TREND| TikTok

Jung und wissbegierig

Warum Redaktionen TikTok ernst nehmen sollten
22. Oktober 2021, Bettina Blaß

Facebook, Instagram – und jetzt auch noch TikTok? Das gar nicht mehr so neue soziale Netzwerk scheinen viele Redaktionen als Ausspielmedium noch nicht auf dem Schirm zu haben. Dabei sind dort neben Ideen für kalorienreiche Desserts, anzüglichen Tanzvideos oder Fake News zwischenzeitlich auch politische und wirtschaftliche Nachrichten sowie Verbraucherinformationen zu finden. Einige Redaktionen haben erkannt, dass die Kurzvideo-Plattform eine wertvolle Hilfe ist, um mit neuen Zielgruppen in Kontakt zu kommen.

Je Thema eine andere Community

„Wir erreichen dort mit @nicetoknow beispielsweise viele 14- und 15-Jährige sowie junge Menschen aus Einwandererfamilien“, sagt Verena Lammert, Formatentwicklerin und Redakteurin Digitale Innovation im NewsLab des WDR. Der Kanal hat 64.800 Follower (Stand Mitte September). Wichtig ist dabei: Es gibt nicht die eine TikTok-Community. „Im Prinzip kann man mit jedem Thema eine andere Community ansprechen“, sagt Lammert.

Denn bei TikTok funktioniert der Algorithmus anders als bei Facebook oder Instagram: „Während man bei den meisten sozialen Medien vor allem die Posts der persönlichen Kontakte sieht, geht es bei TikTok viel mehr um die eigenen Interessen“, erklärt Digitalexperte Daniel Fiene. Wer im Home-Bereich „Für dich“ anklickt, sieht Videos, die der Algorithmus ausgesucht hat. Je nachdem, wie lange und wie oft man sich ein Video ansieht und ob man damit interagiert, verändert sich das Angebot – und zwar in sehr kurzer Zeit. „Die Zahl der Follower ist bei TikTok darum nicht so wichtig wie bei anderen sozialen Netzwerken“, erklärt Fiene. „Entsprechend kann man die Nutzerinnen und Nutzer auch schwieriger an die eigene Marke binden.“

Monetarisieren lassen sich die TikTok-Videos auch nicht. Besser gesagt: nicht mehr, denn das Programm #LernenMitTikTok für Medienpartnerinnen und -partner ist Ende August ausgelaufen. Teilgenommen haben nach Auskunft von TikTok: Burda, Der Spiegel (mit Spiegel TV), die Funke Mediengruppe, Ringier Axel Springer Schweiz, ProSiebenSat1, RP-Online, RTL und RTL II. Auch wenn man mit den Inhalten derzeit kein Geld verdienen kann: „Die Plattform ist noch jung, es kann sich also noch einiges ändern“, meint Fiene.

Einstiegsseiten bei TikTok (von links): @nicetoknow vom WDR, @duhastdiewahl von der Funke Mediengruppe und der Kanal der Rheinischen Post.
Einstiegsseiten bei TikTok (von links): @nicetoknow vom WDR, @duhastdiewahl von der Funke Mediengruppe und der Kanal der Rheinischen Post.

Einstieg mitten in der Pandemie

Der WDR ist Anfang 2021 bei TikTok gestartet: „Einen echten Produktionsplan hatten wir da noch nicht. Unser Ziel war es, in dieser Woche ein erstes Video hochzuladen“, erinnert sich Lammert. Dabei gab es gleich mehrere Herausforderungen: Dass pandemiebedingt alle im Homeoffice waren, habe „Konzepterstellung und Abstimmungsrunden erschwert“. Rund 20 Köpfe zählt das WDR-TikTok-Team: Cutter, Aufnahmeleiter, Host, Head Producer, Community-Manager. „Pro Tag arbeiten fünf Teammitglieder gemeinsam an den Videos“, erklärt Lammert. „Wir legen großen Wert darauf, dass die Teammitglieder aus unterschiedlichen Altersgruppen kommen. So lernen die Jungen von den Älteren, wie guter Journalismus geht, und die Älteren lernen die neue Technik und Gestaltungsart von den Jüngeren.“

Gerade für kleinere Redaktionen wird ein so hoher Aufwand für nur einen Social-Media-Kanal kaum möglich sein. Mindestens eine volle Stelle werde aber benötigt, um auf TikTok erfolgreich zu sein, sagt Fiene. Das ist der Funke-Zentralredaktion in Berlin gelungen. Dort hat man sich für #LernenMitTikTok den Kanal @duhastdiewahl (59 300 Follower im September) ausgedacht. Amelie Marie Weber plant, recherchiert und moderiert. Eine freie Mitarbeiterin unterstützt sie bei Dreh und Schnitt. „Wir wollen jungen Menschen so früh wie möglich seriösen Journalismus bieten“, sagt Weber. „Gerade in einer Zeit der Desinformation ist das besonders wichtig.“ So hat sie für den Funke-Kanal beispielsweise alle drei Kanzlerkandidatinnen und -kandidaten interviewt.

Videos mehrfach nutzen

Auch die Rheinische Post (RP) hat das Programm #LernenmitTiktok genutzt, um mit der Plattform zu experimentieren. „Die Trends aus TikTok prägen derzeit alle sozialen Medien“, sagt Hannah Monderkamp, Leiterin Audience Development. „Es ist also durchaus wichtig, sich damit auseinanderzusetzen. Davon abgesehen können wir die Videos auch in anderen sozialen Netzwerken weiterverwenden. Durch das Programm war der Einsatz außerdem finanziell unterstützt“. Die RP hat sich unter anderem im Format „Humbug“ mit Fake News und Verschwörungstheorien beschäftigt. Das Ergebnis dieser Lernphase sind 9 343 Follower, Views im drei-, vier- und fünfstelligen Bereich, einige Videos wurden sogar im sechsstelligen Bereich gesehen (Stand: 27. September 2021).

„Darum werden wir TikTok auch weiter bespielen“, sagt Monderkamp. „Schließlich wird Video immer wichtiger. Unsere Aufgabe ist es außerdem, neue Formate auszuprobieren und neue Zielgruppen zu erschließen.“ Das scheint gut zu klappen. Denn bei der RP weiß man, dass die Nutzerinnen und Nutzer der Videos deutlich jünger sind als bei den anderen Kanälen, die das Verlagshaus nutzt. Außerdem erreichen sie überwiegend Frauen. „Das liegt aber auch daran, dass wir sie gezielt ansprechen. Unsere Themen drehen sich oft rund um Themen wie Kinderplanung und Schwangerschaft. Aber wir berichten auch über Corona und die Impfung dagegen“, sagt Hannah Monderkamp.

Austausch mit der Zielgruppe

Auch den Kanal der Funke Mediengruppe wird es weiterhin geben, nach der Bundestagswahl eventuell unter anderem Namen. „Es gibt noch so viel zu berichten: Wir werden die Koalitionsverhandlungen begleiten, uns mit dem neuen Kanzler auseinandersetzen, das Kabinett erklären“. Und dann seien da noch die Fragen aus der Community: Frauenquote, Kommunismus – „die jungen Leute sind wissbegierig“, sagt Weber. Das hat auch das WDR-TikTok-Team bemerkt. Um nicht an der Zielgruppe vorbeizusenden, hat der Sender diese ins Boot geholt: Jeden Freitag gab es eine virtuelle Konferenz mit einer Schulklasse aus Bergisch Gladbach. Die Schülerinnen und Schüler gaben Feedback zu den Videos der Tage davor und sagten, was sie thematisch interessiert. Das floss dann in die Clips der Folgewoche ein. Im Gegenzug erklärte die Redaktion, wie sie arbeitet, wie Journalismus funktioniert und wie man Fakten überprüft.

So entstand im engen Kontakt mit der Zielgruppe das heutige Format – eine Mischung aus Erklärstücken und kurzen Reportagen. Das Ergebnis ist für den Smart Hero Award nominiert, der Mitte November verliehen wird.

Zugleich hilft der TikTok-Account dem WDR, „mehr junge Leute in einen Erstkontakt zum WDR“ zu bringen, sagt Lammert. „Das ist für uns eine Bereicherung – auch in Hinblick darauf, uns als innovativen Arbeitgeber für junge journalistische Talente zu präsentieren“. Weil die Schulklasse nach ihrem Abschluss nicht mehr als Kooperationspartner infrage kommt, baut der WDR gerade einen Jugendlichen-Rat für den TikTok-Kanal auf.

Und noch einen Vorteil sieht die Redaktion in der neuen Plattform: „TikTok wie auch die nahezu identischen Funktionen Reel bei Instagram oder Shorts bei YouTube verändern die Sehgewohnheiten“, sagt Lammert. „Das müssen wir auch außerhalb von TikTok beachten. Für uns ist die Berichterstattung auf der Plattform außerdem eine gute Schule, um zu lernen, wie man Inhalte in unter einer Minute journalistisch seriös und packend erzählt.“

Was sind die ersten Schritte für einen erfolgreichen Start bei TikTok?

Verena Lammert, WDR: „Man sollte sich genau überlegen, wen man dort erreichen will und welche Themen zu dieser Zielgruppe passen. Außerdem sollte man den Mut haben, Dinge auszuprobieren.“
Daniel Fiene, Digitalexperte: „Redaktionen sollten sich mit der Meme-Kultur auseinandersetzen. Junge Zuschauer*innen verstehen die auf andere Situationen angepassten Wiederholungen und die Bildsprache. Außerdem: thematischen Fokus setzen. Tagesaktuelles funktioniert nicht. Sinnvoll ist, einige Videos für den Start vorzuproduzieren.“
Amelie Marie Weber, Funke-Zentralredaktion: „Sich ausführlich mit der Plattform auseinandersetzen: Wie funktioniert sie? Was läuft gut? Hilfreich ist auch, auf das Unternehmen zuzugehen – es ist bestrebt, auf TikTok seriösen Journalismus zu präsentieren.“
Hannah Monderkamp, Rheinische Post: „Sinnvoll ist, sich zu Beginn einen Prozess zu überlegen: Wie wollen wir Themen finden, die wir auf TikTok ausprobieren wollen? Dann sollte man sich überlegen, was der Wiedererkennungseffekt sein könnte. Das Logo allein hilft da nicht weiter, es muss möglichst eine immer wiederkehrende Art des Videoaufbaus sein. Und dann sollte man seine Videoskripte schreiben.“

Von links: Verena Lammert, Daniel Fiene, Amelie Marie Weber, Hannah Monderkamp. | Fotos: Annika Fußwinkel Photography, Mathias Vietmeier, Andreas Büttner, Rheinische Post
Von links: Verena Lammert, Daniel Fiene, Amelie Marie Weber, Hannah Monderkamp. | Fotos: Annika Fußwinkel Photography, Mathias Vietmeier, Andreas Büttner, Rheinische Post
Was sind die größten Fehler, die man bei TikTok machen kann?

Verena Lammert, WDR: „Zu viel auf Trends und Filter setzen. Das brauchen wir gar nicht. Die Zielgruppe erwartet von uns, dass wir Sachverhalte gut erklären. Außerdem ist es wichtig, einen guten Einstieg zu finden. Und man sollte sich dessen bewusst sein, dass es nicht die eine Community gibt, sondern viele unterschiedliche.“
Daniel Fiene, Digitalexperte: „Zu wenig Zeit einplanen. Man sollte den Kanal nicht nur zweimal die Woche, aber auch nicht einfach mit den Inhalten von Instagram bespielen. Falsch wäre auch, die Community und Kommentare zu ignorieren. Und: Mit älteren Gesichtern erreicht man keine junge Zielgruppe. Die Moderator*innen sollten entsprechend jung sein.“
Amelie Marie Weber, Funke-Zentralredaktion: „Sich zu wenig Anlaufzeit geben. Es ist wichtig, sich auszuprobieren und einen Account nicht vorschnell wieder zu schließen. Inhalte aus anderen Kanälen kopieren, also beispielsweise aus Instagram, geht gar nicht! Man muss eigene und spezielle Videos erstellen. Zu lange Abstimmungsrunden nehmen die Spontaneität. Und Fehler sind wichtig, um daraus zu lernen.“
Hannah Monderkamp, Rheinische Post: „Tagesaktuelle Themen laufen nicht gut. Videos brauchen manchmal mehrere Tage, bis sie von vielen Nutzer*innen gesehen werden. Man sollte sich keinen zu starren Rahmen setzen und mehr ausprobieren. Und die Erwartungen sollten nicht zu hoch sein: Manche Videos floppen – und man weiß nicht, warum.“

Die Frage der Kritik

Über TikTok als chinesisches Unternehmen hört und liest man immer wieder, dass kritische Inhalte dort nicht gerne gesehen werden. Verena Lammert vom WDR kann das nicht bestätigen: „Wir berichten selbstverständlich kritisch, auch über TikTok selbst übrigens. Diese Videos haben aber keine schlechtere Performance als andere.“ Die TikTok-Unternehmenskommunikation bestätigt per Mail, dass gesellschaftsrelevante Themen wie beispielsweise Klimaschutz eine wichtige Rolle für die Community spielen. Weiter heißt es dort: „Unser Fokus (liegt) jedoch darauf, ein unterhaltsames, authentisches Erlebnis für unsere Community zu schaffen.“

Netzpolitik.org berichtete 2019 von verschiedenen Moderationsstufen bei TikTok, die von der ausdrücklichen Förderung über das Bremsen von Inhalten bis zum Löschen reichen. Dazu sollen in Acht-Stunden-Schichten etwa 1 000 Videos in Berlin, Barcelona und Peking gesichtet werden.

Die Unternehmenskommunikation von TikTok antwortete auf die Frage nach diesen Moderationen per Mail: „Wir haben ein (…) Moderationsteam, das in kritischen Situationen rund um die Uhr unterstützt und auf der Basis unserer Community-Richtlinien sowie NetzDG moderiert. Der Kontext ist wichtig, wenn es darum geht, zu bestimmen, ob bestimmte Inhalte, beispielsweise Satire, unsere Community-Richtlinien verletzen. Deswegen hilft unser geschultes Team von Moderator*innen bei der Überprüfung und Entfernung von Inhalten. Das Moderationsteam betreut die deutsche Version der Plattform, daher sind unsere Moderator*innen deutsche Muttersprachler*innen. Ihr Hintergrund entspricht der Vielfalt der deutschen Gesellschaft. (…) In einigen Fällen entfernt dieses Team proaktiv trendende, potenziell gewalttätige Inhalte, wie z. B. gefährliche Challenges oder Fehlinformationen. Eine andere Art, Inhalte zu moderieren, basiert auf Meldungen, die wir direkt in der App oder auf unserer Website von unseren Nutzer*innen erhalten.“

Davon unabhängig steht die WDR-TikTok-Redaktion in engem Kontakt mit dem Berliner Büro des Unternehmens. Allerdings nicht, um inhaltliche Absprachen zu treffen. Vielmehr hatte der Sender dort gleich zu Beginn das blaue Verifizierungs-Häkchen fürs Profil beantragt, um Nutzern zu zeigen, dass @nicetoknow ein offizieller WDR-Account ist. „Außerdem“, sagt Lammert, „bekommen wir so frühzeitig Informationen zu Weiterentwicklungen der App“.||

Journalismus und PR bei TikTok – eine Auswahl

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Ein Beitrag aus JOURNAL 5/21, dem Medien- und Mitgliedermagazin des DJV-NRW, erschienen im Oktober 2021.