Der erste Krieg für mich war der russisch-tschetschenische. Anfang August 1996 lieferte ich aus dem stark zerbombten Grosny zwei Berichte für den russischen Fernsehkanal ORT (seinerzeit der populärste in Russland). Am Eingang der Stadt grüßte der Schriftzug „Willkommen in der Hölle!“ Damals konnte ich gerade noch rechtzeitig aus Grosny fliehen – nur ein paar Stunden, bevor die Stadt von Aslan Maschadows Truppen gestürmt wurde.
Obwohl ich in der Ukraine lebte, versuchte ich, mein „journalistisches Glück“ beim russischen Fernsehen zu finden. Gott sei Dank habe ich dieses „Glück“ nicht gefunden.
Es gibt keinen sicheren Ort mehr
Dann kam 2014, ich lebte in Rubizhne in der Region Luhansk. Ein guter Bekannter von mir, ein promovierter Wissenschaftler, starb vor dem Fernseher an einem Herzinfarkt. Als der Krankenwagen eintraf und die Rettungskräfte seinen Tod bestätigten, liefen im Fernsehen gerade die Bilder von der dreisten Annexion der Krim.
Wenig später wurde meine Heimat, der Donbass, zu einer Wunde. So blutig, aber es schien nur eine lokale Verletzung zu sein. Denn während der Kämpfe wusste man immer: Du kannst dich in einer anderen, einer sicheren Region des Landes verstecken. Diese Gewissheit ist heute verloren. Es gibt in der Ukraine keinen sicheren Ort mehr.
Mariupol, Butscha, Wolnowakha und Popasna sind zu Sinnbildern des Krieges geworden. In diesen Städten zu überleben ist oft ein Wunder. Natürlich gibt es noch Orte in der Ukraine, an denen es ruhiger ist als an anderen. Aber Luftalarme und Beschuss gibt es fast überall. Ein Bekannter von mir, ein Journalist aus Kiew, antwortete auf meine Frage: „Wie geht es dir?“ in den vergangenen Monaten immer mit den Worten „auf und ab“.
Im Sinne von: nach oben und nach unten. Gegessen, dann runter in den Luftschutzbunker, dann wieder hoch, um Tee zu trinken, wieder in den Luftschutzbunker, dann wieder hoch …
Luftalarm und Gräber in den Höfen
Wenn ich von Deutschland aus in Lwiw, Dnipro oder Poltawa anrufe, berichten mir meine Bekannten regelmäßig von Luftalarmen, vom Aufenthalt in Schutzbunkern und ab und zu von Einschlägen. In solchen Momenten fühle ich mich unwohl, weil ich hier in Deutschland in Sicherheit bin.
Meine Freunde in der Region Luhansk anzurufen – ob in Rubizhne, Lysytschansk oder Severodonetsk – wurde mit der Zeit erst immer schwieriger, mittlerweile ist es unmöglich. Ständig hört man Artillerie-Kanonaden, Wasser gibt es schon lange keines mehr, jetzt fehlt auch noch der Strom.
Schon bevor ich aus dem Donbass evakuiert wurde, gab es dort Beschuss. Trotzdem waren die Geschäfte in Luhansk häufig noch geöffnet. Einmal wollte ich in einen Laden gehen und musste mich fast sofort auf den Boden werfen, das Gesicht auf die Erde gedrückt. Ein Projektil, so schien es, flog geradewegs über uns hinweg. Wir waren überzeugt, dass es in der Nähe einschlagen würde. Das ist nicht passiert. Aber die Anzahl der Gräber in den Höfen der Wohnhäuser zeigt, dass es leider auch anders ausgehen kann.
Die Liste, der in diesem Krieg Getöteten, die ich persönlich kannte, wächst. Die meisten von ihnen sind Zivilisten, die es entweder nicht geschafft haben, den Luftschutzbunker zu erreichen, oder diesen vorzeitig verlassen haben.
Dann gibt es da noch das Militär und die Journalisten. Und es gibt Journalisten, die zum Militär gegangen sind. So wie Olexander Machow, der bei den Kämpfen in der Nähe von Isjum getötet wurde. Als ich 2015 eine lokale Mediengruppe leitete, habe ich ihn zur Mitarbeit eingeladen. Eine Zusammenarbeit kam jedoch nie zustande, weil Olexander sich freiwillig zur Armee meldete und Maschinengewehrschütze wurde.
Journalismus: Überleben als Aufgabe
Der Krieg hat bereits zahlreiche Journalistinnen und Journalisten das Leben gekostet. Während diese schwarze Liste um neue Opfer ergänzt wird, kämpfen viele ukrainische Medien ums Überleben, gerade die lokalen. Laut einer Befragung des Nationalen Journalistenverbands der Ukraine fehlt rund 75 Prozent von ihnen das Geld, um weiter zu arbeiten, bei 90 Prozent der Redaktionen sind die Werbeeinnahmen weggebrochen, und ein Viertel der Journalistinnen und Journalisten lokaler Medien arbeitet ohne Gehalt.
Doch das Schlimmste am Krieg ist immer der Tod von Menschen – vor allem von Kindern. In den ersten Tagen des Kriegs entstand ein Video, das mich wie viele andere Menschen schockiert hat. Es zeigte Ärzte in Mariupol, die versuchten, das Leben eines sechsjährigen Mädchens zu retten. Ich habe es an Menschen geschickt, mit denen ich in St. Petersburg studiert habe und dann auf Facebook Kontakt gehalten hatte. Nur fünf antworteten. Eine Antwort lautete: „Yurii, ich habe sie nicht dorthin geschickt. Schreibe an den Kreml.“ Diese russischen „Freunde“ gibt es für mich nicht mehr.
Deutschland, Unterstützung, Freunde
Aber ich hatte das Glück, ein wundervolles Paar in Deutschland kennenzulernen – Sandy und Christian. Sie helfen Ukrainerinnen und Ukrainern. Und nicht nur den Menschen. In ihrem Haus leben zudem sieben Hunde, sechs davon wurden aus der Ukraine mitgebracht. Einige von ihnen waren verletzt. Die rote Mascha etwa hatte fünf Kugeln abbekommen und konnte einige Zeit nicht laufen. Jetzt ist sie die Anführerin. Einen anderen Hund mit gelähmten Hinterbeinen, für den kaum Aussicht auf Genesung besteht, trägt Christian hinaus auf den Rasen neben dem Haus.
Als ich sie zusammen mit einem anderen Ukrainer zum ersten Mal besuchte, hat Sandy für uns Borschtsch gekocht. Er war sehr lecker, obwohl sie dieses ukrainisches Gericht noch nie zuvor zubereitet hatte. Beim Abschied umarmen wir uns. Und ich verstehe: Ich bin bei Freunden.||
Zur Person
Ein Beitrag aus JOURNAL 2/22, dem Medien- und Mitgliedermagazin des DJV-NRW, erschienen im Juni 2022.