JOURNALISTENTAG 2022

Aktualität versus Hintergrund

Extremlagen als Herausforderungen für Redaktionen
19. Dezember 2022, Steffen Heinze

Agatha Mazur begegnete ihrem Gesprächspartner beim Journalistentag durchaus auf Augenhöhe, auch wenn Stefan Brandenburg ab und zu durchblicken ließ, dass er es zu schätzen weiß, besser für Katstrophen gewappnet zu sein. Theoretisch. Der Chefredakteur und Leiter des WDR-Newsrooms dirigiert rund 500 Kolleginnen und Kollegen, Agatha Mazur setzt als Head of Digital der Lokalredaktion des Kölner Stadt-Anzeigers (KStA) in Leverkusen auf ein achtköpfiges Team. Inhaltlich, daran ließ die Begegnung keinen Zweifel, offenbarten beide erstaunlich viele Parallelen in ihrem journalistischen Alltag – zumindest, wenn es um Katastrophen in ihrem Berichtsgebiet geht.

Kein Konzept für Extremfälle

Über die redaktionellen Herausforderungen bei Extremlagen sprachen Agatha Mazur (KStA) und Stefan Brandenburg (WDR). | Foto: Alexander Schneider
Über die redaktionellen Herausforderungen bei Extremlagen sprachen Agatha Mazur (KStA) und Stefan Brandenburg (WDR). | Foto: Alexander Schneider

Online first heißt es beim KStA in Leverkusen wie inzwischen wie fast überall bei Tageszeitungen. Das hat der stellvertretenden Redaktionschefin zufolge „neue Spielräume bei der Aktualität geschaffen“, aber auch den Druck erhöht, schneller reagieren zu müssen, etwa im Sommer 2021. „Wie schnell man an seine Grenzen stößt, wenn ein Thema wie der Starkregen Mitte Juli nahezu alle Kräfte bindet“, erläuterte Agatha Mazur am Beispiel der Explosion im Leverkusener Chempark, die nur zwei Wochen später stattfand und sieben Tote forderte.

Der tragische Betriebsunfall in anfangs unbekannter Dimension forderte die Mannschaft erneut extrem, zumal die Redaktion während der Sommerferien ohnehin noch knapper besetzt war. Ohne von der gebotenen Sorgfalt und der Verantwortung gegenüber der Leserschaft abzuweichen. Ein Konzept für Extremfälle? Hätte Agatha Mazur gern aus der Schublade gezogen, aber: „So eine Situation kannst Du Dir nicht vorher ausmalen. Da heißt es, Ruhe bewahren und den Sachverhalt bestmöglich zu recherchieren.“

Stefan Brandenburg runzelte zeitweise die Stirn angesichts der Schilderung. Die extremen Regenfälle hätten auch seinen damals frisch reformierten Programmbereich arg gefordert – und damals enorme Kritik auf sich gezogen, räumt er ein. Der Newsroom sei aus vier Chefredaktionen heraus entstanden. „Wir haben ordentlich Fett reduziert und Doppelstrukturen abgebaut“. Der Newsroom liefert für ARD-Brennpunkte und Tagesschau/Tagesthemen zu – das Hauptaugenmerk richtet sich indes auf NRW. Dabei arbeite der Bereich „24/7“, sei rund um die Uhr besetzt.

Aktualität pur

Davon kann Agatha Mazur nur träumen: Nachts ist immerhin die KStA-Zentrale besetzt, ebenso an Wochenenden. Aber sie könne sich auf ihr Team verlassen, erzählte Mazur. „Die Mischung aus Jungjournalistin und altem Hasen“, verbunden mit einem hohen Maß an Besonnenheit, habe bei der Berichterstattung über die Folgen der extremen Regenfälle Anerkennung gefunden. Weil es von offizieller Seite anfangs nur dürftige Aussagen gab, konnten „unsere Leute in den ersten 36 Stunden nur beschreiben, was sie außerhalb der Redaktion sehen und erleben“. Die Tragweite: unermesslich. Aktualität pur.

Und wie sah es im WDR-Newsroom in Köln aus? Stefan Brandenburg erinnert sich, dass der „Wettermensch“ um 21.45 Uhr angesichts der unklaren Lage gesagt habe: „Wir sind jetzt durch.“ Da hätten seine Leute spürbar aufgeatmet. Das stellte sich als falsch heraus. Die Dimension, so Brandenburgs Eingeständnis beim Journalistentag, „war zu gewaltig, eine bislang beispiellose Katastrophe zeichnete sich nur langsam ab“. Pandemiebedingte Ausfälle, die spürbare Erschöpfung unter Kolleginnen und Kollegen – und im Hintergrund „ein gefräßiges Programm mit enormen Sendeflächen und höchster Informationsbedarf“. Brandenburg teilte die Sorgen der Kollegin Mazur.

Zum Nachdenken angeregt

Und die Lehren? Wie ist die Gratwanderung zwischen Aktualität und Analysen zu bewältigen? Ein paar Monate danach arbeitet es in den Köpfen. „Wir müssen dran bleiben an den Themen“, weiß Agatha Mazur. Warum fand die Explosion sieben Opfer, warum hüllte sich das Unternehmen so lange in Schweigen? Hat es den Schutz seiner Beschäftigten erhöht? Darüber erfährt die Lokalredaktion nur wenig. Und was, wenn der nächste Starkregen das Rheinland bzw. Bergische Land erschüttert?

Auch Stefan Brandenburg wünscht sich „mehr Nachhaltigkeit in der Berichterstattung. Ein kleines Büro im Ahrtal wäre wirkungsvoll, um die Folgen des Hochwassers ein Jahr danach zu beschreiben.“ Doch das hat selbst der für die dortige Berichterstattung zuständige SWR nicht geschafft.

Moderator Kay Bandermann brachte es nach thematisch dichten 60 Minuten auf den Punkt: „Wir wollten zum Nachdenken anregen. Das haben wir erreicht.“ Der leise Beifall im vollbesetzten Saal schien ihn zu bestätigen.||