Facetten des Berufs

Erfolgreiche One-Woman-Show

13. April 2022, Andrea Hansen
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Foto: Elisa Dietzold

Das JOURNAL erreicht Nalan Sipar im Coworking-Space in Berlin, die Hauptstadt ist seit ein paar Jahren ihr Standort. Dort fühlt sie sich richtig wohl. Ihre erste deutsche Heimat Bielefeld hatte mit ihrem vorherigen Wohnort Istanbul nicht so viel gemein. Nalan Sipars Energie ist selbst im Zoom-Call ansteckend, und man kann sich gut vorstellen, dass alles unter Metropole schnell ein wenig eng für sie wird.

JOURNAL: Von Istanbul nach Bielefeld klingt erstmal nicht nach einer Entwicklung. Trotzdem war es wohl der erste Schritt in Richtung Journalismus. Denn am Gymnasium am Waldhof hast du dein erstes Interview geführt, richtig?

Nalan Sipar: Unsere Schulleiterin Frau Leutheußer-de Vries ist die große Schwester der ehemaligen FDP-Justizministerin Leutheußer-Schnarrenberger. Die kam zu Besuch an unsere Schule, und die Direktorin fragte, wer sie interviewen würde. Es hat sich niemand gemeldet. Nur ich, die gerade drei, vier Jahre in Deutschland lebte. Wenn ich zurückblicke, wundere ich mich total darüber, dass ich den Mut hatte. Denn bestärkt hat mich eigentlich wenig: Meine Deutschlehrerin hat mir immer nur gesagt, dass ich sehr schlecht Deutsch könnte und es nicht reichen würde für den Journalismus.

Zum Glück habe ich dann von einem Wettbewerb des türkischen Programms beim WDR erfahren. Da habe ich mich dann beworben mit einem Beitrag darüber, wie schlecht Deutsch-Türken Türkisch sprechen. Ich habe das Ganze lustig aufgezogen, sie türkische Redewendungen zu Ende bringen lassen, was in 90 Prozent der Fälle schief lief und so auf die Bedeutung der Bilingualität und der Muttersprache aufmerksam gemacht.

JOURNAL: Wie ist die Sache ausgegangen?

Sipar: Ich habe den ersten Preis gewonnen! So habe ich angefangen, beim WDR als Freie zu arbeiten und eins kam zum anderen: Ich wurde angefragt für ein Casting für WDR 5, für die erste deutsch-türkische Kindersendung, die ich fast zwei Jahre lang mit moderiert habe und die 2014 den Deutschen Radiopreis in der Kategorie „Beste Innovation“ gewonnen hat. Kurz darauf wurde sie eingestellt.

JOURNAL: Oh.

Sipar: Ja.

Nalan Sipar

Nalan Sipar (*1984) wollte schon immer Journalistin werden. Bereits in ihrem Abi-Steckbrief steht bei Berufswunsch „Nachrichtensprecherin“. Damals dachte sie noch, ihr Deutsch würde dafür niemals reichen.
Die gebürtige Kurdin kam erst mit knapp 16 Jahren von Istanbul nach Bielefeld. Sie lernte die Sprache, machte Abitur und studierte Politikwissenschaft an der Uni Duisburg-Essen. Ihr Vater war in der Türkei Lehrer, und sie ist mit einem kritischen Blick auf die Welt aufgewachsen: Sei es, wie Medien in der Türkei über Kurden berichten, wie deutsche Sozialbehörden mit geflüchteten Menschen umgehen oder dass viele hierzulande meinen, türkischstämmige Mädels bräuchten kein Abi, weil sie eh früh heiraten. Ungerechtigkeiten und Vorurteile einfach hinnehmen ist nicht ihre Sache.

Der erste logische Schritt ist für sie, darüber zu reden oder noch besser zu berichten. Sie machte ein Volontariat bei der Deutschen Welle, erhielt Auszeichnungen und Stipendien und arbeitete als freie Journalistin. Anfang 2021 ließ sich das klassische Freien-Dasein mit ihrer Idee eines deutsch-türkischen Community-Journalismus nicht mehr vereinbaren. Seitdem setzt sie als journalistische Gründerin unter anderem mithilfe des media lab Bayern alles daran, ihre Vision Wirklichkeit werden zu lassen: Mit Nalan Sipar Media Inhalte zu produzieren, die sie selbst in der Medienlandschaft vermisst, und um vielleicht so etwas wie die kurdisch-türkisch-deutsche Oprah Winfrey zu werden. Aus ihrem Mund klingt das gar nicht größenwahnsinnig, sondern irgendwie machbar./AH

JOURNAL: Du hast dann bei der Deutschen Welle volontiert, insgesamt also trotz deines ungewöhnlichen Lebenslaufs einen klassischen Weg in den Journalismus genommen. Heute bist du aber nicht Redakteurin, sondern journalistische Entrepreneurin. Wie kam es dazu?

Sipar: Daran ist Corona schuld. Zu Beginn der Pandemie haben mich viele Fragen von Menschen erreicht, die mich als Reporterin kannten. die haben mich bombardiert, zum Beispiel mit der Frage, ob es stimmt, dass türkische Gene immun machten, das würde so in türkischen Medien diskutiert. Ich konnte das erst gar nicht glauben, hab’s recherchiert, und das stand da tatsächlich! Mich haben so viele Fragen erreicht, dass ich an meine Grenzen kam. Am 12. März 2020 habe ich dann einen Tweet geschrieben: „Liebe Bundesregierung, Sie müssen Informationen in unterschiedlichen Sprachen zur Verfügung stellen, weil die Desinformation in den migrantischen Communitys sehr stark ist!“ Dieser Tweet ging viral. Am nächsten Tag stand ich vor der Kamera und habe meinen ersten türkischen Corona-Aufsager gemacht: „Leute, bitte keine Fake News verbreiten. Ich bin Journalistin. Zuverlässige Quellen sind das Robert-Koch-Institut, die Bundesregierung und die Johns-Hopkins-Universität!“ Dieses Video wurde 250 000-mal geklickt. So hat es angefangen.

JOURNAL: Aus anfangs 300 Abonnenten deines Kanals wurden so schnell 24.000. Wie erklärst du dir diesen Erfolg mit klassischen Infos?

Sipar: Ich habe nur Fakten geliefert, reine Information, keine Meinung, keine Beurteilung. Ich bin keine Expertin. Ich kann nur weitersagen, was Experten denken. Ich habe zuerst die größten Fake News widerlegt. Aber ich habe keine Ratschläge verteilt. Ich glaube, diese Haltung hat den Menschen das Gefühl gegeben: Diese Frau will uns nichts verkaufen. Ich habe viele Kommentare bekommen, die wirklich süß sind, die Leute haben mir geschrieben: „Du bist wie die Tochter vom Nachbarn nebenan, die zu uns ins Wohnzimmer kommt und die Nachrichten erzählt.“ Die Jüngeren nennen mich Abla, was in etwa große Schwester heißt.

Dieses Vertrauen ist die größte Währung, die man als Journalist oder Journalistin haben kann: zu sehen, welche Wirkung deine Arbeit auf Menschenleben hat. Es ist eine sehr krasse Verantwortung. Ich musste mich damit erst zurechtfinden, denn ich habe das ja alles allein gestemmt – keine größere Struktur, kein Vier-Augen-Prinzip durch Kollegen an meiner Seite.

JOURNAL: In den ersten 100 Tagen der Pandemie waren 86 Videos auf deinem Kanal. Täglich gesundheitliche Aufklärung als One-Woman-Show, du hast dich ja selbst mal die „türkische Tagesschau“ genannt. War das für dich okay, dass dieser Job an dir hängen geblieben ist?

Sipar: Nein, natürlich fand ich das nicht in Ordnung. Ich verstehe bis heute nicht, warum nicht die wichtigsten Informationen untertitelt zur Verfügung gestellt wurden. Ich hätte mir gewünscht, dass die Öffentlich-Rechtlichen das selbst gemacht hätten. Es wäre auch nicht teuer gewesen, die wichtigsten Infos in den häufigsten Sprachen wie meinetwegen Türkisch, Arabisch und Russisch zu untertiteln. Auch wenn es bis zum nächsten Tag gedauert hätte, es online zu stellen. Es hätte vielen Menschen geholfen. Die zahlen ja auch alle ihren Rundfunkbeitrag.

Es gibt in dieser Medienlandschaft kaum Angebote für uns. Es ist so, als würden wir in einen Supermarkt gehen und uns die ganzen schönen Produkte angucken. Dann kommen wir zur Kasse und zahlen 55 Euro, ohne irgendetwas in der Tasche zu haben. Ich finde das ungerecht.

JOURNAL: Du hast damals noch in Schichten bei der Deutschen Welle als Freie gearbeitet und dann nach Schichtende deine Videos aufgenommen. Was hat dich motiviert, diese Doppelbelastung durchzuhalten?

Sipar: Das positive Feedback der Menschen. Unter meinen Videos findet man kaum Dislikes oder negative Kommentare. Ich glaube, die Leute wissen es zu schätzen, dass ich alles gegeben habe, um sie mit Informationen zu versorgen. Es gibt für mich nichts Erfüllenderes als dieses positive Feedback. Ich habe eine Frau in Neukölln auf der Straße getroffen, sie hat mich sogar mit Maske erkannt und meinte: „Ey, du bist doch YouTube, oder?“ Sie sagte, dass sie sich immer vor dem Schlafengehen meine Videos anguckt, weil sie sie so beruhigen würden. Informationen waren so wichtig in dieser Zeit, Menschen wollten einen Durchblick haben. Es herrschte Chaos, da braucht man Orientierung. Und wenn das in deiner Muttersprache passiert, beruhigt dich das nochmals anders. Das hat gar nichts damit zu tun, ob du die Sprache kannst: Ich habe eine deutsche Kollegin, die lebt in Frankreich. Die kann perfekt Französisch, aber sie informiert sich über die Tagesschau. Natürlich ist es etwas anderes, Informationen in deiner Muttersprache zu bekommen. Du empfängst die Informationen einfach anders.

JOURNAL: Ist es denn nur die Sprache?

Sipar: Nein,  es ist auch eine kulturelle Sache. Ich kenne die kulturelle DNA meiner Leute. Ich habe die Ängste, die mir die Menschen in den Kommentaren geschildert haben, angesprochen. Ich habe in jedem Video gesagt: „Ich weiß, euch geht es schlecht. Mir geht es nicht anders. Es ist eine komische Situation, aber das Beste, was uns helfen kann, sind Informationen. Gibt es Informationen, gibt es kein Chaos und keine Panik.“

JOURNAL: Nach fast zehn Jahren als feste Freie bei der Deutschen Welle hast du jetzt alles auf eine Karte gesetzt. Journalistisches Entrepreneurship und feste-freie Mitarbeit ließen sich nicht mehr vereinbaren.

Sipar: Zum 1. Januar 2021 war ich zunächst arbeitslos. Das war schrecklich. Es war psychisch eine krasse Belastung, weil man als migrantisches Kind sowieso immer das Gefühl hat, alle gucken auf dich. Da kamen die schlechten Erfahrungen, die mein Vater als Arbeitsloser machen musste, wieder hoch. Ich habe ihn immer bei den Gesprächen im Jobcenter begleitet und übersetzt. Das war so herabwürdigend, dass ich damals gesagt habe: Ich will niemals arbeitslos werden.

Das war schon hart. Ich habe mir einfach gedacht, ich mache jetzt einfach weiter mit meinen Videos, und das ist das, woran ich glaube. Ich wollte die Menschen nicht im Stich lassen. Auf jeden Fall waren es sehr schwierige Monate, auch wegen der Pandemie. Da hatte ich dieselben Probleme in dieser Situation wie alle anderen. Darum habe ich mich um eine Förderung beworben und werde vom Media Lab Bayern gefördert. Die helfen mir jetzt dabei, aus meiner Idee ein Geschäftsmodell zu machen.

Ich glaube an das Recht dieser Menschen, Zugang zu Informationen zu bekommen. Das steht in unserem Grundgesetz, Artikel fünf: „Jeder hat das Recht, sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten“. Es kann nicht sein, dass die Sprache ein Hindernis für diese Menschen darstellt. Es ist die Aufgabe des Staates, der Bundesregierung, der Öffentlich-Rechtlichen, diese Informationen bereit zu stellen, und sie machen es nicht. Ich bin nicht der Typ, der gerne jammert, sondern ich bin diejenige, die dann die Ärmel hoch krempelt und sagt: „Wir machen das jetzt!“ .

JOURNAL: War die Entscheidung zur Selbstständigkeit für dich ein leichter Schritt?

Sipar: Nein, um Himmels Willen, alles andere als das! Ich hatte immer das Gefühl, Menschen, die mit Geld zu tun haben, sind auf der Dark Side. Als Journalistin trennt man das ja gern fein säuberlich – die einen kümmern sich ums Geld und wir um den Inhalt. Aber im Moment investiere ich 70 Prozent meiner Zeit in dieses Geschäftsmodell. Die Öffentlich-Rechtlichen machen immer wieder mal kleine Formate – Feigenblätter, nach dem Motto: Da ist die Diversität, wir haben da auch ein kleines Format für die migrantischen Communitys. Die werden aber oft schnell wieder abgesägt. Eigentlich ist es nicht meine Aufgabe als einzelne Journalistin. Aber ich habe sie jetzt übernommen, weil es sonst keiner gemacht hat.

JOURNAL: Es gibt ja diese Idee, dass Nischen die Integration behindern. So wurde Integration zur Querschnittsaufgabe des gesamten Angebots. Was glaubst du, was es brauchen würde, damit die Medien, die es gibt, besser ankommen?

Sipar: Es geht darum, überhaupt anzukommen in der migrantischen Community. Wer kennt da das WDR-Magazin Monitor? Geile Analysen, ja, richtig gute Produktion. Aber wer kennt das? Wer kennt es außer ein paar Akademikern in der dritten Generation, die perfekt Deutsch können? Alle anderen bekommen davon nichts mit. Für die ist Journalismus das, was sie aus der Türkei kennen.

JOURNAL: So weit die Analyse… Und wie würdest du das ändern?

Sipar: Wenn ich mir angucke, wie viele Kolleginnen und Kollegen Beschäftigungstherapie machen, indem sie von einer Sitzung zur nächsten laufen, und die freien Journalistinnen und Journalisten, die auf der Straße unterwegs sind, bekommen kaum Geld – da läuft doch massiv was schief. Das ist ja ein generelles Problem, wie die Gelder verteilt werden. Aber um auf die Frage der migrantischen Communitys zurückzukommen: Es braucht erstmal den festen Willen, und dann müssten sie auch in die Tasche greifen und weniger auf Klickzahlen schielen. Die Frage ist, an welchen Inhalten man spart. Und man müsste Strukturen verschlanken – ich sehe doch, mit welchen geringen Mitteln ich Menschen erreichen kann.

Es geht darum, unsere Geschichten nicht mehr durch die deutsche Brille zu erzählen. Ich habe eine WhatsApp-Gruppe für meine Community. Da stellen mir die Leute konkrete Fragen, die ich dann für sie beantworte. So müsste eine Redaktion aufgebaut sein. Ich erwarte nicht von Redaktionen, die schichtweise besetzt sind, dass sie eine enge Beziehung zur ihrer Community aufbauen – das können die gar nicht. Aber es muss in einem großen Sender diese Sichtweise geben: Die Community tickt anders, und wir müssen mit Menschen arbeiten, die ähnlich ticken oder die zumindest verstehen, wie sie ticken.

JOURNAL: Muss ich dazu selbst Migrantin sein?

Sipar: Nein, das sind nicht nur Deutschtürken, das sind auch deutsche Journalisten, mit gutem Bezug zu migrantischen Communities. Das Wichtigste ist, dass die Medienhäuser es ernst meinen. Sie müssen Strukturen schaffen und diesen Redaktionen auch die Zeit geben, damit sie sich ausprobieren können. Aber oft werden solche Formate übernommen, weil sie auf YouTube erfolgreich sind, und dann nach wenigen Monaten wieder eingestellt.

JOURNAL: Formate müssen genug Publikum finden – das Schicksal teilen viele Sendungen…

Sipar: Ja, aber was übersehen wird, ist die Vorbildfunktion. Deutschmigranten sehen so eine Sendung und denken: „Krass, die ist wie ich und hat es geschafft, aber dann wurde sie abgesägt – wir haben einfach keine Chance, da rein zu kommen.“ Genau das stört mich vielleicht am allermeisten. Ich bin meine größte Kritikerin, das ist meine Psyche, dass ich denke: „Ich bin doch nicht gut genug.“ Es kostet so viel Energie und Aufwand, dagegen anzukämpfen. Ich verstehe nicht, wie die Kolleginnen und Kollegen in den Medienhäusern nicht verstehen, wie viel Potenzial da verloren geht, wie viele Menschen sich dadurch abwenden.

JOURNAL: Bei Corona hast du intensiv betont, nur Fakten nicht Meinung, geliefert zu haben. Wie schaffst du das bei diesem Thema? Wie schmal ist der Grat zwischen Journalistin und Aktivistin bei Dingen, die dich selbst auch emotional machen?

Sipar: Sehr schmal, weshalb ich mich aus diesen Themen raushalte, was mir in der Seele weh tut. Aber Themen wie Rassismus behandele ich nur, ich kommentiere sie nicht. Auch nicht bei Twitter.

JOURNAL: Kommen wir mal zu deiner Vision für Medienangebote für Deutschmigranten: Welche Nische willst du besetzen?

Sipar: Ich will über problematische Strukturen positiv reden können. Ich möchte Menschen Informationen unterhaltsam aufbereiten. Ich möchte Infotainment machen, weil klassische Informationen sehr viele Menschen überfordern.

Studien zeigen: Je mehr sich Menschen überfordert fühlen, desto stärker wenden sie sich von Nachrichten ab. Deswegen versuche ich, neutral und positiv zu bleiben. Es geht nie darum, zu sagen: „die Deutschen“ – und wir schön in der Opferrolle. Ich will nicht spalten. Spaltung bringt uns nichts. Ich sehe es in der Türkei. Man hört einander nicht mehr zu. Ich will solche Zustände nicht in Deutschland.

Wir können Probleme nur gemeinsam aus der Welt schaffen. Deswegen müssen wir zusammenhalten. Ich will, dass wir übereinander und miteinander lachen können. Lasst uns ansprechen, was problematisch ist. Lasst uns aber auch immer wieder sagen: Ich mag dich, wir kriegen das zusammen hin. Anders geht es nicht.

JOURNAL: Wie war es, Olaf Scholz im Wohnzimmer zu haben?

Sipar: Sein Team war das erste, das sich zurückgemeldet hat. Vielleicht war es ein Zufall, aber seine Referentin hatte einen arabisch klingenden Namen. Das BKA hat gefragt, ob sie meine Wohnung mit Polizeihunden durchsuchen dürfen. Das war schon alles ein bisschen skurril. Ich meine, ich bin Journalistin, und er ist Minister und Kanzlerkandidat. Da kann ich ihm ja schlecht Cay und Baklava hinstellen. Es war mir peinlich, so einen Finanzminister und Kanzlerkandidaten ins Wohnzimmer einladen zu müssen, weil ich einfach nicht das Geld für ein Studio hatte. Stattdessen hatte ich eine Baustelle vor der Tür, wo ich die Leute bitten musste, eine Stunde aufzuhören. Olaf Scholz hat sich mein Bücherregal angeguckt und zwar ziemlich lange. Er sagte, das ist eine sehr interessante Auswahl, und für ihn wäre es auch eine ganz spannende Erfahrung, weil er sonst nie in der Wohnung einer Journalistin sei.

Später haben alle gesagt: Wie, der war bei Dir – das ist ja unheimlich. Damals haben wenige mit seinem Wahlsieg gerechnet, und ich habe gesagt: Leute stellt euch mal vor, er wird wirklich Kanzler! Das Lustige ist, dass auch noch Cem Özdemir von den Grünen da war, weil Frau Baerbock keine Zeit hatte. Laschet hat nicht mal geantwortet…

JOURNAL: Okay, Kanzlermacherin bist du schon – was kommt jetzt noch?

Sipar: Also meine Vision ist es tatsächlich, eine Art deutschtürkische Oprah zu werden. Oprah war die erste afro-amerikanische Frau, die ihren eigenen Fernsehsender gegründet hat. Mein Traum wäre es tatsächlich, so eine Art deutsch-türkisches ARTE auf Youtube zu etablieren, mit richtig gut recherchierten, digital erzählten Geschichten. Wer würde sich nicht für eine Geschichte einer Frau hier in Kreuzberg interessieren? Kreuzberg ist der Stadtteil, wo es am Wochenende abgeht, überall Drogenabhängige, die Partyszene. Und da muss man nur nach oben blicken, in die Häuser. Da gucken Frauen mit Kopftüchern runter. Ich würde so gerne wissen, wie es sich anfühlt, in so einer Wohnung fünfmal am Tag zu beten, und unten geht die Party ab. Solche Inhalte würde ich gerne auf meinem Kanal sehen.

Im nächsten Jahr sind in der Türkei wieder Wahlen. Das werden wir auch hier in Deutschland mitbekommen. Das möchte ich covern für die deutsch-türkische Community. Objektiv sein, denn das kennen sie nicht. Sie kennen nur: entweder gehört man zu der einen oder zu der anderen Seite. Das ist das deutsche Handwerk, das ich gelernt habe. Ich will, dass meine Community das auch sieht. Ich will, dass die Leute einen Zugang zu guten Informationen haben, mit Themen, die sie angehen. Zum Beispiel: Wie können trotz Corona noch islamische Bestattungen stattfinden? Ich beantworte die Fragen, die die Community sich stellt. Das Modell muss sich auch tragen, daran arbeite ich gerade. Ich habe demnächst Werbeeinnahmen. Es gibt Unternehmen, die mit mir kooperieren wollen.

Einige meiner Inhalte werden von öffentlichen Stellen wie der Berliner Landeszentrale für politische Bildung gefördert. Und wenn das läuft, möchte ich angehenden Journalisten mit Migrationshintergrund sagen: Ich weiß, dass deine Eltern nicht so viel Geld haben, damit du zehn unbezahlte Praktika bei den Sendern machen kannst. Mein Sender soll die erste Anlaufstelle sein, damit sie bei uns ihr erstes Praktikum machen können, damit sie wissen: Mit ihren Sprachkompetenzen sind sie bei uns bestens aufgehoben. Das ist für sie keine Hürde, sondern das ist ein Pluspunkt. Wir akzeptieren und wir wertschätzen, dass Menschen mit zwei Sprachen aufwachsen. Wir wollen diese Menschen haben, und das sind oft Menschen, die sehr schnell sind, sehr kreativ sind, für Probleme, schnell Lösungen finden. Ich will die erste Anlaufstelle für deutsch-türkischen Content, für Begegnung und Journalismus werden. Das ist meine Vision, aus Verantwortung für die Community, im Sinne der ganzen Gesellschaft.

JOURNAL: Wenn jetzt ein Sender käme und dir ein Angebot für eine Moderation machen würde, würdest du schwach werden?

Sipar: Wir agieren als Produktionsfirma. Wir können gern Content liefern. Aber ich gebe meine Vision, die damit verbunden ist, nicht auf. Dafür hat es bis jetzt schon zu viel Kraft und Nerven gekostet.

JOURNAL: À propos Kraft und Nerven – du bist ja auch in den sozialen Medien aktiv, wo immer mehr Interessen sich immer stärker in ihrem Blickwinkel einigeln und nicht mehr für Verständigung und Verständnis stehen. Ist es da noch auszuhalten?

Sipar: Es ist eine Frage des Willens. Darum geht es. Meine Aufgabe ist es, zuzuhören. Ich muss nicht jedes Mal kommentieren. Ich muss einfach nur zuhören und versuchen, zu verstehen. Das gilt in menschlichen Beziehungen doch genauso. Wenn du mit einer Person spricht und denkst „okay, das kommt bei ihr überhaupt nicht an, es ist, als würde ich gegen die Wand sprechen“, macht es dich wütend. Aber wenn du merkst, die andere Seite hört zu, spricht mit dir und will dich wirklich verstehen, bekommst du eine ganz andere Kommunikation. Und das ist doch unsere Aufgabe als Journalisten oder nicht?||

Ein Beitrag aus JOURNAL 1/22, dem Medien- und Mitgliedermagazin des DJV-NRW, erschienen im April 2022.