Claus Hesseling ist gerade von Hamburg ins Münsterland zurückgekehrt. Auch nebenan wohnen Großstadtflüchtlinge. Da drängt sich fast eine Datenanalyse vor der Haustüre auf: Ist es nur anekdotische Evidenz oder ist Stadtflucht ein Trend unter jungen Familien? Damit sind wir mitten im Thema Digitalisierung und Journalismus. Claus Hesseling ist Datenjournalist aus Überzeugung, mit viel Erfahrung und schult Journalistinnen und Journalisten darin, ihre Arbeit mit Tools und Techniken zu vereinfachen.
JOURNAL: Du bist das, was man Early Adopter nennt. Wie bist du zum Digital-Pionier geworden?
Claus Hesseling: Ich habe 1999 Abitur in Emsdetten gemacht, und unser Jahrgang war der erste an der Schule, der eine Webseite hatte. Darüber hat der Kollege von Radio RST, Christian Feld, der heute ARD-Hauptstadtkorrespondent ist, einen Beitrag gemacht. Da habe ich gedacht: „Ah, okay, dieses Internet scheint für die Leute spannend zu sein.“ Mir wurde ziemlich schnell klar, welch’ disruptive Macht darin steckt. Es hat noch etwas gedauert, bis es sich durchgesetzt hat, aber dann brachte es massive Umwälzungen – auch im Journalismus.
JOURNAL: Wie offen stehen der Journalismus als System, aber auch Journalistinnen und Journalisten als Individuen digitalen Themen gegenüber?
Hesseling: Viele Jüngere in der Ausbildung denken das Digitale heute einfach mit. Und die etablierten Kolleginnen und Kollegen haben vielfach auch keine Berührungsängste. Was denen meiner Meinung nach fehlt: Zeit, Geld und Fortbildungen, um das Beste aus den Möglichkeiten, die sich bieten, herauszuholen. Es gibt tolle Beispiele, auch hier auf lokaler Ebene in NRW, meistens jedoch von Individuen. Es hängt einfach noch zu oft an diesen Einzelnen.
JOURNAL: Welche Potenziale siehst du, die noch nicht gehoben wurden?
Hesseling: Es gibt ganz viele Geschichten, die in Daten stecken, auf lokaler, regionaler, nationaler und internationaler Ebene, weil es ganz viele Daten gibt, die von Behörden oder Firmen erhoben werden. Die können helfen, unsere Produkte besser und relevanter zu machen, weil ich vom Bauchgefühl-Journalismus wegkomme. Gestützt auf valide Daten erzähle ich die relevantere Geschichte mit Protagonistinnen und Protagonisten, die pars pro toto stehen.
JOURNAL: Wie viel Zeit muss ich dafür freischaufeln?
Hesseling: Wenn ich als Lokaljournalistin oder Lokaljournalist auf dem Land hier in NRW drei Seiten selber füllen muss, habe ich natürlich keine Zeit, noch täglich eine Stunde irgendwelche Daten auszuwerten. Dafür muss Raum geschaffen werden. Aber wir haben durch Corona gesehen, wie wichtig Daten sind. Wir machen daran sogar Grundrechtsentscheidungen fest. Die muss ich doch meinen Nutzerinnen und Nutzern auch erklären können und sie nicht nur abbilden!
JOURNAL: Wenn wir gucken, wie wir das im Arbeitsablauf implementieren, sehe ich zwei Möglichkeiten: Wir bleiben beim guten alten journalistischen Universaldilettanten oder schaffen ein Expertenteam für diese Dinge. Was würdest du dir in einer idealen journalistischen Welt wünschen?
Hesseling: Ich glaube, Redaktionen müssen beides schaffen: dass einerseits alle keine Angst vor Excel-Tabellen haben und dass es andererseits im Haus Leute gibt, die nichts anderes machen, die gefragt werden und unterstützen können. Außerdem ist die Verzahnung mit der IT wichtig – auch inhaltlich. Je näher diese Kolleginnen und Kollegen bei der Redaktion sitzen, die mit Daten arbeiten will, umso besser ist das.
JOURNAL: Das ist ja quasi ein Paradigmenwechsel!
Hesseling: Ja total. Wenn man auf den Bereich Daten schaut, braucht es für die Umsetzung guter Geschichten Journalistinnen und Journalisten, IT-Kräfte, Grafikerinnen und Grafiker, aber auch Archivarinnen und Archivare mit ihrem extrem guten Hintergrundwissen. Am besten ist, wenn man sie wirklich zusammenbringen kann. Denn man kann Schätze heben, wenn alle direkt zusammen an dem Projekt arbeiten. Im Weg steht da dieses Kästchendenken: Ich mache das, du machst das, und welcher Kostenträger ist das eigentlich …?
JOURNAL: Wenn eine Redaktion jetzt Ernst machen will: Wie implementiere ich die Daten-Denke im Alltag?
Hesseling: Nichts gegen Panama Papers und andere Sachen, die große Medienhäuser machen. Aber es sind mir zu häufig Leuchttürme. Da haben sieben Leute sechs Monate dran gearbeitet. Ich finde, wir brauchen mehr Datenjournalismus, bei dem eine Kollegin oder ein Kollege ein paar Stunden oder drei Tage vor Ort Daten aufbereitet und so daraus eine verständliche Geschichte wird. Wir brauchen viel mehr Datenkompetenz in der Breite.
JOURNAL: Das ist die gute alte Frage nach der Relevanz …
Hesseling: Relevanz ist ja vielfältig. Es gibt auf allen Ebenen hochrelevante Datenthemen – international wie die Pandemie, national wie die Neuberechnung der Grundsteuer oder lokal/regional wie der Ausbau einer Getränkefabrik mit Auswirkungen aufs Grundwasser. Bewohnerinnen und Bewohner sowie Bäuerinnen und Bauern fürchten, dass ihr Grundwasser vor Ort abgepumpt wird. Da kann ich zum Beispiel an Grundwassermessstellen überprüfen, wie sich das auswirkt, und muss mich nicht auf das Bauchgefühl verlassen.
JOURNAL: Ist deine Technikbegeisterung grenzenlos oder siehst du auch kritische Punkte?
Hesseling: Klar, jede Technik kann im Guten und im Schlechten eingesetzt werden. Da müssen wir uns als Gesellschaft klar werden, welchen Einsatz wir wollen und welchen nicht. Es braucht Journalistinnen und Journalisten, die für eine Gefahr sensibilisieren, und Politikerinnen und Politiker, die hoffentlich die entsprechenden Gesetze machen. Wir brauchen weder Technikeuphorie noch -hysterie, sondern einen kritischen, nüchternen Blick. Und wir brauchen mehr Labs, in denen einfach mal experimentiert werden kann. Dafür ist viel zu wenig Raum. Wenn wir das nicht ändern, werden wir ewig hinterherlaufen.
JOURNAL: Also so negativ können wir jetzt aber nicht aufhören… Wir wollten ja eigentlich Mut machen, mal was Neues auszuprobieren …
Hesseling: Okay, kriegen wir hin: Was wir als Journalistin oder Journalist gut können, ist: so lange Fragen stellen, bis wir eine Sache verstanden haben. So sollten wir auch an Datenquellen oder Datensätze herangehen. Ich muss mir die so lange angucken, bis ich verstehe, was sie sagen und was nicht. Vor den Rechenschritten, die ich zum Beispiel mit Excel machen muss, möchte ich wirklich allen die Angst nehmen. Wer sich traut, mal in der Volkshochschule einen Programmierkurs zu belegen, wird merken, dass es keine Raketenwissenschaft ist. Man muss auch nicht gut in Mathe sein, es ist eher eine Sprache. Auch Leute, die nicht gut in Mathe sind, können gute Datenjournalistinnen oder -journalisten sein!
JOURNAL: Echt? Dann sollte ich mich vielleicht doch nochmals rantrauen – kann man ja auch im Bildungsurlaub ausprobieren. Danke, Claus.||
Ein Beitrag aus JOURNAL 3/22, dem Medien- und Mitgliedermagazin des DJV-NRW, erschienen im September 2022.