Sie spielen eine entscheidende Rolle bei Entwicklungen im Journalismus: Pionier-Journalistinnen und -Journalisten zeigen Experimentierfreude und Gründermut und haben oft hohe ideelle journalistische Werte. Sie arbeiten häufig in neuen Organisationsformen wie kleinen Start-ups, nutzen moderne Technologien und sehen ihren eigenen Berufsstand sehr kritisch. Das JOURNAL hat mit Prof. Dr. Wiebke Loosen über den Wandel in der Branche gesprochen.
Prof. Dr. Wiebke Loosen
ist Senior Researcher am Hans-Bredow-Institut und Professorin an der Universität Hamburg. In ihrer Forschung beschäftigt sie sich mit Datafizierung und Journalismus, der sich wandelnden Beziehung von Journalismus und Publikum und der neuen Start-up-Kultur im Journalismus. Zusammen mit Prof. Dr. Andreas Hepp vom Zentrum für Medien-, Kommunikations- und Informationsforschung (ZeMKI) der Universität Bremen arbeitet sie zurzeit an der Studie „Pionier-Journalismus: Die Rolle von Pioniergemeinschaften bei der Transformation des Journalismus“. Im Zentrum steht die Frage, wie Pionier-Journalistinnen und -Journalistinnen arbeiten und sich die Zukunft ihres Berufsfelds vorstellen.
JOURNAL: Frau Prof. Loosen, bei Ihren Untersuchungen zum Journalismus der Zukunft messen Sie den Pionierinnen und Pionieren eine besondere Rolle zu. Was zeichnet sie aus?
Wiebke Loosen: Im Journalismus entwickelt sich jenseits etablierter Medienhäuser und Redaktionen seit mehreren Jahren eine Start-up-Kultur – mit neuen Formen, journalistisches Arbeiten zu organisieren. Wir benutzen dafür den Begriff Pionier-Journalismus. In der Praxis wird oft einfach von Innovationen gesprochen, das greift aber zu kurz: Im Pionier-Journalismus wird experimentiert und so insgesamt ein neuer Möglichkeitsraum für Journalismus geschaffen, auch wenn sich nicht alle experimentellen Ideen langfristig halten. Uns interessieren die Menschen, die solche Ideen eines neuen Journalismus vorantreiben und nach neuen Formen der Berichterstattung suchen.
JOURNAL: Um welche Entwicklungen im Journalismus geht es?
Loosen: Es geht um die Veränderungen, die etwa neue Technologien der Automatisierung oder auch das „Internet der Dinge“ mit sich bringen. Daneben gibt es aber auch Pioniere, die den Journalismus, die Art der Berichterstattung grundsätzlich verändern wollen. Hier wäre zum Beispiel der Konstruktive Journalismus zu nennen, der den lösungsorientierten Journalismus vorantreiben will.
Es gibt viele solcher Ideen, wie die Zukunft der Branche aussehen soll. Wir haben schon mehr als 130 Journalismus-Begriffe gesammelt, bei denen das Präfix eine bestimmte Art von Journalismus beschreibt: etwa Drohnen-Journalismus, kollaborativer Journalismus, Cross-Border-Journalismus oder Daten-Journalismus. In der Summe gibt das ein schönes Portfolio, was unter Journalismus alles verstanden wird und wo Journalistinnen und Journalisten versuchen, neue Formen zu entwickeln und sich von anderen abzugrenzen: Wie man Geschichten findet, wie man sie erzählt, wie man sie aufbereitet und verbreitet.
JOURNAL: Wo findet man die journalistischen Pionierinnen und Pioniere?
Loosen: Pionier-Journalismus wird oft von Menschen betrieben, die neben dem Journalismus ein zweites Standbein in einem ganz anderen Bereich haben. Sie suchen Innovationen jenseits des Journalismus, um diese für den Journalismus nutzbar zu machen. Vieles bewegt sich dabei zurzeit im daten- und technologieorientierten Bereich: Neben der Softwareentwicklung, der Erhebung und Nutzung von Daten oder von Automatisierungsprozessen geht es um neue Formen der Nutzerbeteiligung und -integration. Ganz wichtig ist dabei die Arbeit im Team, oft eng mit anderen Disziplinen, etwa mit Entwicklern oder Datenanalysten.
Wenn man mit Pionieren spricht, ist eine der häufigsten Aussagen: „Wir müssen aufhören, uns nur selbst zu beobachten. Anderswo passieren Dinge, die wir im Journalismus als Innovation für uns nutzen können.“ Dies betrifft ganz unterschiedliche Bereiche – die Technologie ebenso wie die Finanzierungsformen.
JOURNAL: Das heißt, das Berufsbild Journalistin/Journalist ändert sich gerade stark?
Loosen: Ja, der Journalismus wandelt sich zwangsläufig mit den neuen Technologien. Damit verändert sich auch das Berufsbild. Trotzdem bleiben die Grundkompetenzen erkennbar: Es geht immer noch um Recherche, um Schreiben. Allerdings ändern sich die Wege, das dann zu publizieren.
Zudem wird immer mehr außerhalb etablierter Redaktionen gearbeitet. Journalistische Pionierinnen und Pioniere agieren häufig als kleine Start-ups, oft mit nur zwei Personen, die für eine Idee brennen und diese umsetzen wollen. So wie zum Beispiel das Projekt MedWatch von Nicola Kuhrt und Hinnerk Feldwisch-Drentrup. Die Wissenschaftsjournalisten engagieren sich für verlässliche Gesundheitsinformationen im Netz, indem sie über gefährliche und unseriöse Heilsversprechen berichten. Das tun sie mit klassischen journalistischen Recherchen, aber eben nicht für eine etablierte Redaktion, sondern als kleines Start-up. Dafür haben sie Förderungen beantragt und nutzen Crowdfunding. Was gemacht wird, ist also oft gar nicht so neu, neu ist die Organisationsform.
Charakteristisch ist für Pioniergemeinschaften im Journalismus, dass sie Menschen vereinen, die eine Vision von der Zukunft des Journalismus haben. Damit setzen sie Impulse. Ob und wie stark diese sich branchenweit durchsetzen, ist dabei erst einmal unklar. Vielen Pionier-Journalistinnen und -Journalisten geht es nicht so sehr darum. Sie eint ein kritischer Blick auf etablierte Medienorganisationen und Redaktionen, die sie oft als Innovations-Behinderer wahrnehmen. Gleichzeitig halten Pioniere die journalistischen Werte sehr hoch, in diesem Sinne sind sie also durchaus konservativ.
JOURNAL: Was kennzeichnet die neuen Organisationsformen?
Loosen: Pionier-Journalismus ist oft auf Projekte angelegt und nicht auf Nachhaltig- und Langfristigkeit. Auch Wirtschaftlichkeit ist nicht unbedingt immer ein Gradmesser. Manchmal werden Fördermittel für ein Projekt beantragt, das die Initiatoren gerne machen möchten. Endet die Förderung, endet manchmal auch das Projekt.
Gerade solche befristeten Projekte können der Branche spannende Impulse geben, weil man in ihnen viel ausprobieren kann.
Einzelne Pionier-Projekte entwickeln aber auch nachhaltige Strukturen. Zu nennen sind hier De Correspondent in den Niederlanden oder die Krautreporter in Deutschland. Beide Online-Magazine bestehen bereits einige Jahre und finanzieren sich durch Crowdfunding und Paid Content. Das soll unabhängigen Journalismus ohne Werbung ermöglichen.
JOURNAL: Können sich diese kleinen Start-ups überhaupt finanzieren? Oder beuten sie sich in solchen Strukturen selbst aus?
Loosen: In der Tat arbeiten Pionier-Journalisten oft in prekären Verhältnissen. Einer unserer Befragten sagte: „Selbstausbeutung gehört dazu, dann weiß man, dass man auf dem richtigen Weg ist. Man macht es ja nur, wenn die Idee wirklich gut ist.“ Dahinter steckt mitunter auch eine Form der Romantisierung, die man kritisch im Blick haben muss. Selbstausbeutung ist sicher auf Dauer kein tragfähiges Geschäftsmodell. Dennoch ist Idealismus für viele Pionier-Journalisten ein starker Antrieb.
Manche haben einen Ehepartner, der ihnen ermöglicht, solche experimentellen Formen für ein oder zwei Jahre auszuprobieren. Andere bewerben sich gezielt um eine Projektförderung.
JOURNAL: Welche Förderung gibt es?
Loosen: Media Labs, Inkubatoren und Akzeleratoren fördern auch in Deutschland innovative Medienschaffende. Sie unterstützen Start-up-Projekte in der Regel mit Geld und Mentoring. In Nordrhein-Westfalen fördert zum Beispiel die Stiftung „NRW vor Ort“ der Landesanstalt für Medien Lokaljournalisten-Start-ups. Stiftungen engagieren sich zunehmend im Journalismus und fördern ihn systematisch.
Die Förderer nehmen damit auch maßgeblich Einfluss auf Innovationen im Journalismus. Natürlich muss man sich immer auch fragen, welche Interessen dahinter stehen.
Erfolg zu messen ist im Pionier-Journalismus nicht einfach. Es gibt Projekte wie das Online-Wissenschaftsmagazin Substanz, das inhaltlich sehr gute Resonanz bekommen hat, finanziell aber gefloppt ist. Allerdings sind solche Geschichten vom Scheitern auch interessant, weil man daraus lernen kann.
JOURNAL: Sind die journalistischen Gründerinnen und Gründer denn für das Arbeiten in diesen neuen, kleinen Organisationsformen qualifiziert?
Loosen: Pionier-Journalisten müssen sich viel Wissen über ihr eigentliches Berufsfeld hinaus aneignen und zählen generell zur Elite der Branche. Nicht unbedingt in finanzieller Hinsicht, aber im konzeptionellen Denken.
Grundsätzlich ist im Pionier-Journalismus eine neue Art der Projektierung auszumachen: Ich muss mit meiner Idee Förderer überzeugen, muss mein Projekt pitchen und meine Ideen verkaufen, Businesspläne erstellen, eine eigene Marke aufbauen. Das wirkt sich übrigens bereits jetzt auf die Nachfrage nach entsprechenden Weiterbildungen aus. Hier gibt es viele Überschneidungen zu freien Journalistinnen und Journalisten.
JOURNAL: Gibt es in etablierten Medienhäusern selbst keine Innovationen?
Loosen: Viele Pionier-Journalisten wenden sich eigenen kleinen Projekten zu, weil sie die Strukturen in großen Redaktionen als mühsam, Prozesse als langsam empfinden. Das wiederum bestätigen die Etablierten durchaus auch selbst. Mit einer kleinen Gruppe kann ich ja viel flexibler gestalten. Allerdings arbeiten nahezu alle großen Medienhäuser in Deutschland mit Pionieren zusammen, indem sie sich zum Beispiel an der Finanzierung innovativer Start-ups beteiligen, Pioniere anstellen und selbst interne Innovationseinheiten bilden. Sie erkennen natürlich das Potenzial neuer Entwicklungen.
Grundsätzlich sind Pioniere und etablierte Medienhäuser keine Gegenspieler. Sie können vielmehr voneinander profitieren. Die Großen haben die Reichweite, um Projekte bekannt zu machen. Die Kleinen können schnell agieren und Neues ausprobieren. Denn sie müssen nicht für ein Massenpublikum produzieren, um ihr kleines Unternehmen zu betreiben.
Pionier-Journalisten können die Branche durchaus inspirieren und Trends setzen. Da ist zum Beispiel Jakob Vicari zu nennen mit seinem Projekt „Journalismus der Dinge“. Er spricht vom „Journalismus 4.0“ und wie man Geschichten mit, auf und über vernetzte Gegenstände erzählt. In einem Projekt gemeinsam mit Astrid Csuraji geht es beispielsweise darum, eine Spielzeugfigur gezielt zum Sprechen zu bringen, so dass sie Nachrichten für Kinder erzählt.
JOURNAL: Wie werden Pioniere den Journalismus verändern?
Loosen: Der Einfluss von Pionieren auf den etablierten Journalismus kann sich ganz unterschiedlich entfalten. Schon jetzt können wir zum Beispiel beobachten, dass Entwicklungen, wie der Datenjournalismus, die vor wenigen Jahren noch als absolut neu galten, im Mainstream des Journalismus angekommen sind. Ähnlich ist es mit Formen des konstruktiven Journalismus. Auch sehen wir personelle Wechsel zwischen etablierten Medienorganisationen und Start-ups. Sollten sich neue Organisationsmodelle als gut erweisen, könnten sie in Zukunft möglicherweise häufiger zum Einsatz kommen. Auch die Reflexion über ein anderes Selbstverständnis im Journalismus ist ein indirekter Prozess, durch den Aktivitäten von Pionieren nach und nach vom Rande ins Zentrum des Journalismus rücken.||
Links
Die Internetadressen der erwähnten Projekte:
• www.constructivejournalism.org
• medwatch.de/was-ist-medwatch
• thecorrespondent.com
• krautreporter.de
• www.riffreporter.de/journalismus-der-dinge
Das Gespräch führte Dagmar Thiel.
Ein Beitrag aus JOURNAL 6/18 – dem Medien- und Mitgliedermagazin des DJV-NRW, erschienen im Dezember 2018.