Kein Arbeitstag soll länger als zehn Stunden dauern. Wenn es doch mal später wird, muss der Betrieb dafür Überstundenzuschläge zahlen. Ein garantierter Mindestlohn ist überfällig, und weil seit der Reichsgründung vor zwei Jahren alles teurer geworden ist, brauchen sie mehr Geld. Im Januar 1873 wird den Buchdruckern klar, wie sich diese Bedürfnisse erfüllen lassen: Ein allgemeiner Tarif mit Lohnerhöhungen muss her, der für alle Betriebe ihrer Branche verpflichtend gilt.
So waren es vor 150 Jahren die streikenden Setzer und Drucker des Buchdruckerverbands, die nach einem wochenlang eskalierenden Arbeitskampf mit Kündigungen und Aussperrungen am 9. Mai 1873 den ersten Flächentarifvertrag in deutschen Landen durchsetzten. Laufzeit: drei Jahre.
Grundlage für Verbesserungen
Die Drucker haben damit die Grundlage für ein Instrument geschaffen, mit dem die Sozialpartner seither in regelmäßigen Abständen Verbesserungen der Arbeits- und Sozialbedingungen von Beschäftigten vereinbaren. Ein Instrument, das inzwischen an Strahlkraft verliert: Waren in Deutschland 1999 noch 62 Prozent der Beschäftigten in branchentarifgebundenen Betrieben beschäftigt, fiel ihr Anteil 2022 auf 41 Prozent. Die Tendenz: fallend. So die Statistik des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), das den Grad der Tarifbindung jährlich erhebt. Dagegen lag der Anteil der Beschäftigten in Betrieben mit Firmen- oder Haustarifvertrag über den gesamten Zeitraum stabil bei 8 Prozent. Die sinkende Tarifbindung sei auf den Rückgang der Branchentarifbindung in der Privatwirtschaft zurückzuführen. Im öffentlichen Sektor sei sie recht stabil geblieben.
Signalwirkung für die Banche
Übergreifende Tarifregelungen auf regionaler oder Branchen-Ebene gehen zurück, und die Tariflandschaft zerbröselt – da, wo man sie überhaupt erhalten kann – in immer mehr Insellösungen. Auch in der Medienbranche. „Wir haben einen starken Aderlass in der Fläche erlebt“, bestätigt Christian Wienzeck als Verhandlungsführer bei Tarifverhandlungen des DJV-Bundesverbands.
Jüngste Beispiele für Tarifflucht in Nordrhein-Westfalen sind die Funke Mediengruppe und Radio NRW. Der DJV versucht, sich gegen den Trend zu stemmen. „Auch wenn ein Flächentarifvertrag nicht mehr überall angewendet wird, hat er Signalwirkung in der Branche“, erläutert Wienzeck. „Es geht uns dabei um die kleineren Unternehmen, die ihre Haustarifverträge in Anlehnung an die Fläche gestalten.“ Deshalb gilt es, diese Leuchttürme zu erhalten.
Christian Wienzeck ist seit drei Jahren federführend für die Tarif- und Sozialpolitik des Bundesverbands. 2023 verhandelte er zwei für den DJV zentrale Flächentarifverträge: den für Redakteurinnen und Redakteure an Tageszeitungen – inklusive der Regelung für eine Inflationsausgleichsprämie – und den für Redakteurinnen und Redakteure an Zeitschriften. „Die beiden großen Print-Flächentarifverträge haben bei uns immer herausragende Bedeutung“, erklärt Wienzeck. Der Bundesverband ist außerdem federführend für die Tarifverhandlungen der bundesweiten Sendeanstalten wie Deutsche Welle oder ZDF, während die Verhandlungen in Landesanstalten des öffentlich-rechtlichen Rundfunks von den jeweiligen Landesverbänden übernommen werden. Der DJV-NRW verhandelt beispielsweise direkt mit dem WDR in Köln (siehe auch Interview „Jenseits des Gehalts“). Kleinere Landesverbände werden auf Nachfrage bei Verhandlungen vom Bundesverband unterstützt.
Erst jüngst beim Verbandstag in Magdeburg beschlossen die Delegierten, die Tarifpolitik des DJV weiter mit einem Schwerpunkt auf die Flächentarifverträge auszurichten – mit einer Rückfalloption auf Verhandlung von Haustarifen in Anlehnung an die Fläche. „Es bleibt so, dass unsere Prioritätder Erhaltung der Fläche gilt“, betont Wienzeck. Dazu gehöre auch, dass der DJV stetig versuche, „verlorene“ Betriebe von einer Rückkehr in den Flächentarif zu überzeugen beziehungsweise so realistisch zu verhandeln, dass auch weniger leistungsstarke Unternehmen im Tarif bleiben. „Wir verhandeln mit ver.di zusammen, vertreten aber eine jeweils eigene Tarifpolitik“, erläutert der Jurist. „Und unsere ist: Wir wollen die Fläche mindestens erhalten, im Idealfall auch wieder stärken.“
Vieles erstritten
Die inzwischen von wachsenden Teilen der Arbeitgeberseite verpönten Flächentarifverträge sind eine Erfolgsgeschichte, mit der die Sozialpartner seit Jahrzehnten relativ geräuschlos viel für den sozialen Frieden und Ausgleich im Land tun. Die Verträge sorgen für regelmäßige Lohnerhöhungen, ermöglichen aber auf Ebene der Betriebe auch (Teil-)Lösungen für soziale Herausforderungen, die die Gesellschaft bewegen.
Die Gewerkschaften erstritten Regelungen für zusätzliche Altersvorsorge, Altersteilzeit, mehr Qualifizierungsmöglichkeiten oder besser bezahlte Ausbildung, Beschäftigungssicherung in Krisen und kürzere Wochenarbeitszeit.
Zuletzt drehten sich die Arbeitskämpfe oft um größere zeitliche Flexibilität für die Beschäftigten, da war die Krise von öffentlicher Kinderbetreuung und häuslicher Pflege ein unterschwelliges Thema. Auch rund um die Coronapandemie leisteten die Sozialpartner mit moderaten Abschlüssen ihren Teil dafür, dass die Wirtschaft weiter lief und der soziale Friede erhalten blieb. In den kommenden Tarifrunden wird es in erster Linie darum gehen, dass die Beschäftigten wieder real mehr Geld in ihrem Portemonnaie haben, nachdem die Inflation so viel gefressen hat.
Verhandlungsführer Wienzeck nennt zwei Abschlüsse, die der DJV in der Vergangenheit mit seinen Mitgliedern in diesen Fragen erkämpft hat: „Unser generell wichtigster Erfolg war das so genannte Obligatorium, die verpflichtende Regelung zur Altersvorsorge, die nicht umsonst im Tageszeitungsbereich für allgemeinverbindlich erklärt worden ist“, berichtet er. Auch der Tarif zu einem Volontariat bei Zeitschriften war zunächst für allgemeinverbindlich erklärt worden, ist es aber aufgrund von Verfahrensfehlern inzwischen nicht mehr. „Es ist ausgesprochen schwierig, in Zeiten wie diesen noch Allgemeinverbindlichkeitserklärungen zu bekommen“, sagt Wienzeck. Ein weiterer wichtiger Abschluss, den der DJV erreicht hat, ist die Regelung „Zeit statt Geld“ für den Bereich Tageszeitungen, ein „Sabbatical light“, wie Wienzeck es nennt (siehe „Freiraum auf Tarif“).
Echte soziale Meilensteine
In anderen Branchen lassen sich in Tarifverhandlungen auch heute noch soziale Meilensteine verhandeln. Zum Beispiel in der Metall- und Elektrobranche: 2018 setzte die IG Metall eine „verkürzte Vollzeit“ bis auf 28 Stunden durch. Seitdem haben ihre Mitglieder in Vollzeit das Recht, ihre Arbeitszeit für sechs bis 24 Monate befristet auf bis zu 28 Stunden zu reduzieren.
Die „verkürzte Vollzeit“ muss spätestens sechs Monate vor Beginn beim Arbeitgeber beantragt werden. Wer Kinder erzieht, Angehörige pflegt oder in Schicht arbeitet, kann außerdem ein „tarifliches Zusatzgeld“ (27,5 Prozent des Monatsgehalts) optional in Zeit umwandeln und so bis zu acht zusätzliche freie Tage im Jahr nehmen.
Für diese Forderungen hatten laut IG Metall 1,5 Millionen Beschäftigte mit Warnstreiks Druck gemacht. So etwas ist möglich, wenn eine Branche einen hohen gewerkschaftlichen Organisationsgrad hat und die Beschäftigten durch die Bank streikbereit und -gewohnt sind. Vor allem aber dann, wenn flächendeckende Streiks für die Betriebe schnell teure Auswirkungen haben.
„Boni“ als Trend
Ein Trend der Tarifverhandlungen ist auch, ergänzend zu tabellenwirksamen Lohnsteigerungen weitere soziale Leistungen und „Boni“ in die Verhandlungsmasse zu geben. Solche Möglichkeiten einer Entgeltumwandlung eines kleinen Teils des Tariflohns wird regelmäßig diskutiert und teils schon umgesetzt. So erlaubt der Tarifvertrag Tageszeitungen auch die Option auf Finanzierung eines Job-Rads oder Maßnahmen zur Gesundheitsförderung.
Manche Arbeitgeber hätten zwar Freibeträge für solche „Goodies“ in petto, aber vor allem in größeren Häusern bedeute eine Leistung dieser Art teilweise hohen internen Verwaltungsaufwand. „Wir haben vor drei Jahren mit dem BDZV und ver.di Gespräche geführt, welche weiteren Lösungen in dieser Richtung in den Verhandlungen noch denkbar wären, aber diese Überlegungen sind noch nicht abgeschlossen“, konstatiert Wienzeck.
Was er sich gut als Forderung vorstellen könne, sei ein tarifliches Recht auf Freistellung und Lohnfortzahlung für Fortbildungen. „Aber da sind wir – ähnlich wie bei ‚Zeit statt Geld‘ – auch schnell bei der ganz praktischen Frage: Wie schafft man dafür die Zeitfenster, vor allem in kleinen Redaktionen? Da sind nicht die Kosten das Hauptproblem.“
Forderungen an Mitgliederinteresse ausrichten
Für zu hohes Pokern am Anfang von Tarifverhandlungen ist der DJV nicht bekannt. „Klar ist, dass eine Tarifforderung immer höher ist als ein Tarifabschluss. Mit der Forderung drücken wir die berechtigten Interessen unserer Mitglieder aus. Dagegen steht das Interesse der Arbeitgeberseite.“ Wie lange der DJV im Rahmen der Tarifverhandlungen bei seiner Forderung bleibe, hänge maßgeblich vom Erfolg von Arbeitskämpfen ab. „Denn“, so sagt Wienzeck, „Streiks lassen sich manchmal nicht vermeiden.“ Eine grosse Drohkulisse aufzubauen, die man dann nicht wahrmachen könne, sei jedoch auch kontraproduktiv. Wie hoch ist die Streikbereitschaft in den Häusern? Wie streikstark sind die betroffenen Landesverbände? Welche Ausfälle kann ein Streik realistisch bewirken? All das müsse nüchtern bedacht werden, bevor der DJV den Ton für die Verhandlungen setzt. Wie die Forderungen des DJV zustande kommen zeigt die Illustration (lässt sich per Klick vergrößern).
Die anhaltende Tarif- und Verbandsflucht vieler Arbeitgeber und die steigende Zahl der Ohne-Tarif-Mitgliedschaften (OT-Mitgliedschaft) in Arbeitgeberverbänden hat inzwischen die Politik auf den Plan gerufen, von der Arbeitgeber und Gewerkschaften ansonsten erwarten, dass sie sich aus ihrer Sozialpartnerschaft heraushält. Seit 2022 gibt es die Mindestlohnrichtlinie der Europäischen Union mit der Forderung, dass in den EU-Staaten 80 Prozent Tarifbindung hergestellt werden soll, zur Not mit einem nationalen Aktionsplan. Die Ampel-Regierung hat in ihren Koalitionsvertrag ihr Bestreben festgehalten, die Tarifbindung zu stärken, und arbeitet am Entwurf zu einem Tariftreuegesetz. Die Idee: Um öffentliche Aufträge zu erhalten, müssen Betriebe tarifgebunden sein.
Die Einmischung scheint für die Politik gerade in Zeiten leerer Staatskassen angezeigt: Wie der DGB in einer „Tarifflucht-Bilanz“ ausgerechnet hat, hätten die Beschäftigten bei einer flächendeckenden Tarifbindung rund 60 Milliarden Euro im Jahr mehr zur Verfügung. Dann würden 43 Milliarden Euro mehr in die Sozialversicherung fließen, zudem kämen 27 Milliarden Euro an Mehreinnahmen über die Einkommenssteuer in Lindners Kassen. Tarifflucht, so zeigt sich, schadet der ganzen Gesellschaft.||
Ein Beitrag aus JOURNAL 4/23, dem Medien- und Mitgliedermagazin des DJV-NRW, erschienen im Dezember 2023.