JOURNALISTEN IM ALLTAG

Empörungsverstärker

Medien spielen bei Shitstorms oft eine ungute Rolle
14. Februar 2020, Corinna Blümel

Rund um den Jahreswechsel trudelte der WDR in eine digitale Empörungswelle, die ins echte Leben herüber schwappte und bis in die Politik reichte (siehe Tagelang im Sturm gestanden). Am Verlauf zeigte, wie Medien mit ihrer Berichterstattung oft ungewollt in die Rolle des Verstärkers rutschen. Martin Hoffmann, Onlinejournalist und Manager Business Development für die Ströer Content Group, hat die Mechanismen in einer Folge von Tweets herausgearbeitet. Der komplette Thread vom 28. Dezember ist im Netz zu lesen.

Aus dem Ruder laufende Debatten

„Wie entsteht eigentlich diese aus dem Ruder gelaufene Debattenkultur genau, die zahlreiche Medien immer wieder beklagen?“, fragte Hoffmann zum Auftakt. Der Ausgangspunkt sei etwas, das früher kaum Beachtung gefunden hätte, eine (öffentliche) Aussage, ein Auftritt oder ein Tweet. Der Auslöser werde von einigen, meist anonymen (und in diesem Fall rechten) Accounts in drastischen Worten kritisiert, häufig direkt mit Beleidigungen und schiefen, aber drastischen Vergleichen, sodass der Ton für die Debatte gesetzt sei.

Über Mikro-Influencer erreiche die Kritik manchmal einen großen Multiplikator. „Dieser gibt den anonymen Kritikern eine größere Bühne und trägt mit seinen Anmerkungen oft selbst zu einer Radikalisierung der Debatte bei.“ Spätestens wenn Anhänger der Multiplikatoren das Thema aufgreifen, steigt nach Hoffmanns Beobachtung die Wahrscheinlichkeit, dass die weitere Kritik im Hintergrund organisiert werde. Die Zahl der kritischen Tweets nehme spürbar zu.

„Es folgt der entscheidende Moment, an dem viele Medien versagen: Die Kritik dieser Accounts wird in ersten Berichten aufgegriffen (‚Shitstorm für …‘, ;Empörung über …;) und Pars pro Toto mit den eingebetteten Tweets aus der rechten Filterbubble scheinbar gestützt.“ Erst hier bekommen die skandalisierenden Vorwürfe eine große Öffentlichkeit außerhalb bestimmter Kreise bei Twitter oder Facebook.

In der Folge sprängen andere Politiker und mehr oder weniger Prominente auf den Zug auf, um sich mit einer Aussage zum Thema zu profilieren. So werde „die ursprünglich von einigen wenigen rechts-konservativen Accounts unter Pseudonymen verbreitete Kritik auf einmal geadelt und mit ‚echten‘ kritischen Stimmen scheinbar nochmal verstärkt“. Weitere Medienberichte ließen das Ganze dann so aussehen, „als wäre die Ursprungsaussage tatsächlich ein riesiger Skandal, über den das ganze Land redet. Die scheinbar seriösen Kritiker übernehmen eine klassische Feigenblattfunktion.“

Hoffmann kritisiert, dass vielen (auch jungen) Medien offensichtlich das Verständnis fehle, wie rechte Kreise im Netz Themen setzten – und wie diese „die Funktionsweise der Aufmerksamkeitsökonomie gezielt hacken“. Sein Thread endet mit den Worten: „Am Tag darauf beschweren sich dann sowohl Medien als auch Politik wieder über die Verrohung der Debatte, die Aufregungsspirale und das Abdriften des Sagbaren nach Rechts. Dabei übernehmen sie selbst eine zentrale Rolle in dem ganzen Spiel – in der Hoffnung, davon zu profitieren.“

Aus jeder Richtung möglich

Solche Empörungskaskaden von Rechts lassen oft eine Orchestrierung im Hintergrund vermuten, ihr Hass wird nicht selten zur realen Bedrohung. Aber prinzipiell können Shitstorms aus jeder Richtung kommen. Jedes polarisierende Thema kann dazu führen, dass ein Sachverhalt, eine Aussage, ein Unternehmen, eine Organisation, eine Gruppe oder eine einzelne Person am Pranger landen.

So musste H&M Anfang 2018 nach Rassismusvorwürfen eine Werbung mit Entschuldigung zurückziehen. Im Sommer 2019 geriet Landwirtschaftsministerin Julia Klöckner nach einem Video mit dem Nestlé-Vorstandsvorsitzenden Marc-Aurel Boersch in heftige Kritik. Zu Themen wie Massentierhaltung oder Geschlechtergerechtigkeit toben immer wieder heftige Stürme durch Twitter, Facebook und Co.

Natürlich berichten die klassischen Medien über die Auswüchse, die solche entfesselten digitalen Wortwechsel haben. Aber wenn Redaktionen auf die Schnelle die Empörungswelle zusammenfassen und mit saftigen Zitaten ihre scheinbare Relevanz belegen, verstärken sie – gewollt oder ungewollt – die Skandalisierung.

Prof. Dr. Marlis Prinzing | Foto: Martin Jepp
Prof. Dr. Marlis Prinzing | Foto: Martin Jepp

Aber wie können Medien verhindern, dass sie den Shitstorm weiter tragen und ihm überhaupt erst öffentliche Geltung verschaffen? „Viele Medien verstehen nicht, wie solche Empörungswellen entstehen und wie sie selbst dabei instrumentalisiert werden“, beobachtet Marlis Prinzing, Professorin an der Hochschule Macromedia in Köln. „Oft denken Redaktionen, sie hätten es mit einer wirklichen gesellschaftlichen Diskussion zu tun und es sei entsprechend ihre Aufgabe, darüber zu berichten.“

Prinzing empfiehlt in solchen Momenten das Herangehen mit einem diskursethischen Blick: Am Anfang stehe die Frage, ob es sich überhaupt um eine Debatte handele. „Journalistinnen und Journalisten sollten prüfen, ob wirklich Argumente vorgetragen werden. Erfolgt ein echter Austausch zum Thema, diskutieren verschiedene Gruppen, vielleicht auch heftig, oder kommen alle Wortmeldungen einfach aus der gleichen Bubble?“

Medien sollten in der Lage sein, inszenierte Shitstorms zu erkennen, und sie sollten wissen, wie sie damit in ihrer Berichterstattung umgehen.

Empörungswellen als Signalgeber

Darüber hinaus sieht es Marlis Prinzing aber auch als lohnende Aufgabe für Medien, sich gründlicher mit den Anlässen wilder Netzdebatten zu befassen: Journalistinnen und Journalisten sollten überlegen, ob der Auslöser zum Beispiel eine echte Normverletzung oder eine Ungerechtigkeit und zudem ein medial bisher vernachlässigtes Thema sei. Denn eine Empörungswelle könne auch „das Signal sein, dass ein Diskurs überfällig ist“. Auch in so einem Fall sei es natürlich nicht Sache der Medien, auf die Welle aufzuspringen und die Empörung noch zu befeuern. „Es ist dann die Aufgabe der Journalistinnen und Journalisten, der zugrunde liegenden Normverletzung oder Ungerechtigkeit recherchierend nachzugehen.“

Nicht zuletzt kann ein Skandal nach Überzeugung von Marlis Prinzing auch „Anlass sein zu überprüfen, ob eine Norm in der heutigen gesellschaftlichen Realität noch angemessen oder vielleicht schon überholt ist. Im Ergebnis kann ein Skandal nach einem ernsthaften öffentlichen Diskurs zu dem Ergebnis führen, dass diese Norm entweder bestätigt oder dass sie angepasst wird.“||

 

Ein Beitrag aus JOURNAL 1/20, dem Medien- und Mitgliedermagazin des DJV-NRW, erschienen im Februar 2020.