PORTRÄT |

Der einäugige König

Wie ein Journalist mit Sehbehinderung seinen Weg ins Kölner Domradio schaffte
4. Mai 2023, Dr. Martin Wein

Als Redakteur beim Domradio hat Renardo Schlegelmilch aus den USA, aus Ägypten oder dem Kosovo über religiöse Konflikte berichtet. Dabei ist das Leben für den Kölner schon vor der Haustür ein größeres Abenteuer als für andere Menschen. Er sieht nur mit einem Auge – und damit kaum zehn Prozent.

Der Weg in den Journalismus hat sich trotz der physischen Einschränkung früh ergeben. Als 13-Jähriger hat Schlegelmilch seinen Vater zum Offenen Kanal begleitet und erste Radiosendungen produziert. Das Radiomachen wurde zu seiner Leidenschaft. Über ein FH-Studium kam er anschließend nach Köln zum Domradio, wo er volontierte und bis 2020 freiberuflich arbeitete, ehe es mit der Festanstellung klappte.

Renato Schlegelmilch, von dem der Text handelt, steht auf einem Balkon, im Hintergrund ist die Fassade des Kölner Doms zu sehen.
Arbeitsplatz mit Ausblick auf den Kölner Dom: „Ich habe mich immer als Glückspilz gesehen…“, sagt Renardo Schlegelmilch. | Foto: Martin Wein

Plötzlich furchbar viele Einzelheiten

Mit 21 Jahren machte Renardo Schlegelmilch eine erstaunliche Erfahrung. In einer kniffligen Operation wurde ihm eine Sehne aus dem linken Augapfel entfernt. Denn eine seltenen Erbkrankheit drohte das Auge von innen zu zerreißen. Nicht schön. Nach dem gelungenen Eingriff, bei dem auch die Linse durch ein Implantat ersetzt wurde, musste Schlegelmilch wochenlang mit Sonnenbrille durch die Gegend laufen, auch bei bedecktem Himmel. Die Details, die er jetzt an der Fassade des Kölner Doms entdeckte, die Tausende von Figuren, die Lisenen, Fialen und Dachreiter, dieser ganze überbordende Überfluss verursachte ihm Kopfschmerzen. „Ich habe mich verzweifelt gefragt, wie andere Menschen diese furchtbar vielen Einzelheiten ertragen“, sagt Schlegelmilch. Die geordnete Welt war zum Kosmos voller Ablenkung geworden. Und das sollte normal sein?

13 Jahre später schaut Renardo Schlegelmilch gerne auf den Kölner Dom. Sein Lieblingsplatz dafür ist der fünfte Stock des Domforums gegenüber der Domplatte. Durch eine düstere Seitengasse mit Essensresten auf dem Pflaster gelangt man hin, drückt den klein beschrifteten Klingelknopf an einer unscheinbaren Glastür, fährt mit dem Fahrstuhl hinauf und tritt über eine Schwelle in einem großzügigen Besprechungsraum – Vorsicht Stufe – auf einen Balkon mit Panoramablick.

So wuchtig ist die Kathedrale selbst von hier oben aus den Redaktionsräumen des katholischen Domradios, dass man ihre Turmspitzen nur sehen kann, wenn man sich ganz am Rand des Gebäudes über die Brüstung lehnt. „Alle paar Minuten sieht sie anders aus“, sagt Schlegelmilch, während der linke Rand der Fassade gerade zaghaft von ein paar Sonnenstrahlen erleuchtet wird. Im Alltag nimmt der Redakteur sich allerdings selten Zeit für diesen einzigartigen Anblick. Durch das Bürofenster ein Stockwerk tiefer wirkt die riesige Fassade wie eine surreale Fototapete.

Gesehen hat Schlegelmilch im Vergleich zu anderen schon immer schlecht. In seinem Schwerbehindertenausweis steht ein „H“ für „hilflos“. 1988 im ostdeutschen Eisenach geboren, stand früh fest, dass mit seinen Augen etwas nicht stimmte. Das rechte war grotesk nach außen gekippt, das linke sah auch kaum etwas. Die Ärztinnen und Ärzte machten Fotos für ein medizinisches Lehrbuch. Viel mehr fiel ihnen nicht ein. In der Schule bekam Renardo alle paar Monate Besuch von einer Sozialpädagogin, die den Lehrkräften riet, wie sie ihm helfen könnten. „Ich hatte nicht den Eindruck, dass sie viel darauf gaben“, sagt Schlegelmilch. An der Schule glaubte ohnehin kaum jemand, dass der Junge, der immer mit einem schweren Vergrößerungsgerät in der ersten Reihe saß und das Tafelbild nicht erkennen konnte, mal sein Abitur machen würde. Immerhin hat man ihm das erst gesagt, als er das Abschlusszeugnis schon in der Tasche hatte.

Selbstironie gegen Berührungsängste

Traurig war das Ganze trotzdem nicht. „Ich habe mich immer als Glückspilz gesehen, weil ich so viel sehen konnte“, sagt Schlegelmilch heute. Sein Vater war gänzlich blind. „Im Karneval muss ich mir zusammen mit meinem Vater als Verkleidung nur eine Krone aufsetzen, denn unter Blinden ist der Einäugige ja König“, witzelt er. Überhaupt Witze: Selbstironie helfe bei schlechter Sicht viel besser vor Berührungsängsten als politisch korrekte Gleichmacherei, findet Schlegelmilch.

Seine Behinderung hat er selbst stets nur als Unannehmlichkeit betrachtet. Die zwingt zu manchem Extra-Weg, wenn er Schilder nicht richtig gelesen oder Zeichen falsch gedeutet hat. Sein Ziel habe er trotzdem immer gefunden. Er sagt: „Es ist nicht Aufgabe der Gesellschaft, fair zu mir zu sein“. Eine andere Einstellung halte er für egozentrisch.

Schlecht zu sehen hat aus Schlegelmilchs Warte sogar Vorteile. Schon in der Schule hat er gelernt, sich Wissen akustisch anzueignen. Während andere Kinder Blödsinn machten und erst am Ende der Stunde die Notizen von der Tafel abschrieben, hörte er zu. Auf Pressekonferenzen verzichtet Schlegelmilch auch heute noch auf Notizen, die er hinterher doch nicht entziffern könnte. „Ich merke mir alles Wesentliche. Zitate habe ich dann ja auf Band“, sagt er.

Renardo Schlegelmilch, von dem der Text handelt, sitzt im Hröfunkstudio.
Schon seit Kindertagen ist Radiomachen seine große Leidenschaft: Renardo Schlegelmilch vom Kölner Domradio. | Foto: Martin Wein

Beweisen, dass die Mühe lohnt

Der Einstieg in den Journalismus war steinig. „Andere werden im Praktikum einfach mal vors Mikrofon gesetzt und können sich ausprobieren. Ich musste vorher beweisen, dass sich die Mühe mit mir auch lohnt“, erinnert er sich. Die Spezialsoftware zur Bildschirmvergrößerung musste er als Praktikant und Freier selbst kaufen und konnte froh sein, dass ihm ein fester Arbeitsplatz zugewiesen wurde, an dem er den PC konfigurieren konnte. Auch im Selbstfahrer-Studio musste er sich behelfen. „Ich konnte nie erkennen, welche Taste ich drücken musste, um die Musik abzuspielen“, sagt Schlegelmilch. So druckte er alle Manuskripte in Schriftgröße 24 Punkt aus und malte von Hand ein großes A oder B für die beiden Abspieltasten an die richtige Stelle.

Erst während der Pandemie wurde Schlegelmilch Redakteur, zunächst mit einem Zeitvertrag. Ein langer Lauf, der mehr Anstrengung erforderte? „Du musst definitiv mehr leisten, um dasselbe zu erreichen“, sagt Schlegelmilch. Schwerbehinderte sind unter Journalistinnen und Journalisten kaum zu finden. Deswegen ist unter Kolleginnen und Kollegen auch das Verständnis für deren spezielle Bedürfnisse oft unterentwickelt. Wo genau die Defizite beispielsweise bei Sehbehinderungen liegen, können sich Normalsichtige schlicht kaum vorstellen.

Allein unterwegs in aller Welt

Bei begrenzter optischer Ablenkung hat Schlegelmilch sich aufs Zuhören spezialisiert – und thematisch auf religiöse Konflikte. In dieser Nische konnte er seine Themen schnell auch großen Medien anbieten. Recherchen führten ihn nach der Wahl Donald Trumps allein durch die USA, in den Kosovo oder zu koptischen Christen nach Ägypten. Ein paar Mal im Jahr ist er für Radio Vatikan in Rom. Jede Reise betrachtet Schlegelmilch als persönliche Herausforderung. Beim letzten Besuch in der Ewigen Stadt wollte er für ein Interview nach Assisi fahren und hat diesen Termin wegen der Anreise mit Umstiegen per Bahn und Bus dann  doch abgesagt.

Dabei hat moderne Technik Menschen mit Sehbehinderung in den letzten Jahren ganz nebenbei das Leben erheblich erleichtert. „Die meisten Fotos auf meinem Smartphone sind Speisekarten“, erzählt der 33-Jährige lachend. Von Texten, die er nicht lesen kann, macht er ein Foto und vergrößert es auf dem Bildschirm. Das sei eindeutig besser, als sich etwas empfehlen zu lassen. Wenn es im Bus keine akustischen Ansagen gibt, verfolgt er die Fahrtroute bei Google Maps. Und mit seinem E-Reader, der die Schrift wie in einer Großdruckausgabe anzeigt, liest Schlegelmilch neuerdings ein ganzes Buch pro Woche, denn er hat riesigen Nachholbedarf: „Es ist wahnsinnig angenehm, endlich etwas ohne Lupe lesen zu können“.

Auch für andere Herausforderungen im Alltag hat der Journalist Strategien entwickelt. So ruft er beim Betreten der Redaktionsräume laut „Hallo“, um die Anwesenden an ihren Stimmen zu erkennen. Nicht immer geht das gut. „Manche Leute lerne ich immer wieder neu kennen“, sagt er lachend.

Einschüchternde Erfahrung

Aber es gibt auch unschöne Momente, die sich ins Gedächtnis eingraben. Dazu gehört ein Bewerbungsgespräch bei einem öffentlich-rechtlichen Sender im Westen: Damals saßen dem verschüchterten Bewerber neben den Verantwortlichen plötzlich fünf Menschen gegenüber – aus dem Betriebsrat, der Gleichstellungsstelle und anderen Abteilungen. Und er wurde das Gefühl nicht los, dass sie da saßen, um zu erforschen, warum ein Behinderter doch besser nicht eingestellt wird.

Und dann ist da die diffuse Angst, der nächste Arztbesuch könnte neue Hiobsbotschaften bringen. Seit der OP vor 15 Jahren hatte sich Schlegelmilch mit seinen Augen arrangiert. Das eine schlummert verkümmert und optisch nicht störend hinter einem Glasauge. Das andere aber hat mit künstlicher Linse neue Kraft und eine Sehkraft von etwa 10 Prozent gewonnen. Bis im vergangenen Herbst starke Lichtempfindlichkeit und Schmerzen auftraten. Ein hoher Augendruck zwang zu einer schnellen Therapie. Niemand hatte Schlegelmilch darauf hingewiesen, dass eine regelmäßige, sorgfältige Druckmessung in seinem Fall geboten ist. Mit Augentropfen und einer Laser-Operation ließ sich die Situation stabilisieren. Weitere Komplikationen sind allerdings nicht ausgeschlossen.

Weil sich niemand für eine zuverlässige Verlaufskontrolle zuständig fühlt, wird Renardo Schlegelmilch sich selbst darum kümmern. Auch in diesem Fall muss er sich vermutlich doppelt anstrengen, um das gleiche zu erreichen wie andere. Und sei es nur, eine pannenfreie Radiosendung zu fahren und den Blick auf den Kölner Dom zu genießen.||

Ein Beitrag aus JOURNAL 1/23, dem Medien- und Mitgliedermagazin des DJV-NRW, erschienen im April 2023.