Das hat nichts mehr von der alten Stempeluhr: Arbeitszeiterfassung per Smartphone-App.| Foto: Jost Wolf
Das hat nichts mehr von der alten Stempeluhr: Arbeitszeiterfassung per Smartphone-App.| Foto: Jost Wolf
 

Fakten statt Bauchgefühl

Arbeitszeiterfassung hilft, Personalmangel und Überlastung aufzuzeigen
22. Juni 2022, Kristian van Bentem

Der 1. Mai war in diesem Jahr für die Betriebsräte der NRW-Titel der Funke Mediengruppe ein doppelter Feiertag. Denn am Tag der Arbeit fiel der Startschuss für die elektronische Arbeitszeiterfassung in den Redaktionen von WAZ, NRZ, Westfalenpost und deren Onlinern. „Ich war erleichtert, dass es endlich losgeht“, sagt Barbara Merten-Kemper, Betriebsratsvorsitzende der WAZ. Der Weg von den ersten Anläufen vor rund zehn Jahren bis zum Abschluss der nun geltenden Betriebsvereinbarung war lang und beschwerlich – wie bei manch anderem Verlag zuvor.

Von wegen „Produktivitätsreserven“

Zeiterfassung in Redaktionen – das schien lange Zeit für viele ein Tabu zu sein. Warum die Vorstellung daran bei vielen Verlagsoberen bis heute Abwehrreflexe auslöst, liegt auf der Hand: Natürlich ahnen sie, dass in Folge des fortwährenden Personalabbaus erhebliche Überstunden anfallen. Doch wer durch die Fakten einer Zeiterfassung damit konfrontiert wird, kann nicht mehr lapidar behaupten, es gebe in dezimierten Redaktionen noch „Produktivitätsreserven“.

Bereits 2019 hatte der Europäische Gerichtshof (EuGH) geurteilt, dass Arbeitszeit ausnahmslos zu erfassen ist, und hatte die EU-Mitgliedsstaaten zur Umsetzung in nationales Recht verpflichtet. Weil Deutschland dem bislang nicht nachkommt, wehren sich viele Verlage weiter vehement gegen Arbeitszeiterfassung.

„Die Geschäftsleitung war nicht begeistert, als wir das böse Wort in den Mund genommen haben“, erinnert sich Barbara Merten-Kemper. Weil der WAZ-Betriebsrat 2019 die Zustimmung zur Desk-Struktur von einer Zeiterfassung abhängig machte, musste der Arbeitgeber jedoch zähneknirschend einwilligen. Zunächst gab es Excel-Listen. „Als wir später eine elektronische Erfassung wollten, hat sich die Geschäftsleitung wieder geziert.“ Erst am Ende eines langwierigen Einigungsstellenverfahrens stand schließlich die Erfassung per Smartphone oder PC.

Die Pioniere in NRW

Pionierarbeit bei der Zeiterfassung leistete der Betriebsrat der Neuen Westfälischen in Bielefeld, der 2011 in einer Einigungsstelle eine Betriebsvereinbarung erstritt. An dieser orientierte sich 2016 auch der Betriebsrat der Lippischen Landes-Zeitung in Detmold. „Bei uns ist die Arbeitszeiterfassung inzwischen geübte Praxis. Da kräht kein Hahn mehr nach“, erzählt deren Betriebsratsvorsitzender Jost Wolf. Auch anfängliche Bedenken vieler Kolleginnen und Kollegen hätten sich zerstreut. „Die haben sich Wahnsinnsgedanken gemacht, wie aufwendig das ist.“ Tatsächlich ist die Erfassung per Smartphone oder PC mit der Web-App „Time iX“ simpel, erklärt Wolf: „Es gibt nur vier Tasten: Kommen, Gehen, Pause Beginn, Pause Ende.“

Kurzarbeit als Beschleuniger

Viele Hürden überwinden musste der Betriebsrat der Westfälischen Nachrichten (Münster), als er 2018 eine Zeiterfassung in den Blick nahm. „Der Widerstand des Arbeitgebers war heftig“, erinnert sich Newsroom-Redakteurin Dorle Neumann, seit vier Jahren Betriebsratsmitglied. „Anlass für uns war, dass sich immer mehr Kolleginnen und Kollegen gemeldet haben, die sich überlastet fühlten“, berichtet sie.

Dennoch waren viele in der Redaktion paradoxerweise gegen eine Zeiterfassung. Zum Beschleuniger wurde schließlich die Kurzarbeit in den ersten Monaten der Pandemie. „Weil in dieser Zeit die Arbeitszeiterfassung vorgeschrieben war, konnten sich die Kolleginnen und Kollegen daran gewöhnen. Viele haben festgestellt, dass es gar nicht so schlimm ist“, sagt Neumann. „Nach dem Ende der Kurzarbeit war es dann kein großer Schritt mehr, als die Arbeitszeiterfassung auf Initiative des Betriebsrats fortgeführt wurde.“

Seit Juli 2021 regelt nun eine Betriebsvereinbarung auch den Ausgleich für Überstunden und die Erstellung von Dienstplänen. Erfasst wird – noch – in Excel-Tabellen. „Die anfängliche Skepsis ist bei den meisten gewichen. Viele hatten einen Aha-Effekt, als sie gemerkt haben, wie viel sie tatsächlich arbeiten“, erzählt Neumann.

Flexibilität wird ausgeglichen

Das hat auch Barbara Merten-Kemper festgestellt: „Kritik hören wir nicht mehr. Die Leute haben erkannt, dass sie weiterhin normal ihren Job machen können.“ Denn das von Verlegern gerne an die Wand gemalte Szenario vom „Stechuhrjournalismus“ löst sich in Redaktionen nach der Einführung der Zeiterfassung schnell auf. Sie verhindert keine Flexibilität – sie dokumentiert sie lediglich und garantiert den Ausgleich für Überstunden.

Für Betriebsräte ist sie das wichtigste Instrument im Kampf gegen die Folgen fortwährenden Personalabbaus. „Sie hilft, die dadurch entstehende Überlastung im Blick zu haben“, so Neumann. „Ohne Zeiterfassung hat man als BR keine Handhabe“, betont auch Jost Wolf. „Denn der Verleger kann mir ja viel erzählen.“ Wo Personalbedarf in Redaktionen früher oft nach Bauchgefühl bemessen wurde, kommen mit der Zeiterfassung Fakten ins Spiel. Immer mehr Arbeit auf immer weniger Schultern zu verteilen wird somit verhindert. „Zum Teil führt die Zeiterfassung aber auch dazu, sich mehr zu disziplinieren und sich anders zu organisieren“, merkt Barbara Merten- Kemper an.

Sollten Betriebsräte in Verlagen, die bislang keine Arbeitszeit erfassen, die Initiative ergreifen? „Auf jeden Fall“, meint Jost Wolf. „Gesundheitsschutz, Zufriedenheit – all das hängt an der Zeiterfassung.“||

 

Argumente für den Betriebsrat
Bis der Gesetzgeber Arbeitgeber explizit zur Erfassung der gesamten Arbeitszeit verpflichtet, müssen Betriebsräte selbst aktiv werden, um Auskunft zu bekommen. Nach § 80 BetrVG hat der Betriebsrat darauf zu achten, dass die Gesetze und die Tarifverträge eingehalten werden. Die dafür notwendigen Informationen muss der Arbeitgeber ihm zur Verfügung stellen.
Eine hilfreiche Orientierung bietet ein Urteil des Arbeitsgerichts Braunschweig vom 30. März 2007 (4 BV 130/06) zur Arbeitszeiterfassung bei der Braunschweiger Zeitung. Demnach kann ein Betriebsrat vom Arbeitgeber verlangen, dass dieser ihm jeweils bis zu einem Stichtag des Folgemonats für jede Redakteurin und jeden Redakteur (soweit nicht leitende Angestellte)
* Auskunft über Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit an jedem Arbeitstag des Vormonats sowie jede Überschreitung der maßgeblichen (tariflich/arbeitsvertraglich) regelmäßigen betrieblichen wöchentlichen Arbeitszeit erteilt;
* Auskunft über die Grenzen des § 3 Satz 1 ArbZG überschreitende Arbeitszeit erteilt und ihm die nach § 16 Absatz 2 ArbZG erforderlichen Unterlagen zur Verfügung stellt.
Der DJV-NRW berät Betriebsräte, die eine Zeiterfassung einführen wollen. Mitglieder können sich an Justiziar Christian Weihe wenden (Tel. 02 11/2 33 99-0). Auch der Fachausschuss Betriebs- und Personalräte und der Fachausschuss Tageszeitungen teilen gerne ihre Erfahrungen mit Zeiterfassung und Einigungsstellenverfahren.

Ein Beitrag aus JOURNAL 2/22, dem Medien- und Mitgliedermagazin des DJV-NRW, erschienen im Juni 2022.