Als Beobachtende, nicht als Aktivisten begleiten Journalistinnen und Journalisten Demos, Proteste und Aktionen wie hier Ende Mai am Steinkohlekraftwerk Datteln 4. | Foto: Björn Kietzmann
Als Beobachtende, nicht als Aktivisten begleiten Journalistinnen und Journalisten Demos, Proteste und Aktionen wie hier Ende Mai am Steinkohlekraftwerk Datteln 4. | Foto: Björn Kietzmann
 
THEMA | Demo-Berichterstattung

Im Spannungsfeld

Demonstrationen gut vorbereitet und reflektiert begleiten
15. Februar 2021, Marie Illner

Querdenker in Düsseldorf, Fridays for Future in Aachen, Bündnis gegen Rechts in Dortmund – die Demonstrationen in NRW und ihre Themen sind zahlreich und vielfältig. Für Journalistinnen und Journalisten sind sie in vielerlei Hinsicht eine Herausforderung. Je nach Einzelfall können sie vor Ort von den Demonstrierenden als Feinde wahrgenommen werden – oder von den Polizeieinsatzkräften als Aktivistinnen und Aktivisten. Aber auch nach dem Einsatz stellt sich die Frage, welche Rolle Journalistinnen und Journalisten spielen und welches Selbstverständnis sie haben.

Ein beispielhafter Blick auf den konkreten Einzelfall: Wir schreiben den frühen Morgen des 2. Februar 2020. In der Nähe des Dortmund-Ems-Kanals versammelt sich eine größere Gruppe Menschen. Die rund 100 Personen haben ein Ziel: sich Zutritt zum Betriebsgelände des Steinkohlekraftwerks Datteln 4 zu verschaffen, um gegen dessen Inbetriebnahme durch den Energiekonzern Uniper zu protestieren.

Unter den Personen befinden sich auch sechs Journalistinnen und Journalisten. Eine Pressevertreterin berichtet mittels Videostream live direkt vom Betriebsgelände. Bei den Kolleginnen und Kollegen außerhalb des Geländes sorgt das für Unmut: Sie beschweren sich bei Polizeikräften darüber, dass sich die auf dem Gelände befindlichen Journalistinnen und Journalisten Vorteile in Bezug auf Bildperspektiven und Zitate verschafft hätten (siehe auch Teil 2 der Titelgeschichte: Wer darf eigentlich was?).

Wir spulen mehrere Stunden vor: Die Polizei hat die Aktivistinnen und Aktivisten des Geländes verwiesen, der Kraftwerksbetreiber hat Strafantrag gegen alle „Störer“ gestellt. Polizei und Staatsanwaltschaft verfolgen die Vorgänge im Anschluss. Tatbestand: Hausfriedensbruch. Dieser Vorwurf betrifft auch die beteiligten Journalistinnen und Journalisten. Das Amtsgericht Recklinghausen stellte die Vorgänge später überwiegend gegen Zahlung einer Geldauflage ein.

Der Fall wirft Fragen auf: Haben die Journalistinnen und Journalisten die Pressefreiheit missbraucht? Macht es sie selbst zu Aktivisten, wenn sie Aktivistinnen und Aktivisten zum Beispiel in einen Tagebau begleiten, um das Geschehen vor Ort zu beobachten? Oder müssen Journalistinnen und Journalisten im Zweifel Hausfriedensbruch begehen, um ihrer Aufgabe einer umfassenden Berichterstattung nachzukommen (siehe dazu auch „Wer darf eigentlich was?“)? Allgemeiner lautet die Frage: Welche Rolle spielen Medienschaffende bei (Groß-)Demonstrationen?

Identifizieren, erklären, analysieren

„Wenn ich zur Berichterstattung als Journalist vor Ort bin, dann ist es nicht meine Rolle, zu protestieren. Man kann sich zwar darüber streiten, wie objektiv Berichterstattung generell sein kann, weil Menschen soziale Wesen sind, aber dennoch sehe ich die journalistische Aufgabe auf Demonstrationen im Identifizieren, Kontextualisieren, Erklären und Analysieren“, sagt Dennis Pesch im Gespräch mit dem JOURNAL. Der Duisburger arbeitet als freier Journalist für die linke Tageszeitung Neues Deutschland und ist in NRW häufig auf Demonstrationen unterwegs – zuletzt etwa auf einer Querdenker-Demo in Düsseldorf.

Wer demonstriert am 20. September 2020 in Düsseldorf mit wem? Schilder wie „Friedensvertrag jetzt“ weisen darauf hin, dass auch Reichsbürger unter den Corona-Leugnerinnen und -Leugnern sind. | Foto: Caro / Oberhaeuser / FOTOFINDER.COM
Wer demonstriert am 20. September 2020 in Düsseldorf mit wem? Schilder wie „Friedensvertrag jetzt“ weisen darauf hin, dass auch Reichsbürger unter den Corona-Leugnerinnen und -Leugnern sind. | Foto: Caro / Oberhaeuser / FOTOFINDER.COM

Identifizieren, das heißt zum Beispiel: Wer demonstriert, wer organisiert? Wer hat sich mit wem vernetzt? Kontextualisieren, das meint: Was ist der Anlass für die Demo? Aus welchen Kontexten stammen die Symbole, die hier gezeigt werden? Erklären, das kann bedeuten: Was passiert vor Ort? Was fordern die Demonstrantinnen und Demonstranten? Und analysieren lässt sich: Was wird gesprochen und erzählt? Welche Narrative bedienen die Demonstrierenden?

Vorannahmen transparent machen

Wie Dennis Pesch hält Medienwissenschaftlerin Dr. Theresa Züger vom Humboldt Institut für Internet und Gesellschaft die Abgrenzung zum Aktivismus für wichtig – auch, wenn Journalistinnen und Journalisten im Job Profi und Bürger zugleich seien. „Auf einer Demonstration können sie als Profi aber nicht mit Transparenten durch die Gegend ziehen“, stellt sie klar. Die Aufgabe laute vielmehr: „Der Gesellschaft in ihrer Selbstkommunikation – wozu Großdemonstrationen zählen – den Spiegel vorhalten. Was also wird von wem kommuniziert und gefordert?“, erläutert die Medienwissenschaftlerin.

Medienschaffende müssten sich als Repräsentantinnen und Repräsentanten der vierten demokratischen Gewalt verstehen. „Einordnungen und Äußerungen gegen rechts sind in der journalistischen Arbeit deshalb nicht aktivistisch“, findet Züger. Auch dort, wo sich Journalistinnen und Journalisten auf gesicherte Fakten und den Stand der Wissenschaft beziehen könnten, handele es sich nicht um Aktivismus.

Damit die Abgrenzung gelingt, hält die Wissenschaftlerin es aber für entscheidend, die eigenen Vorannahmen und Einschränkungen so transparent wie möglich zu machen. Also: War ich vor Ort? Wo genau war ich dabei? Über welche Quellen habe ich mich zusätzlich informiert? Mit welchen anderen Beobachtern konnte ich mich vernetzen? Was habe ich erwartet, welche Argumentationen und Menschen sind mir begegnet? „Die Idee eines neutralen Beobachters ist eine Illusion“, sagt Züger. „Wir brauchen aber auch nicht unbedingt neutrale Beobachter, sondern vor allem reflektierte Beobachter, die auf Demonstrationen demokratieförderliche Fragen stellen.“

Königsdisziplin der Berichterstattung

Das ist keine leichte Aufgabe: Gilt formal die Reportage als Königsdisziplin des Journalismus – inhaltlich könnte es die Berichterstattung über Großdemonstrationen sein. Erhitzte Gemüter mit Konfliktpotenzial, eine inhomogene Gruppe von Teilnehmenden, unüberschaubares Gelände und die Gefahr, instrumentalisiert zu werden.

Aus der Praxis kennt Kevin Kindel diese Herausforderungen. Der Redakteur bei den Ruhr Nachrichten (RN) ist in der Dortmunder Redaktion als Blaulichtreporter auch für Demonstrationen zuständig. „Man hat oft Lagen mit tausenden Personen – da kann man nicht an allen Ecken gleichzeitig sein“, sagt Kindel. Während man ein Foto davon mache, wie die Demonstranten ganz vorne ein Banner vor sich hertragen, könne hundert Meter weiter eine Auseinandersetzung stattfinden.

„Eine Erstmeldung kann schnell überholt sein, wenn zwar anfänglich 200 Leute protestiert haben, sich auf ihrem Weg durch die Stadt aber hundert weitere angeschlossen haben“, weiß auch Björn Kietzmann. Für den Fotojournalisten, der für Agenturen wie SZ Photo und Magazine wie Spiegel und Stern tätig ist, sind Demos ein besonders schwieriges Arbeitsfeld. „Es kann auf Großdemonstrationen nicht ein Bild geben, welches alles abdeckt“, sagt der 40-Jährige.

Kietzmann hat zudem den journalistischen Anspruch, Bilder nicht zu verändern und nicht bewusst auf das Geschehen einzuwirken. „Wenn ich sehe, wie manche Kollegen in Situationen eingreifen – etwa sagen: ‚Halt das Schild doch mal so‘ oder ‚Schau doch mal in diese Richtung‘ – graust es mich. Als Fotojournalist ist es meine Aufgabe, eine Situation einzufangen und nicht zu dirigieren“, erklärt er und erinnert daran: „Die Leute gehen auf die Straße, um eine bestimmte Botschaft zu vermitteln. Dabei sind sie auch auf die Medien angewiesen.“

Es sei grundsätzlich kein Problem, Inhalte von Plakaten zu fotografieren – wenn sie im Artikel kontextualisiert würden. „Problematisch finde ich es aber, Parolen mit großen Homepages zu fotografieren. Dann hätte ich das Gefühl, Sprachrohr zu sein und PR-Arbeit zu machen“, erzählt der Bildjournalist.

Dass Realität und Anspruch dabei manchmal trotzdem auseinandergehen, hat Kietzmann auch schon selbst erlebt. Bei einem sogenannten Schweigemarsch von Corona-Leugnerinnen und -Leugnern in Berlin hatte der Veranstalter die Demonstrierenden explizit aufgefordert, Banner, Plakate und Symbole zuhause zu lassen. „Fototechnisch blieb mir daher nichts anderes übrig, als das Banner zu fotografieren, das die Demonstranten vor sich hertrugen – mit ihrer Losung und Homepage darunter“, erinnert sich Kietzmann.

Demos sind immer eine Herausforderung, weiß der freie Bildjournalist Björn Kietzmann (l.). Medienwissenschaftlerin Dr. Theresa Züger vom Humboldt Institut für Internet und Gesellschaft (M.).  Als Ruhr-Nachrichten-Redakteur betreut Kevin Kindel (r.) auch Demos in Dortmund. | Fotos: Ruth Krause,  privat, Wolfram Kiwit
Demos sind immer eine Herausforderung, weiß der freie Bildjournalist Björn Kietzmann (l.). Medienwissenschaftlerin Dr. Theresa Züger vom Humboldt Institut für Internet und Gesellschaft (M.). Als Ruhr-Nachrichten-Redakteur betreut Kevin Kindel (r.) auch Demos in Dortmund. | Fotos: Ruth Krause, privat, Wolfram Kiwit

Angemessene Gewichtung

Sein Ziel sei dennoch, Facettenreichtum und vielfältiges Bildmaterial zu liefern, wo immer möglich, um so ein Archiv zu schaffen, auf das er auch bei späteren Recherchen zurückgreifen könne. Dabei spielt auch die Gewichtung der Bildauswahl eine Rolle. Kietzmann gibt ein Beispiel: „Die Protestkultur ist von Land zu Land unterschiedlich. In Frankreich sind gewalttätige Ausschreitungen fast schon normal, in Deutschland hingegen sind sie ein Aufreger und ein größeres Thema. In der Berichterstattung überwiegt dann schnell das Thema Gewalt.“

Das belegt auch eine Studie des Berliner Instituts für Protest- und Bewegungsforschung (ipb) aus dem Jahr 2017*. Ein Autorenteam hatte untersucht, wie Medien über Großdemonstrationen berichten und ob es Protestgruppen gelingt, Resonanz für die eigenen Deutungen zu erzeugen. Dabei zeigte sich, dass die eigentlichen Inhalte des Protests in den Hintergrund rücken und die Protestierenden negativer beurteilt werden, wenn Gewalt ins Spiel kommt, wie etwa bei den Protesten gegen den G8-Gipfel in Hamburg oder gegen Stuttgart 21.

Generell ist die Gewichtung einzelner Aspekte bei der Berichterstattung eine Angelegenheit mit Tücken. So gilt es etwa, die Präsenz von Rechten auf Demos zu thematisieren, ihnen aber nicht größeres Gewicht beizumessen, als sie tatsächlich haben. Oder berechtigte Anliegen nicht zu ignorieren, aber zugleich auch verwandtes, aber brisanteres Gedankengut nicht zu verharmlosen. Alles das sind Gratwanderungen.

Warnung vor Pauschalisierung

Aus seiner Erfahrung mit Corona-Leugnerinnen und -Leugnern, denen er in NRW begegnet ist, zieht Pesch den Schluss: „Damit Berichterstattung angemessen ist, sollte man nicht alle Demonstrationsteilnehmer pauschal als Nazis bezeichnen.“ Der Begriff sei nicht unbedingt geeignet, um zu beschreiben, was die Demonstrierenden ideologisch teilten. „Das können auch Verschwörungsideologien sein.“

Eine Aufgabe von Journalistinnen und Journalisten sieht er darin, die Vernetzung der Milieus zu beleuchten. „Zwar sollte man ihre Schlagkraft nicht überbewerten, aber Rechte nehmen auf vielen Großdemonstrationen eine prägende Rolle ein und stellen ein besonderes Gefahrenpotenzial dar. Deshalb liegt in der Gewichtung der Berichterstattung hier häufig ein Fokus – sinnvollerweise“, findet Pesch.

Kommunikationswissenschaftlerin Züger warnt aber auch, die Präsenz von Rechten nicht „überdimensional zu beleuchten, um nicht auf ein ‚Erfolgsnarrativ‘ der Rechten einzuzahlen und Teil einer Instrumentalisierung zu werden.“ Eine angemessene Gewichtung sei zu erreichen, indem Journalistinnen und Journalisten versuchten, andere Stimmen zu sammeln. „Häufig finden nur diejenigen Erwähnung, die in Organisationen ganz oben stehen oder die die krassesten Aussagen tätigen“, hat Züger beobachtet. Sie rät stattdessen, sich lieber ins Geschehen zu begeben, mit vielen Menschen zu sprechen und dann eine eigene Auswahl zu treffen.

Polizei und Medien

Die Beziehungen zwischen Polizeieinsatzkräften auf der einen und Journalistinnen und Journalisten auf der anderen Seite sind bei Demonstrationen nicht immer einfach. Dabei hakt es oft genug daran, dass der Presseausweis nicht anerkannt wird, aber auch am Schutz von Kolleginnen und Kollegen vor Angriffen aggressiver Demonstrierender, und im Einzelfall wird journalistische Arbeit sogar behindert (siehe auch Wer darf eigentlich was?). Aber auch nach der Demo ist nicht alles automatisch wieder gut. Zwar gilt die Polizei grundsätzlich als privilegierte Quelle, aber anlässlich einer Polizeimeldung über verletzte Beamtinnen und Beamte bei einem Einsatz im Tagebau Garzweiler erinnerte der DJV im Juli 2019 daran, dass auch Meldungen und Informationen der Polizeibehörden kritisch hinterfragt werden sollten. Bei Auseinandersetzungen sei die Polizei Partei und nicht unparteiischer Beobachter. Der Polizeibericht sei für Redaktionen „eine wichtige Ausgangsinformation, mehr nicht“, erklärte der DJV-Bundesvorsitzende Frank Überall. Aber die Schilderungen sollten nicht ungeprüft übernommen werden. Damit Redaktionen über genügend Material verfügten, seien Journalistinnen und Journalisten vor Ort unverzichtbar, die Bilder machen und Informationen sammeln. Es sei Aufgabe der Polizei, Reporterinnen und Reporter in ihrer Arbeit zu unterstützen./cbl

Fit in Symbolerkennung sein

Wie inhomogen die Gruppe der Teilnehmenden sein kann, konnten Berichterstattende zuletzt immer wieder auf Querdenker-Demos erleben: Hippies und Esoteriker sind gemeinsam mit Verschwörungsgläubigen, Reichsbürgern und Neonazis unterwegs. „Man kann und sollte sie nicht über einen Kamm scheren. Aber sie treten miteinander auf, distanzieren sich nicht voneinander – das ist eine Thematisierung wert“, findet RN-Redakteur Kindel.

Alles andere als harmlos: Das weiße Kaninchen als Symbol der QAnon-Bewegung steht für „follow the white rabbit“ und weist auf eine verborgene Welt der Verschwörung hin. | Foto: Dennis Pesch
Alles andere als harmlos: Das weiße Kaninchen als Symbol der QAnon-Bewegung steht für „follow the white rabbit“ und weist auf eine verborgene Welt der Verschwörung hin. | Foto: Dennis Pesch

Wenn Neonazis durch die Straßen ziehen und ihre bekannten Parolen brüllen, dann reicht es in den Augen von Kindel allerdings, im Bericht zu erwähnen, dass die einschlägig bekannten Gruppen demonstrierten. Dafür müsse man nicht einzelne Rufe zitieren, sagt er (siehe dazu auch  „Ungewollte PR und das Sandwich der Wahrheit“).

Damit die Identifikation einzelner Gruppen überhaupt gelingt, müssen Journalistinnen und Journalisten fit sein in Sachen Symbolerkennung. Denn auf rechten Demonstrationen werden oft Buchstaben- und Zahlencodes als nicht strafbare Version für verfassungswidrige Symbole oder Parolen verwendet. So steht die „18“ für den ersten und achten Buchstaben im Alphabet, also für die Initialen Adolf Hitlers, „88“ und „444“ verschlüsseln in selber Weise den Hitlergruß und die Parole „Deutschland den Deutschen“.

Scheinbar ganz harmlos kommt auch das weiße Kaninchen, umrahmt von einem Q, daher (siehe Bild oben). Dabei ist es ist ein Erkennungszeichen der QAnon-Bewegung, einer verschwörungsgläubigen Gruppierung, die aus den USA nach Deutschland geschwappt ist. In Anspielung auf die Erzählung „Alice im Wunderland“ und den Film „The Matrix“ steht es für „follow the white rabbit“ und symbolisiert, dass es eine verborgene Welt der Verschwörung zu entdecken gelte.

Dennis Pesch steckt viel Zeit in die Vorbereitung der Demoberichterstattung. | Foto: Lorenza Kaib
Dennis Pesch steckt viel Zeit in die Vorbereitung der Demoberichterstattung. | Foto: Lorenza Kaib

Pesch bringt als freier Journalist die nötige Expertise mit. Bevor er sich journalistisch mit der rechten Szene beschäftigte, recherchierte er als Fußballfan und engagierte sich gegen Diskriminierung im Fußballstadion, in der Fankurve und im Verein. Mit seinem gesammelten Wissen kann er aufklären und vertiefende Fragen stellen: Wo sind Rechtsextreme unterwegs – wo vielleicht auch weniger offensichtlich? Wo gibt es Überschneidungen verschiedener Milieus? Das kann auf bisher verdeckte Verflechtungen hinweisen oder Beleg sein für eine zunehmende Radikalisierung einzelner Gruppen.

Pesch betont: „Die Berichterstattung über Großdemonstrationen beginnt und endet nicht mit dem Demonstrationsgeschehen.“ Im Einzelfall recherchiere er 14 Wochen auf Veranstaltungen und in den sozialen Netzwerken, um ein Bild von der Szene zu bekommen und die Köpfe hinter den Demonstrationen kennenzulernen. „Das ist das journalistische Pfund, welches ich mit dem Publikum teilen kann“, findet Pesch. Für die Berichterstattung über Großdemos bedeutet das aber auch: Sie muss langfristig angelegt sein, denn Einordnung gelingt nur mit ausreichend Hintergrundwissen.

Ohne Fahnen keine Reichsbürger?

Wie es ausgehen kann, wenn Redaktionen nicht auf entsprechende Expertinnen und Experten zurückgreifen können, zeigt Pesch an einem Negativ-Beispiel: „Ich habe erlebt, dass auf Querdenken-Demos auch Kollegen waren, die im Anschluss berichteten: ‚Hier sind keine Reichsfahnen, also sind hier auch keine Reichsbürger‘. Aber das ist ein Trugschluss.“ Wer genauer hinschaue, habe bekannte Gesichter aus der Reichsbürgerszene identifizieren können, berichtet Pesch.

Der Journalist rät deshalb, die Vorrecherche nicht zu unterschätzen und sich im Vorfeld auch gründlich mit den ausschlaggebenden Anliegen auseinanderzusetzen. Also nicht auf eine Querdenker-Demo zu gehen, ohne die Corona-Schutzverordnungen zu kennen. Und keine Proteste gegen ein Polizeigesetz zu besuchen, ohne eben jenes ausführlich angeschaut zu haben.

Diese Vorbereitung hilft auch, sich gegen eine weitere Herausforderung zu wappnen: Fake News auf Großdemonstrationen. „Manchmal werden auf Großdemonstrationen wirre und falsche Behauptungen aufgestellt. Man muss dann im Einzelfall abwägen, ob man sie einfach ignoriert – oder darüber berichtet und den Falschaussagen die Faktenlage entgegensetzt“, sagt Kindel von der RN Dortmund.

Ohnehin sei es eine schwierige Frage, wie viel vom Inhalt einer Demo vermittelt werden solle. „Wir sind als Medien kein Sprachrohr – nur weil viele Leute mobilisiert werden, darf das kein Zwang sein, besonders ausführlich zu berichten“, meint Kindel. Es sei nicht Aufgabe der Medien, Meinungen zu verstärken – sondern sie einzuordnen und „zu sagen, was ist“. Das umfasse eben nicht die Wiedergabe unsinniger Behauptungen: „Man muss sich stets fragen: Ist dieser Satz oder dieses Zitat sinnvoll und mache ich mich damit nicht mit einer Seite gemein?“, rät der Redakteur.

Faktenchecks auf Großdemos

Uschi Jonas arbeitet als Faktencheckerin bei Correctiv. | Foto: Ivo Mayr
Uschi Jonas arbeitet als Faktencheckerin bei Correctiv. | Foto: Ivo Mayr

Mit oft wirren Aussagen und bewussten Lügen beschäftigt sich auch Uschi Jonas, Expertin in Sachen Fake News. Seit Juni 2020 arbeitet die 32-Jährige als Faktencheckerin bei Correctiv, spürt Desinformation im Netz auf und setzt ihnen Faktenchecks entgegen. „Dazu schauen wir täglich: Welche Meldungen kursieren in sozialen Netzwerken und Messengerdiensten wie Facebook, Twitter, WhatsApp und Telegram? Welche verbreiten sich besonders stark und wo steckt eventuell eine Falschmeldung dahinter?“, beschreibt Jonas ihre Tätigkeit. Wenn der Verdacht auf bewusst gestreute Fake News bestehe, überprüfe das Team Zahlen und Fakten, Urheber, Quellen, Kontext. Dafür ziehen die Faktencheckerinnen und -checker auch Experten, Behörden und Statistikämter zu Rate.

Ein Teil der Faktenchecks gilt Großdemonstrationen und den dort verbreiteten Inhalten. Welche Falschmeldungen in der Flut an Desinformation überprüft werden, macht das Team von der aktuellen Relevanz, der häufigen Verbreitung und einem möglichen Schaden abhängig. Die Ergebnisse von Jonas‘ Faktenchecks heißen dann zum Beispiel: „Corona-Demo in Köln: Nein, dieses Video zeigt keine WDR-Mitarbeiter mit einer Reichsflagge“, „Corona-Demo: Nein, der Polizist vor dem Reichstag ist kein Schauspieler“ oder „Zahlreiche Falschmeldungen über Teilnehmerzahl bei Anti-Corona-Protest in Berlin“.

Beispiel für einen Faktencheck: In sozialen Medien kursierte die Behauptung, Journalisten hätten Bilder mit mitgebrachten Reichsflaggen inszeniert. | Screenshot correctiv.org
Beispiel für einen Faktencheck: In sozialen Medien kursierte die Behauptung, Journalisten hätten Bilder mit mitgebrachten Reichsflaggen inszeniert. | Screenshot correctiv.org

„Bei Faktenchecks zu Demonstrationen gibt es zwei Schwerpunkte: die Teilnehmerzahl und unangemessenes Verhalten von Akteuren wie Polizei oder Demonstranten“, erklärt Jonas. Um Falschmeldungen zu verbreiten, die bestimmte Narrative unterstützen, würden häufig unvollständige Videoausschnitte oder aus dem Kontext gerissene Fotos genutzt.

Streitpunkt Teilnehmendenzahl

„Die Veranstalter wollen natürlich immer das Bild vermitteln, dass sehr viele Menschen vor Ort waren, die dieselbe Meinung wie sie vertreten“, erinnert Jonas. Journalistinnen und Journalisten müssten die Bewertung einer Situation durch Dritte – etwa Polizei und Veranstalter – kritisch einordnen. Denn jede Gruppe habe eigene Motive. Deswegen dürfe man sich beispielsweise nicht nur auf Angaben der Polizei verlassen. Das rät auch der DJV (siehe auch Kasten „Polizei und Medien“).

Um die Zahl der Teilnehmenden einzuschätzen, könnten Journalistinnen und Journalisten selbst Übersichtsaufnahmen anfertigen oder Onlinetools nutzen, die berechnen, wie viele Menschen auf eine gewisse Fläche passen. Ein solches Angebot macht etwa die Website www.mapchecking.com.
Was für rechtsextreme Parolen gilt, lässt sich im Übrigen auch für Falschnachrichten sagen: Der Inhalt muss nicht unbedingt im Detail wiedergegeben werden. Wenn auf Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen die Falschnachricht von Chips auftaucht, die durch Impfungen implantiert würden, sei es besser, einfach zu berichten, dass auf der Demonstration Verschwörungserzählungen verbreitet wurden. „Oder Medien müssen dem Verbreiteten direkt Fakten gegenüberstellen“, betont Jonas (vergleiche auch Kasten „Ungewollte PR und das Sandwich der Wahrheit“, Seite 11). Es sei aber auch notwendig, dass Journalistinnen und Journalisten gegebenenfalls darauf hinweisen, was die Wissenschaft eben noch nicht wisse, betont die Faktencheckerin.

Filmende Masse

Allerdings sind Journalistinnen und Journalisten auch in puncto Demonstrationen seit Langem nicht mehr die einzigen, die Bericht erstatten. Ob linkes oder rechtes Anliegen, ob Naturschutz, Klimarettung oder Corona-Leugnung: Auch Teilnehmerinnen und Teilnehmer stellen ihre Handyaufnahmen der Demonstrationen ins Netz, gebündelt unter Twitter-Hashtags wie #Datteln4, #FridaysForFuture oder #wirsindmehr.

Diese „dynamische und in Echtzeit erfolgende Berichterstattung durch die filmende Masse“ könne das Geschehen der Demonstration selbst verändern“, erklärt Medienwissenschaftlerin Dr. Theresa Züger. Wenn etwa eine Gewalttat von Demonstranten gefilmt, ins Netz gestellt und wiederum für andere Demonstranten sichtbar würde, könne eine Situation eskalieren. Um auf solche Entwicklungen vorbereitet zu sein und darauf reagieren zu können, müssten Journalistinnen und Journalisten parallel zum Demonstrationsgeschehen auch die sozialen Medien beobachten.

Besondere Bedeutung

Bei all den Herausforderungen erinnert Züger aber auch daran, warum Großdemonstrationen eine besondere mediale Aufmerksamkeit verdienen: „Großdemonstrationen haben wichtige Funktionen in Demokratien. Demonstrieren ist eine lebendige Form von politischer Beteiligung und hinsichtlich der Organisation anspruchsvoller als beispielsweise die Ausübung des Wahlrechts“, sagt sie. Weil Journalistinnen und Journalisten dabei auswählen, wer in den Medien sprechen darf und in welcher Weise diese Sprache präsentiert wird, hätten sie eine große Macht über das Narrativ, wie die Demonstration in der Öffentlichkeit wahrgenommen wird.||


Ein Beitrag aus JOURNAL 1/21, dem Medien- und Mitgliedermagazin des DJV-NRW, erschienen im Februar 2021.