„Ich kann mich nicht emotional von dem auffressen lassen, was ich da sehe“, sagt Reporter Arndt Ginzel, der auch auf dem Journalistentag in Dortmund auf einem Panel saß. Vorab hat das JOURNAL mit ihm über Macht und Verantwortung in der Ukraine-Berichterstattung gesprochen.
JOURNAL: Haben Sie als Reporter, der regelmäßig über die Ukraine berichtet, Macht?
Arndt Ginzel: Nein. Macht spielt für mich keine Rolle. Wenn wir Bilder aus der Ukraine senden und die Situation der Zivilbevölkerung zeigen, hat das sicherlich schon einen Einfluss auf die Meinungsbildung hierzulande. Das soll es auch, das ist Teil unserer Arbeit. Mein Team und ich, wir wollen meinungsbildend sein und von der Situation einen Eindruck vermitteln. Aber Macht haben wir nicht. Das ist auch nicht meine Kategorie, ich bin kein Politiker. Ich bin als Freier dort unterwegs und habe im Laufe der Zeit eine Kompetenz erworben, über das Land zu berichten. Es interessiert mich, was dort passiert, und das Thema hat hier viel Relevanz.
JOURNAL: Aber schon durch Ihre Art, die Geschichten aus der Ukraine zu erzählen, und die Auswahl der Themen und Bilder haben Sie doch ein stückweit die Macht darüber, wie wir in Deutschland diesen Krieg sehen…
Ginzel: Wie gesagt, mit dem Machtbegriff habe ich ein Problem. Natürlich bin ich, wie jeder andere Journalist auch, Herr der Geschichten, die ich mache. Wir entscheiden arbeitsteilig in Abstimmung mit Redaktionen, worauf der Fokus liegt. Unsere Aufgabe ist, etwas in den Kontext zu stellen, einzuordnen, auch zu bewerten. Das ist, was unser Publikum von uns erwarten kann. Aber das setzt intensive Recherche voraus. Erst danach können wir es uns leisten, nicht nur einen Fokus zu setzen, sondern ein Thema auch zu bewerten.
Arndt Ginzel
JOURNAL: Empfinden Sie eine besondere Art von Verantwortung, wenn Sie über Themen aus der Ukraine berichten? Vielleicht noch stärker als bei Berichten über Themen aus Deutschland?
Ginzel: Ich habe jetzt nicht zwei Werkzeugkoffer, einen Werkzeugkoffer für die Ukraine und einen Werkzeugkoffer für Deutschland. Ich mache keinen Unterschied, denn letzten Endes stellen sich bei jeder Recherche dieselben Fragen: Was können wir vermuten? Was können wir belegen? Was ist naheliegend, was nicht? Woran haben wir Zweifel? Alle diese Fragen, die ich mir bei der Arbeit dort stelle, stelle ich mir auch hier.
JOURNAL: Das heißt, die Art der Verantwortung, die Sie übernehmen, ist, so wahrhaftig wie es geht zu berichten und dabei die Protagonisten fair zu behandeln?
Ginzel: Ja, und in der Ukraine kommt sicherlich noch eine andere Verantwortung hinzu: Dass die Leute sicher wieder zurückkommen, mit denen ich dort arbeite. Wie mein Kameramann, die Übersetzer oder Fahrer und so weiter. Ich arbeite immer im Team. Und in der Ukraine riskiert man jetzt in vielen Teilen des Landes die Gesundheit oder sogar das Leben. Es beschert mir einen Großteil des Stresses dort, dass man ständig denkt: Ist es hier jetzt sicher? Ich überlege mir teilweise: Sind die Ukrainer selber noch in der Lage einzuschätzen, ob etwas riskant ist oder nicht?
JOURNAL: Wie meinen Sie das?
Ginzel: Das ist kompliziert zu erklären. Aber es gibt Orte, da fragst du dich: Bin ich jetzt irgendwie hypersensibel oder ist die Situation wirklich so gefährlich? Und wenn es gefährlich ist, warum reagiert hier gerade niemand? Warum läuft alles so weiter wie bisher? Das passiert, weil die Leute sich an die Gefahr gewöhnt haben. Ob denen das bewusst ist, weiß ich nicht, aber der Wert des Lebens wird mit der Zeit anders eingeschätzt, je länger der Krieg dauert.
JOURNAL: Was bedeutet das für Sie als Reporter?
Ginzel: Man muss aufpassen, dass man sich davon nicht anstecken lässt. Dass man sich sagt: Ja, die stehen hier in der Ecke und quatschen und 500 Meter weiter schlagen Granaten ein. Da ist es jetzt nicht gerade förderlich, mit denen hier herumzustehen. Diese Verantwortung zur Vorsicht trägt man ein stückweit sich selber gegenüber. Sobald du die Grenze überschreitest, muss dir klar sein, dass dir oder deinem Kollegen etwas passieren kann. Das kannst du nie ausschließen. Aber du kannst versuchen, das Beste zu tun, um es zu minimieren.
JOURNAL: Wie schaffen Sie es, das große Leid der Menschen zu verarbeiten, das Sie in der Ukraine sehen?
Ginzel: Da ist es in gewisser Weise ein Glück, dass wir Journalisten irgendwas Konstruktives daraus machen können, nämlich einen Beitrag. Wir sehen einen Sinn in dem, was wir machen. Ich glaube, mir würde es anders gehen, wenn ich nur dieser Situation ausgeliefert wäre und nicht drüber berichten könnte. Wenn du etwas Schreckliches erlebt hast und machst ein Stück daraus, bist du gezwungen, fünf Meter zurückzutreten und das relativ nüchtern zu betrachten. Du musst dir sagen: Nachher muss ein Beitrag daraus werden und ich kann mich jetzt nicht emotional von dem auffressen lassen, was ich da sehe.
JOURNAL: Kommen Sie trotz aller Professionalität dabei manchmal an Ihre Grenzen?
Ginzel: Bei unserem Dokumentar-Kinofilm „White Angel: das Ende von Marinka“ über die Arbeit einer Evakuierungsgruppe war es wirklich sehr hart, das Material zu schneiden. Es waren sehr drastische Bilder, die im Schnitt immer und immer wieder vor meinen Augen abliefen. Aber es gab eben auch den Zeitdruck, fertig zu werden und dabei den besten Weg zu finden, die Geschichte der Leute zu erzählen und eine Abwägung zu finden, wie drastisch man werden kann und wo man reduzieren muss, damit der Zuschauer das noch aushält. Man fragt sich auch: Was ist mit der Menschenwürde? Was dürfen wir nicht zeigen?
JOURNAL: Und der routinierte Arbeitsprozess schafft für Sie die nötige Distanz, das zu rational entscheiden?
Ginzel: Ja, wenn man sich diese ganzen Fragen im Produktionsprozess stellt, schafft man automatisch einen inneren Abstand zu dem Geschehen. Denn man ist, wie schon gesagt, Herr der Geschichte und nicht mehr derjenige, der davon aufgefressen wird. Außerdem sage ich mir: Wir sind ja nur Berichterstatter und nicht die Leute, die das jeden Tag erleben müssen. Wenn wir wollen, fahren wir wieder zurück und alles läuft wieder in den normalen Gleisen zwischen Büro, Schnitt und Drehen. Wir sind dem Krieg nicht dauerhaft ausgesetzt.
JOURNAL: Bei unserem Journalistentag hatten wir das Motto „Aus großer Macht folgt große Verantwortung“ gewählt. Können Sie damit etwas anfangen – auch wenn Ihnen der Begriff Macht zuwider ist?
Ginzel: Wenn man die Medien als Institution betrachtet, haben sie natürlich Macht. Und man konnte bei den US-Wahlen sehen, wie man Medienmacht missbrauchen kann. Aber, wenn ich mich selber als einfacher freier Reporter betrachte, ist mir das Wort Macht wirklich fremd.
JOURNAL: Aber hat nicht der eine oder andere Bericht von Ihnen etwas politisch oder juristisch angestoßen?
Ginzel: Sicher. Aber du fährst ja nicht in die Ukraine und sagst dir: Ich will jetzt ein Kriegsverbrechen aufdecken und dann wird was ganz Großes passieren. Sondern, du sagst dir: Wenn der Hinweis stimmt, den ich habe, ist da ein Kriegsverbrechen geschehen. Dann fängst du an, zu recherchieren und zu recherchieren.
JOURNAL: Und dann schaffen Sie dafür Öffentlichkeit.
Ginzel: Aber bevor es öffentlich ist, hast du noch so viele Kontrollmechanismen dazwischen. Ich hab‘s eben ja schon beschrieben. Es sind Fragen zu klären. Wie belegen wir etwas? Wie aussagefähig ist es? Wo hast du das her? Wo hast du das Dokument fotografiert? Wie glaubhaft ist das, was ein Augenzeuge sagt? Wo war der zum Zeitpunkt des Verbrechens? Und so weiter und so weiter. Es ist wirklich eine Puzzlearbeit, bei der du keine Zeit hast, dir zu sagen: Oh, wow, das wird mal Eingang finden in eine Untersuchung der Vereinten Nationen und das wird dieses oder jenes bewirken.
JOURNAL: Aber trotzdem kann das passieren. Haben Sie also doch Macht?
Ginzel: Ich bin mir schon dessen bewusst, dass meine Arbeit Wirkung hat oder haben kann. Aber für mich passt der Machtbegriff nicht. Weil, dann würde ich andererseits verzweifeln. Denn ich berichte so viel, ohne dass es etwas bewirkt, ohne dass im Anschluss etwas passiert. Das ist halt so. Es ist auch nicht meine Aufgabe, dafür zu sorgen, dass eine Staatsanwaltschaft ermittelt oder zu denselben Ergebnissen kommt wie ich. Ich berichte nicht primär, um irgendetwas anzustoßen. Wenn ich und die Redaktionen, für die ich arbeite, der Meinung sind, eine Geschichte ist relevant und wir sollten ein Stück daraus machen, reicht mir das aus.
JOURNAL: Sonst kämen Sie auch schnell an die Grenze von Journalismus zum politischen Aktivismus.
Ginzel: Ja, richtig. Das ist eine der größten Gefahren. Aktivismus an sich ist nichts Negatives, aber man muss sich in unserem Beruf immer wieder bewusstmachen: Entweder ist man ist Aktivist oder man ist Journalist. Ich bin Journalist.||
Ein Beitrag aus JOURNAL 4/24, dem Medien- und Mitgliedermagazin des DJV-NRW, erschienen im Dezember 2024.