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Ultimatives Trial and Error

Die Podcast-Serie Mutausbruch entstand dank Regional Fellowship
12. Oktober 2025, Jasper Riemann
Die Freiheit für ein komplett eigenes Projekt: Jasper Riemann blickt zufrieden auf die Monate bei der Aachener Zeitung zurück. | Foto: Peter Engels

Wenn du an die Zukunft denkst, woran denkst du?“ Joaquin Phoenix beugt sich nach vorne und hält einem Jungen ein Mikrofon vor den Mund. „Hast du das Gefühl, Erwachsene verstehen, was Kinder durchmachen?“ Im Film „C’mon C’mon“ ist der Schauspieler ein Radiojournalist, der Kinder in Hochhaus-Wohnungen in sozial schwachen Großstadtvierteln besucht und sie nach ihren Hoffnungen, Wünschen und Ängsten fragt. „An welchen schönen Traum erinnerst du dich?“

Ein paar Monate, nachdem ich den Film im Kino gesehen habe, sitze ich auf meinem Bett und klappe den Laptop auf. Ich schaue den Film nochmal, via Stream. In ein Word-Dokument notiere ich alle Fragen, die der Radiojournalist den Kindern stellt. Ich nenne das Dokument „Zukunftsfragen.pdf“. Es ist der Anfang des Projekts, das ich später in Aachen umsetzen werde: Mutausbruch. Vier Geschichten von Jugend, Krise und Kindern. Ein vierteiliger Storytelling-Podcast und wahrscheinlich das journalistische Produkt, auf das ich – auch mit zwei Jahren Abstand – am stolzesten bin.

Kaum wieder so viel Freiheit

Die Chance dazu bekam ich während meiner Ausbildung an der Deutschen Journalistenschule (DJS). Die Schule bietet an, mit einem sogenannten Regional Fellowship für drei Monate zu einem Lokalmedium zu gehen. DJS-Schülerinnen und Schüler können eine Arbeitsprobe und wertvolle Erfahrungen sammeln, während die Medien vom Input von außen profitieren. Im besten Fall produzieren sie ein journalistisches Format, mit dem sie sich schmücken können oder das sie bei der digitalen Transformation unterstützt.

Ich habe mich darauf beworben, weil ich ahnte, dass ich wahrscheinlich selten wieder in meiner Karriere so viel Freiheit bei einer journalistischen Arbeit haben werde. Nur: Was macht man, wenn man alles machen kann?

Eine Übung in Empathie und im Zuhören

Die beste Idee, die mir einfiel: Ich möchte genau das machen, was Joaquin Phoenix als Radiojournalist im Film „C’mon C’mon“ macht. Denn ich mochte den Film so sehr, er ist eine Hommage
an das Radio, eine Übung in Empathie und im Zuhören; ein Plädoyer, die Lebensrealitäten von benachteiligten Kindern sichtbar zu machen und ernst zu nehmen.

Ein junger Mann mit lockigen brauen Haaren, einer Brille und einem blau weiß gestreifeten Pulli steht in einem Aufnahmestudio. Am Gesicht und den gestikulierenden Händen sieht man, dass er sehr engagiert etwas einspricht.
Jasper Riemann beim Einsprechen eines Textes. | Foto: Peter Engels

Im Grunde hätte ich diese Idee überall umsetzen können. Ich bewarb mich über meine Journalistenschule bei der Aachener Zeitung, weil die anderen möglichen Städte in Süddeutschland waren, ich mal eine Auszeit aus München wollte und weil ich das Gefühl hatte, ich würde Aachen mögen. Ich weiß gar nicht, warum. Ich war da vorher nie gewesen.

Ich bin dem stellvertretenden Chefredakteur der Aachener Zeitung, Amien Idries, sehr dankbar, dass er mir offenbar genug vertraute und darüber hinwegsah, dass ich weder einen journalistisch-stichhaltigen Grund für Aachen hatte, noch einen ausgereiften Plan – meine Idee war damals ja noch, ich gebe es zu, reichlich unkonkret.

Was ich genau machen würde, entwickelte ich erst kurz vor dem Fellowship und zu dessen Beginn. Ein Glücksfall war, dass ich mit Alexander Gutsfeld telefonieren konnte, ebenfalls DJS-ler, der vor mir in Aachen war und den sehr guten (und sehr erfolgreichen) Podcast „Narcoland“ produziert hat. Er hat mir den wertvollen Tipp gegeben, vorher einen Zeitplan zu machen, bis wann ich was erledigen möchte: Casting, Storyboards, Aufnahmen, Produktion, Sound-Design…

In Aachen traf ich auf eine Redaktion, die ich ziemlich modern fand. Die Aachener Zeitung ist Teil vom europäischen, multinationalen Medienkonzern Mediahuis, zu dem auch der Irish Independent oder der niederländische De Telegraaf gehört. Die Redaktion setzt darauf, Webseite, E-Paper und ihren Auftritt in sozialen Medien auszubauen, Videoformate zu entwickeln, mit Podcasts junge Zielgruppen zu erreichen.

Eigeninitiative plus Unterstüzung

Rückblickend würde ich meine Arbeit dort so beschreiben: Initiative und Ideen mussten von mir kommen, aber Feedback und Unterstützung erhielt ich von den Kolleginnen und Kollegen, die immer ansprechbar und hilfsbereit waren. Mit dem stellvertretenden Chefredakteur Amien Idries und Audio-Manager Peter Engels besprach ich mich in regelmäßigen Jour-Fixes.

Mein vorher erarbeiteter Zeitplan sah Folgendes vor. Erster Monat: Casting von Protagonistinnen und Protagonisten und Folgen planen. Zweiter Monat: Aufnahmen. Dritter Monat: Skripte schreiben und Produktion. Und ungefähr so lief das dann tatsächlich auch.

In Jugendzentren, Vereinen und Schulen suchte ich nach jungen Menschen, die von einer Krise betroffen waren oder sich um eine sorgten. Corona, Inflation/Armut, Kriege, Klima – es standen ja genug zur Auswahl, zynisch gesagt. Ich hatte Studien gelesen, dass Kinder und Jugendliche besonders stark von den Krisen der vergangenen Jahre betroffen waren, und fand, dass ihre Stimmen zu selten in den Medien auftauchten.

Mehrmals ziemlich am Limit

Natürlich läuft nicht alles glatt: Die perfekte Geschichte eines 16-jährigen Hauptschülers, der sich übers Boxen aus der Armut kämpfen will, fällt plötzlich zusammen, weil die Familie blockiert; ich versage mit der Technik; eine Jugendliche mit Essstörungen macht nur mit nach einem Gipfelgespräch mit ihrer Mutter in der Redaktion… Mehrmals war ich ziemlich am Limit.

Nicht nur hatte ich unterschätzt, wie viel Aufwand ein Podcast ist. Auch hatte ich mir vorgenommen, mit je einer Person eine ganze Folge zu füllen. Ich musste und wollte in die Tiefe gehen, führte lange, ausführliche Gespräche, baute Vertrauen auf, erhielt Einblicke in das Leben junger Menschen in Deutschland, für die ich meinen Protagonistinnen und Protagonisten sehr dankbar bin.

Das waren die vier: der 18-jährige Leonardo, der sich trotz seiner Behinderung auf den ersten Arbeitsmarkt kämpfen will, die neunjährige Anastasia aus der Ukraine, die von Olympia im Wasserspringen träumt, Titus, der Pullover von Luxusmarken trägt und sich mit der Antifa für eine bessere Welt einsetzt, und Jay, die während der Corona-Pandemie nicht mehr aufhören kann zu essen.

Von der Idee zum eigenen Projekt

Ich wollte Kinder und Jugendliche nach ihren Zukunftsängsten und -wünschen fragen, so wie Joaquin Phoenix in „C’mon C’mon“. Aber das war nur die Ursprungsidee. In Aachen habe ich das Projekt zu meinem eigenen gemacht. Was am Ende herauskommen würde, war am Anfang überhaupt nicht absehbar.

Es wurde die ultimative Trial-and-Error-Erfahrung. Aber sie hat sich gelohnt. Mein Podcast wurde mit zwei Preisen ausgezeichnet, für einen weiteren nominiert. Ich habe vielleicht noch nie so viel im Journalismus gelernt wie durch das Regional Fellowship.||

Ein Beitrag aus JOURNAL 3/25, dem Medien- und Mitgliedermagazin des DJV-NRW, erschienen im September 2025.