Dabei kommt so etwas nur in absoluten Ausnahmefällen vor“.
Die vergangenen Monate haben Reisener und sein Team Kraft und Zeit gekostet. Fünfeinhalb Monate nach seinem Antritt hat der neue Amtsleiter 175 Überstunden angesammelt. Neben den Krisen und dem Tagesgeschäft war auch die Kommunalwahl im September zu bewältigen. Jetzt steht die kalte Jahreszeit vor der Tür. Sie könnte die Zahl der Covid-19-Erkrankten wieder in die Höhe treiben. Reisener ist zuversichtlich: „Wir wissen jetzt, welche Kapazitäten wir brauchen und welche Maßnahmen wir hier im Presseamt ergreifen müssen.“
Im Rückblick empfindet er die Belastung durch den Missbrauchsskandal als schwerwiegender als die Herausforderungen der Pandemie. „Corona war ja für alle komplettes Neuland.“ In solchen Situationen sei es am Ende auch wieder ganz leicht: „Man verlässt sich auf das, was man hat: die persönliche Lebenserfahrung, den gesunden Menschenverstand, die Berufserfahrung und das Team.“||
Ein Beitrag aus JOURNAL 5/20, dem Medien- und Mitgliedermagazin des DJV-NRW, erschienen im Oktober 2020..