Was ist ein strittiges Thema, und wie packe ich das am besten an? Um ihrer Verantwortung gerecht zu werden, müssen Journalistinnen und Journalisten verstärkt in den Diskurs gehen – sowohl untereinander als auch mit ihrem Publikum. | Foto: zettberlin
Was ist ein strittiges Thema, und wie packe ich das am besten an? Um ihrer Verantwortung gerecht zu werden, müssen Journalistinnen und Journalisten verstärkt in den Diskurs gehen – sowohl untereinander als auch mit ihrem Publikum. | Foto: zettberlin
 
THEMA | Verantwortung

We agree to disagree

Verantwortungsvolle Berichterstattung über strittige Themen
14. Februar 2020, Andrea Hansen

Journalistinnen und Journalisten haben es schwer: Nicht nur, dass manche Themen besonders komplex sind. Gleichzeitig hat es noch nie so viel kritische Betrachtung ihrer Arbeit gegeben wie heute. Das gilt besonders bei den ganz großen Themen, die die Gesellschaft bewegen. Sei es Migration, Verteilungs- oder Geschlechtergerechtigkeit, Rassismus, Mobilität oder ganz aktuell die Klimaforschung, die hier als Beispiel dienen soll.

Schon die Frage, welchen Begriff man wählt – Klimakrise, Klimakatastrophe oder Klimawandel – zieht unter Umständen eine heftige Diskussion nach sich. Fix tobt die Frage um die Glaubwürdigkeit, weil die Wortwahl eventuell als Beleg für eine parteiische Positionierung angesehen wird. Auf Social-Media-Plattformen aktive Kolleginnen und Kollegen werden gefragt, warum sie nicht ausgewogen, neutral oder objektiv berichten. Aber was heißt „neutral“ und „objektiv“ überhaupt bei einem Thema, bei dem 99 Prozent der Klimawissenschaftler im Groben einer Meinung sind und Medienmacher und -nutzer sich dennoch gleichermaßen verunsichert zeigen?

Von Gewissheit und Zweifel

„Erhebliche Unsicherheiten“ – diese zwei Wörter reichten im Herbst 2018, um zwei Wissenschaftsjournalisten gegeneinander in Stellung zu bringen und einen Streit unter Fachkollegen zu entfachen, von dem die ganze Branche noch ein gutes Jahr später eine Menge lernen kann. „Erhebliche Unsicherheiten“ gebe es in bestimmten Teilbereichen der Klimaforschung und darum sei von der guten Sache korrumpiert, wer diese Information verschweige, so der eine Kollege. Um nun bloß nicht in einer Ecke mit faktenbefreiten Klimawandelleugnern zu landen, würde der deutsche Journalismus quer durch alle Lager zu einem homogenen Umgang mit solchen Unsicherheiten neigen.

Zu Recht, entgegnet der andere, denn wenn ein Laienpublikum von „erheblichen Unsicherheiten“ im Klimakontext höre, wecke dies bei den meisten Zweifel am großen Ganzen, nämlich der Belastbarkeit der kompletten Klimaforschung und nicht nur an einzelnen Forschungsansätzen. Dieses Risiko sei bei so einem brisanten Thema nicht tragbar.

Das, was hier zwischen zweien ablief, ist nicht nur zum Thema Klima regelmäßig zum Beispiel bei Twitter zu beobachten: In der Summe zeigen solche Diskussionen, wie wir als Gesellschaft mit dem Zweifel umgehen, wie sehr er uns verunsichert und wie stark der Wunsch nach klaren Antworten auf komplexe Fragestellungen ist.

Klicks gegen Risiko abwägen

Für Journalistinnen und Journalisten ist das eine multiple Herausforderung: Kontroverse Debatten versprechen viel Aufmerksamkeit. Aufmerksamkeit ist die Währung in Zeiten kriselnder Geschäftsmodelle. Aber es drohen auch destruktive Diskurse, durch die man im schlimmsten Falle in einen Shitstorm gerät. Tagtäglich gilt es im Newsroom – und mittlerweile auch in Comedy-Redaktionen – sehr schnell zu entscheiden, welches Risiko besteht und ob man es um der Klicks willen eingeht.

Ein Shitstorm kann von einer organisierten Empörungswelle getragen sein, aber man kann ihn sich auch redlich verdienen. Im fragwürdigsten Fall ist er sogar ein Geschäftsmodell. Polarisierung und Provokation sind heute mächtige Vermarktungsinstrumente und helfen manchem Medium bei der Monetarisierung.

Wie kritisch Klickbaiting zum Beispiel in der Klimadebatte zu sehen ist, ist keine Frage für zwischendurch, meint Journalistik-Professorin Wiebke Möhring von der TU Dortmund. Beim Feierabendbierchen würden wohl fast alle einwilligen, dass Journalismus eine Verantwortung hat. Aber daraus eine Direktive für den Alltag abzuleiten sei eine ganz andere Herausforderung in der heutigen komplexen Arbeitswelt.

Denn zunächst müssten sich Journalistinnen und Journalisten überhaupt darüber im Klaren sein, dass es sich um ein strittiges und schwieriges Thema handelt und dass sie im Kontext dieser bestimmten Berichterstattung eine besondere Verantwortung haben: „Ich glaube, dass im Redaktionsalltag, getrieben vom Wunsch des Publikums nach schnellen Informationen, die Frage nach der Verantwortung gelegentlich aus dem Blick gerät.“ Das Bewusstsein sei theoretisch durchaus da, doch praktisch gebe es Umsetzungsprobleme. Mal fehle das Fachwissen, mal der Wille, die Strittigkeit bestimmter Argumente zu erkennen. Eine verantwortungslose Vereinfachung sei bei solchen Themen fatal, vor allem, wenn die Annahme zugrunde läge, „die Nutzerinnen und Nutzer könnten die ganze Komplexität eh nicht erfassen, darum stellen wir es direkt ganz einfach dar“.

Die Expertinnen Wiebke Möhring (o.l.), Tabea Grzeszyk (u.l.) und Maren Urner (u.r.). | Fotos: Udo Geisler, fotostudioneukoelln.de, Alexander Scheuber
Die Expertinnen Wiebke Möhring (o.l.), Tabea Grzeszyk (u.l.) und Maren Urner (u.r.). | Fotos: Udo Geisler, fotostudioneukoelln.de, Alexander Scheuber

Wenn es um besonders aufgeladene Themen wie Klima oder auch Migration gehe, bei dem sich die Lager feindlich gegenüberstehen, sollten Journalistinnen und Journalisten sich das Gebot der Transparenz ins Gedächtnis rufen, sagt Wiebke Möhring. Jeder Journalist sollte sich abseits der Alltagshektik im stillen Kämmerlein den Spiegel vorhalten und die persönliche Haltung zu bestimmten Themen hinterfragen, ob man auch Quellen berücksichtigt, die einem nicht gefallen, ob man bei der Auswahl an alles und jeden dieselben Maßstäbe anlegt oder die Auswahl von Expertinnen und Experten eventuell von Vorannahmen getriggert sein kann.

Dieses Ehrlichmachen ist auch für Tabea Grzeszyk der erste wichtige Schritt. Die Journalistin propagiert in ihrem Buch „Unbias the news“, wie essenziell es nach ihrem Verständnis ist, „sich einzugestehen, dass man nicht alles wissen kann und blinde Flecken hat. Und zwar nicht, weil man eine schlechte Journalistin ist, sondern weil man bestimmte Dinge weniger auf dem Schirm hat als andere. Und dass das auch was damit zu tun hat, wie der eigene Hintergrund ist.“

Das Selbstbild vieler Medienmenschen sei auch heute noch, dass man Dinge quasi objektiv erfassen könne, beobachtet Tabea Grzeszyk. Doch wie sie finden auch andere, dass ein Update dieses Ideals geboten ist. Das betrifft sowohl die Newsrooms, die die Gesellschaft mehr oder weniger gut repräsentieren, als auch jeden als Individuum. Denn: „Wir sind auch nur Menschen mit einem gewissen Erfahrungsschatz, der dazu führt, dass uns manche Dinge ins Auge springen und wir andere übersehen.“

Perspective Daily

ist ein Onlinemagazin für konstruktiven Journalismus. Gestartet 2016 mit einer Crowdfunding-Kampagne, haben sich mittlerweile mehr als 11 000 Menschen als zahlende Mitglieder angeschlossen.

Bei Perspective Daily gibt es keine Ressorts wie Wirtschaft, Politik und Feuilleton, sondern eine inhaltliche Sortierung, die durch die Schwerpunkte der Autorinnen und Autoren bestimmt wird. Statt vieler Schlagzeilen erscheint täglich ein Artikel, der einordnet und über Lösungen informiert.

perspective-daily.de

Wo wir scheitern müssen

Am Ideal der „Objektivitätsmaschine“, die leidenschaftslos und professionell von außen auf etwas schaut und keine persönliche Perspektive hat, würden wir eh’ scheitern: „Weil mir etwas nie passiert ist, heißt das nicht, dass es das Problem nicht gibt.“ Man könne durch Nachfrage bei Kolleginnen und Kollegen mit anderer Familiengeschichte oder Ausbildung die Qualität eines Beitrags steigern.

Diese Zusammenarbeit sei der zweite wichtige Schritt, wenn man einen blinden Fleck bei sich ausgemacht hat. Es sollte nicht länger als Schwäche angesehen werden, wenn man Kolleginnen und Kollegen um Hilfe bittet, sondern als Stärke, meint Grzeszyk. Journalistinnen und Journalisten sollten möglichst viele ihrer Entscheidungen, aber auch Versäumnisse transparent machen: „Das sollten sie selbstbewusst tun. Es geht nicht darum, sich klein zu machen, wenn etwas fehlt oder schief läuft, sondern offen und ehrlich damit umzugehen. Fehler schaden auf Dauer nur, wenn man nicht aus ihnen lernt.“

So sei das auch mit dem bislang recht homogenen Journalismus in einer heterogenen und dazu noch globalisierten Welt. Da gebe es mittlerweile erkannte kollektive Reaktionsmuster: Gehöre ich zur privilegierten Mehrheit, ist es unangenehm, wenn mir gespiegelt wird, dass ich ein Problem nicht erkannt habe. Die erste Phase ist Ablehnung und Verharmlosung („alles Quatsch“, „stell dich nicht so an“), die zweite Phase ist Scham über das eigene Privileg, und die dritte Phase ist, Scham und Schuld zu überwinden und sich mit dem Thema im offenen Dialog auseinanderzusetzen.

Dieses Reaktionsmuster gibt es auch beim Thema Klima, wie Grzeszyk ausführt: Wenn Menschen in Industrieländern den größten Anteil am CO2-Ausstoß haben, dann muss die Scham darüber überwunden werden, bevor man in den Dialog eintreten kann, was jetzt zu tun ist. Das gilt für Journalistinnen und Journalisten und ihr Publikum gleichermaßen. Denn das Problem sitzt bei beiden zwischen den Ohren, weiß Maren Urner, Neurowissenschaftlerin und eine aus dem Gründerteam von Perspective Daily (siehe Kasten „Perspective Daily“): „Wenn das Gehirn eine Sache nicht mag, ist das Unsicherheit.“ Das gelte auch in der Klimaberichterstattung.

Mit Unsicherheit können viele Menschen nicht gut umgehen. Wenn bestimmte Überzeugungen sich verfestigt haben, kann nüchterne Berichterstattung kaum noch dagegen ankommen. | Foto: Seleneos
Mit Unsicherheit können viele Menschen nicht gut umgehen. Wenn bestimmte Überzeugungen sich verfestigt haben, kann nüchterne Berichterstattung kaum noch dagegen ankommen. | Foto: Seleneos

Medien neigen zur „false balance“

Zwar sei der Umgang mit Unsicherheiten für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ganz normal, doch an sich wollen Menschen klare Verhältnisse. Wissenschaftler haben sich lange Zeit sehr schwer damit getan, so zu kommunizieren, dass es für Nicht-Wissenschaftler begreifbar war. Dabei neigten die Medien lange zu dem, was Wissenschaftler „false balance“ nennen. So landeten Klimawissenschaftler und Klimaleugner in Talkshows gemeinsam auf einer Bühne, als ob es sich hier um zwei gleich fundierte Standpunkte mit entsprechender Faktenbasis handele.

Das regt Maren Urner auf: „Das spiegelt nicht den Wissensstand der Forschung wider, bei Unterschieden in Detailfragen unterschreiben über 99 Prozent der Klimawissenschaftler zwei Dinge: Der Klimawandel ist real, und er ist in großen Teilen menschengemacht.“ Setze man nun Experten und Leugner gleichberechtigt nebeneinander, verunsichere dies Menschen, die sich mit dem Thema nicht eingehend beschäftigt haben: „Das mag mein Gehirn nicht. Also fälle ich eine Entscheidung und positioniere mich. Das Gefährliche ist, dass bestimmte Überzeugungen so stark in uns verankert sind, dass sie dann Teil unserer Identität sind.“ Wenn sich eine Positionierung so verfestigt habe, könne man mit nüchterner Berichterstattung kaum noch dagegen ankommen. Das sei in den USA sehr eindrücklich zu beobachten, wo der oberste Klimaleugner im Oval Office sitzt.

Wenn eine Überzeugung so zur Glaubenssache wird, lässt man sich nicht mehr von einem Vertreter der „Gegenseite“ davon abbringen. Nur jemand aus dem eigenen Lager könnte eine Änderung bewirken. Das wird zum Problem für den Journalismus: Was machst du mit deinen Fakten, wenn ein Teil der Menschen sie nicht hören will?

Für Maren Urner ist hier eine Forderung zentral: „Wir sollten uns von der Idee der Objektivität verabschieden. Wir sollten sie als Ideal anstreben, klar! Dies ist kein Plädoyer für tendenziöse Berichterstattung. Aber wir sollten uns bewusst machen, dass sie ungefähr so unerreichbar ist wie eine Fata Morgana in der Wüste. Auf die laufen wir auch die ganze Zeit zu, nur um am Ende festzustellen, dass sie nicht da ist.“ Doch loslaufen müssten wir, denn „ich erkenne das Problem selbst nicht, wenn ich stehen bleibe. Dann halte ich die Oase am Horizont dauerhaft für real – und die Idee von mir als objektiver Berichterstatterin auch.“

Immerhin: In den vergangenen fünf Jahren habe sich in Redaktionen eine Menge getan, stellt Maren Urner erfreut fest: „Ich werde heute deutlich seltener ausgelacht, wenn ich sage, dass Objektivität nicht existiert. Die Bereitschaft, sich zu hinterfragen und Arbeitsweisen anzupassen, hat zugenommen. Das Objektivitätsdogma ist heute auch seltener Teil der Ausbildung.“ Und das sei gut so. Es helfe der Glaubwürdigkeit und Qualität des Journalismus, wenn er (und sein Publikum) lernten, Unsicherheiten auszuhalten wie Forscherinnen und Forscher.

Das stärkste Gegenargument suchen

Nach diesem Muster geht Maren Urner nicht nur an ihre wissenschaftlichen Projekte heran, sondern auch an ihre eigenen journalistischen Aufgaben. Sie nimmt sich nicht das schwächste Gegenargument zu ihrer Rechercheannahme vor, sondern das stärkste: „Das kann sehr schmerzhaft sein. Aber der Effekt ist enorm. Wenn meine Arbeitshypothese die härteste Prüfung übersteht, habe ich nicht nur ein besseres Ergebnis, ich habe auch unterwegs spannendere oder cleverere Leute getroffen und mehr dazu gelernt, als auf dem Weg des geringsten Widerstands.“ Auch intellektuelle Bescheidenheit spielt dabei für Maren Urner eine große Rolle. Je intensiver man sich mit Fragestellungen beschäftige, desto deutlicher erkenne man, wie wenig man wisse.

Diese Erkenntnis und die daraus resultierende Demut wünscht Urner sich stärker im Journalismus. Medienschaffende tappten zu oft in die Falle, dass sie sich als Generalisten sehr schnell in neue Themen einarbeiten müssten und das ja auch oft ganz gut hinbekämen. Doch manchmal verharrten sie auf dem „Ignoranzgipfel“ und glaubten, sich in der Kürze all’ das Wissen erschlossen zu haben, das andere über Jahre angesammelt haben: In den Redaktionen werde „zu wenig für Themenkontinuität gesorgt, die ja auch dem Einzelnen die Arbeit erleichtern würde“. Als Spezialistin und Spezialist könne man sich von Kolleginnen und Kollegen, die nicht so tief im Thema sind, spiegeln lassen, ob man auch für weniger Vorinformierte verständlich schreibe: „Umgekehrt ist das schwierig.“

Viel zu oft werde das Klima-Thema in Deutschland noch als Querschnittsthema gesehen, das man mit seinen unterschiedlichen Schwerpunkten auf verschiedene Ressorts verteilt. Das hält Maren Urner für einen Fehler. Im englischsprachigen Raum hat sie viel früher andere Arbeitsweisen entdeckt. Das Magazin Time etwa habe im vergangenen Jahr eine monothematische Ausgabe zum Klima gemacht und damit die Wichtigkeit dieses Themas unterstrichen. Auch der Economist habe das getan: „Etliche Medien haben mittlerweile ein eigenes Klima-Ressort. Dafür plädiere ich eigentlich schon, seit wir Perspective Daily gegründet haben.“ Die Fridays-for-Future-Bewegung habe auch in manchen Medienhäusern hierzulande ein Umdenken eingeläutet: „Da ist jetzt klar, dass es kein Öko- oder Nischen-, sondern das Zukunftsthema ist.“

Falsifikation als Prinzip

Auch Wiebke Möhring findet, dass man manche Mechanismen aus der Wissenschaft im Journalismus anwenden kann: „Ich bringe meinen Studierenden das Prinzip der Falsifikation bei: Vor einer vermeintlich objektiven Untersuchung schreibe ich meine Annahme auf und überprüfe dann, ob mit den gestellten Fragen auch das Gegenteil herauskommen könnte, sprich ob die Untersuchung wirklich so ergebnisoffen ist, wie man unterstellt. Ich fürchte, dass die Taktung im Journalismus ein solches Arbeiten leider viel zu selten erlaubt.“

Die Journalistikprofessorin aus Dortmund sagt, dass man interne Prozesse auch transparent machen sollte. Offenheit stärke Glaubwürdigkeit und Vertrauen: „Im Autorenkasten könnte etwas zur persönlichen Position zum Thema stehen. Ein Recherchekasten legt offen, welche Quellen genutzt oder welche (ohne Antwort zu erhalten) angefragt wurden.“ Das würde die Wertigkeit der Arbeit widerspiegeln und zeigen, „dass da nicht einfach was heruntergeschrieben wurde, sondern das Gesagte auf Evidenzen basiert.“

Im Anschluss könne dann zwar über die Auswahl oder die Quellen selbst debattiert werden, aber nicht länger über den Journalismus oder den Journalisten an sich. Und: Die Digitalisierung biete hier „ganz wunderbare Möglichkeiten, einen Beitrag unterschiedlichen Kompetenzgraden anzupassen. Ich eröffne dem Interessierten, sich schlau zu machen und dem Kritischen, sich selbst ein Bild zu machen aus allen Informationen, die ich neben dem eigentlichen Beitrag liefere.“

Redaktionen sollten ihre Leserschaft nicht unterschätzen. Gerade das Digitale bietet die Möglichkeit, Angebote für unterschiedliche Kompetenzgrade zu machen. | Foto: txt
Redaktionen sollten ihre Leserschaft nicht unterschätzen. Gerade das Digitale bietet die Möglichkeit, Angebote für unterschiedliche Kompetenzgrade zu machen. | Foto: txt

Das Publikum sei schließlich unterschiedlich kompetent – fachlich und emotional, sagte Wiebke Möhring. Journalistinnen und Journalisten sollten die Kompetenz der Leserschaft nicht unterschätzen und sie nicht für dumm verkaufen. Es gebe Menschen, die sich für ein bestimmtes Thema gar nicht interessierten. Es gebe fachlich bewanderte Nutzer, die aber ihre Kompetenz dadurch schmälerten, dass sie mit sehr voreingenommenen Sichtweisen an die Sache heran gingen. Es führe zu einer fehlerhaften Wahrnehmung, wenn man nur nach Bestätigung seiner Meinung suche.

Gekaperte Debatten

Wenn sich emotional und rational nicht besonders kompetente Menschen berufen fühlen, ihre Meinung zu sagen, wird es oft unschön bei der Nachbetrachtung: „Schwierig ist vor allem, wenn Nebendebatten losgetreten werden, die mit dem Beitrag selbst nur noch wenig zu tun haben, wenn er quasi gekapert wird. Da kann man nur den Langmut haben, immer wieder zum Kern zurückzuführen.“

Alle drei Expertinnen sind sich einig: Diskursfähigkeit gehört heute zwingend zum Anforderungsprofil für Journalistinnen und Journalisten, das sei aber für manche neu. Früher konnten auch Verkündertypen klar kommen. Dafür sei heute akzeptierter, wenn man mal nicht alles wisse. Die entscheidende Frage sei, wie souverän man reagiere, wenn man mit einer Wissenslücke „erwischt“ wird.

In Zeiten, in denen Journalismus immer personalisierter wird, weil die Menschen hinter den Beiträgen stärker als früher zum Beispiel via Twitter wahrgenommen werden, wird auch die Debattenkultur innerhalb von Redaktionen wichtiger, sagt Wiebke Möhring. Es brauche ein Korrektiv, damit sich nicht eine Einzelmeinung stärker in der Öffentlichkeit und im Produkt niederschlägt, als angemessen wäre, nur weil der Vertreter derselben besonders durchsetzungsstark ist. Außerdem sei digitale Kompetenz und Wissen über Wirkmechanismen im Netz heute unabdingbar. Führungskräfte müssten Mitarbeiter und Redaktionen mit Wissen und Zeit ausstatten, um auch die redaktionelle Begleitung des Kundendialogs nach Veröffentlichung sicherzustellen. Und: Es braucht Rückendeckung und Vertrauen in die Entscheidungskompetenz, denn Antworten auf Twitter oder Facebook müssen schnell und substanziell sein. Blah-Blah am Morgen danach verpufft – oder führt zu noch hässlicheren Diskussionen.

Infomationshygiene wahren

Maren Urner plädiert zudem dafür, dass der Einzelne sich hier nicht nach Feierabend noch aufreiben solle. Sie nennt es Medien- bzw. Informationshygiene, sich nicht ständig mit allem zu konfrontieren, und rät, sich Gedanken darüber zu machen, was man sich intellektuell antut: „Über Ernährung denken heute viele nach. Aber das Hirn ist wahrscheinlich unser sensibelstes Organ – und da stopfen wir immer noch viel zu oft gedankenlos alles rein!“

Auch Wiebke Möhring wünscht sich zwischen Medienmachern und -nutzern mehr zielführende Kommunikation. Dafür brauche es vor allem wechselseitige Wertschätzung: „Journalistinnen und Journalisten sollten den Meinungen ihrer Nutzerinnen und Nutzer Respekt entgegenbringen, aber die umgekehrt auch der Arbeit der Journalistinnen und Journalisten.“ Gerade bei strittigen Themen werde oft sehr anmaßend mit anderen Meinungen umgegangen.

Mehr Gelassenheit hält auch Tabea Grzeszyk für eine gute Idee: „Wir sollten uns alle – Macherinnen und Macher wie Nutzerinnen und Nutzer – von dem Anspruch verabschieden, dass es die eine richtige Berichterstattung gibt. Es braucht ein ehrliches Interesse an unterschiedlichen Sichtweisen und die Akzeptanz, dass sich Sachverhalte und Standpunkte entwickeln und verändern können.“

Man solle versuchen, sich gegenseitig den Werdegang der eigenen Urteilsfindung aufzuzeigen, aber bitte mit Hilfe von Argumenten und Fakten und nicht durch bloße Behauptungen. Journalistinnen und Journalisten sollten Publikumsreaktionen im Blick haben, aber nicht Publikumserwartungen nutzen, um auf dieses Ziel „zuzuschreiben“. Das Erwartbare und die Mehrheitsmeinung sollten genauso kritisch hinterfragt werden wie exotische Ansichten. Und am Ende kann man sich dann immer noch einig sein, sich nicht einig zu sein. Wie beim Familiengeburtstag.||

 

Ein Beitrag aus JOURNAL 1/20, dem Medien- und Mitgliedermagazin des DJV-NRW, erschienen im Februar 2020.