Ich habe kürzlich den Wirkmechanismus von Social Media im realen Leben erlebt. Gemeinsam mit zwei Kollegen hatte ich ein sensibles Thema zu bearbeiten: Mobile Wundversorgung hinter dem Bahnhof bei Menschen mit Suchterkrankung, oft ohne festen Wohnsitz und Krankenversicherung. Kleine Wunden bleiben unbehandelt, werden zu großen Problemen – im schlimmsten Fall droht Amputation.
Uns war klar, dass wir behutsam vorgehen müssen. Schon auf der Fahrt zum Drehort besprachen wir Sachen wie: niemanden mit der Kamera überfallen, keine Wunden im Detail zeigen, Rücksicht nehmen. Vor Ort einigten wir uns mit den ehrenamtlichen Helfern und einer Sozialarbeiterin, abseits zu warten, bis jemand sich bereit erklärte, gefilmt zu werden.
Ich entschied mich, dezent im Hintergrund zu Bleiben – je weniger Leute zuschauen, desto angemessener. Da tauchte plötzlich ein Mann auf, der mich nicht als Teammitglied erkannte. Optisch hätten ihn Lügenpresse-Rufer wohl in die „links-grün“-Schublade gesteckt. Ohne Vorwarnung pöbelte er los: Wir seien das Letzte, rücksichtslos, würden Menschen ausbeuten, die es ohnehin schwer hätten, das Ganze begleitet von übelsten Stadion-Schimpfwortkaskaden.
Ohne groß zu überlegen, ging ich entschlossen auf ihn zu: „Wie reden Sie mit uns? Und warum fragen Sie nicht erst, bevor Sie urteilen? Wir haben den Herrn natürlich vorher um Erlaubnis gebeten.“ Der Mann zuckte zurück, entschuldigte sich reflexhaft – nur um mir nach ein paar Schritten aus sicherer Entfernung seinen Mittelfinger zu zeigen und weiter zu schreien, bis der ganze Platz hinschaute. Die direkte Auseinandersetzung scheute er, um Austausch ging es ihm nicht, er wollte nur abladen.
Mein Kollege war aufgebracht – zu Unrecht beschuldigt zu werden ärgerte ihn besonders. Und ich dachte: Da ist der Typ so selbstgerecht zu meinen, er könne im Vorbeigehen die Situation korrekt beurteilen. Den Menschen, die er dabei vorgeblich schützen wollte, sprach er die Fähigkeit ab, selbst zu entscheiden. Statt zu helfen, pflegte er seine Vorurteile gegenüber Medien. Außerdem: Wäre tatsächlich jemand in Not gewesen – was hätte seine Pöbelei aus 15 Metern Entfernung daran geändert?
Solche Auftritte haben nichts mit Zivilcourage zu tun – und auch nichts mit Medienkritik. Die ist wichtig, aber sie beginnt nicht mit Schimpfwörtern. Ich wünsche mir fürs neue Jahr, dass wir von dieser aggressiven Grundstimmung wieder wegkommen. Auch, weil sie gerade den Schwächsten der Gesellschaft am wenigsten hilft – sie trifft diese oft zuerst.
Frohes Fest Euch allen – wir sehen uns 2025!
Eure Andrea
Ein Beitrag aus JOURNAL 4/24, dem Medien- und Mitgliedermagazin des DJV-NRW, erschienen im Dezember 2024.