PRESSES- UND ÖFFENTLICHKEITSARBEIT |

Digitale Barrieren einreißen

Wie Öffentlichkeitsarbeit eine vielfältige Zielgruppe erreicht
4. Oktober 2023, Corinna Blümel

Relevante Inhalte an möglichst viele Menschen vermitteln: Dieses Anliegen eint die Kolleginnen und Kollegen in der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit mit denen im Journalismus. Selbstverständlich nutzen die Pressestellen von Behörden, Unternehmen und Verbänden dafür auch Website oder App. Aber was, wenn diese Informationen bestimmte Zielgruppen wegen fehlender digitaler Barrierefreiheit gar nicht oder nur erschwert erreichen? Für fast acht Millionen Menschen mit einer Behinderung und weitere mit leichteren Einschränkungen ist das in Deutschland Alltag. Eine vertane Chance für beide Seiten.

Die Ansprechpartnerin Wibke Roth vom KSL.
„Barrierefreiheit ist eine Frage des Bewusstseins“, sagt Wibke Roth von der Koordinierungsstelle der Kompetenzzentren Selbst­bestimmt Leben NRW (KSL.NRW) | Foto: Lucas Schnurre/KSL.NRW

Recht auf Teilhabe

Wie stark der Zugang zu digitalen Informationen für Menschen mit einer Seh- oder Hörbehinderung, mit motorischen oder kognitiven Einschränkungen oft beschränkt ist, weiß Wibke Roth. Die ehemalige Journalistin arbeitet bei der Koordinierungsstelle der Kompetenzzentren Selbstbestimmt Leben (KSL.NRW) in Gelsenkirchen. Das Projekt des Landes Nordrhein-Westfalen mit Standorten in Bielefeld, Dortmund, Düsseldorf, Köln und Münster hat zusammen mit dem Kompetenzzentrums Selbstbestimmt Leben für Menschen mit Sinnesbehinderungen (KSL-MSi-NRW) in Essen die Aufgabe, zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) beizutragen. Diese sichert unter anderem jedem Menschen ein Recht auf Zugang zu Informationen und auf Teilhabe. Flankiert wird die Konvention in Deutschland und NRW durch eine Reihe von Gesetzen.

Eine Grafik mit einer Filmklappe und einen durchgestrichenen Ohr symbolisiert: Ein Inhalt ist zugänglich für Menschen mit Hörbehinderung.
Illustration: Karl-Hermann Hildebrandt

Roth verweist darauf, dass Einschränkungen und Behinderungen nicht ab Geburt bestehen müssen, sondern auch durch Krankheit oder Unfall im Laufe des Lebens hinzukommen können. Zudem lassen mit zunehmendem Alter oft Hör- und Sehfähigkeit nach, ebenso die motorischen Fähigkeiten. Ganz unabhängig von gesetzlichen Verpflichtungen sieht Roth es deswegen als „eine Frage des Bewusstseins“, allen Menschen die Teilhabe an allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens zu ermöglichen, eben auch im Digitalen.

Betreiber von Websites, Onlinediensten und mobilen Anwendungen sollten die Barrierefreiheit also im Blick haben. Diese beginnt bei der Verwendung klarer und verständlicher Sprache und einer einfachen, intuitiv verständlichen Navigation, die sich am besten auch über Tastatur- oder Sprachbefehle steuern lässt. Und sie endet noch lange nicht bei der Bereitstellung von Alternativtexten für Bilder oder der Untertitelung von Videos.

Roth: „Oft geht es erstmal darum, den Blick zu weiten: Vielleicht können bei einer Onlinekonferenz mehr Menschen teilnehmen, wenn es eine Übersetzung in Gebärdensprache gibt.“ Oder die gezeigte Präsentation braucht mehr Kontrast, um am Bildschirm von allen gut erkannt zu werden.

Eine Grafik mit einem stilisierten Menschen und einer Sprechblase symbolisiert: Die Navigation funktioniert auch für Menschen mit eingeschränkten motorischen Fähigkeiten.
Illustration: Karl-Hermann Hildebrandt

Viel Stoff für Kolleginnen und Kollegen in Pressestellen, die oft zumindest an der Konzeption der digitalen Angebote mitarbeiten und die dann für die Inhalte zuständig sind. Was genau dabei zu beachten ist, definieren die Richtlinien der Web Content Accessibility Guidelines (WCAG) nach den vier Prinzipien Wahrnehmbarkeit, Bedienbarkeit, Verständlichkeit und Robustheit (siehe Kasten „Standard mit vier Prinzipien“ und die Grafiken für einzelne Tipps).

 

Standard mit vier Prinzipien
Die Richtlinien der Web Content Accessibility Guidelines (WCAG) zeigen, wie Webinhalte für Menschen mit visuellen, auditiven, motorischen und kognitiven Beeinträchtigungen zugänglich zu machen sind. Sie folgen vier Prinzipien:
Danach müssen Webinhalte für alle Nutzerinnen und Nutzer …
* wahrnehmbar sein, unabhängig von möglichen sensorischen Einschränkungen;
* bedienbar sein, unabhängig von ihren motorischen Fähigkeiten;
* verständlich sein, unabhängig von ihrer kognitiven Fähigkeit.
Sie müssen zudem
* robust sein, sodass sie auf verschiedenen Geräten und Technologien korrekt ausgespielt werden.
Die Guidelines definieren drei Konformitätsstufen: A, AA und AAA. Die mittlere Stufe AA wird am häufigsten ange-strebt. Sie stellt sicher, dass die meisten
Nutzerinnen und Nutzer mit Behinderungen die Webinhalte nutzen können.

Für öffentliche Stellen wie Behörden, Schulen oder Krankenhäuser in NRW ist die digitale Barrierefreiheit schon länger Pflicht. So schreibt es das Behindertengleichstellungsgesetz NRW (BGG NRW) vor. Neben Websites und Apps müssen sie zum Beispiel auch elektronische Formulare so gestalten, dass diese für alle Menschen zugänglich und nutzbar sind, unabhängig von individuellen Fähigkeiten oder Einschränkungen. Zudem sind öffentliche Stellen verpflichtet, Informationen über die Barrierefreiheit ihrer digitalen Angebote zu veröffentlichen und auf Anfrage auch barrierefreie Alternativen bereitzustellen.

Eine Grafik mit verschiedenen Ausgabegeräten symbolisiert: Ein Inhalt ist zugänglich für Menschen mit Sehbehinderung.
Illustration: Karl-Hermann Hildebrandt

Ratgeber, Tools und Tipps

Ob Seitenanbieter digitale Barrierefreiheit aus Pflicht oder freiwillig umsetzen wollen: Hilfreiche Hinweise finden Beschäftigte in Pressestellen bei verschiedenen Anbietern. So haben die KSL.NRW im vergangenen Jahr gemeinsam mit der Agentur Barrierefrei NRW den „Wegweiser Barrierefreiheit“ herausgebracht, der unter anderem ein Kapitel zu Websites und Apps enthält. Der Ratgeber ist digital auf der Seite der KSL.NRW abrufbar (Link siehe Kasten „Mehr erfahren“).

Eine ganze Toolbox an Tipps und Hilfen bietet das Projekt Teilhabe 4.0: Der Filter „Öffentlichkeitsarbeit“ spuckt zum Beispiel die „Handreichung Barrierefreie Dokumente“ aus, einen Leitfaden für barrierefreies Texten im Web, eine App, um eigene Artikel zu checken, eine Empfehlung zu Leichter Sprache und vieles mehr.

Mehr erfahren
Links:
* Kompetenzzentren Selbstbestimmt Leben NRW (KSL.NRW): www.ksl-nrw.de
* Ratgeber „Wegweiser Barrierefreiheit“: www.ksl-nrw.de/ksl-konkret
* Agentur Barrierefrei NRW: www.ab-nrw.de
* Teilhabe 4.0.: toolbox.teilhabe4punkt0.de
Kostenloser Online-Workshop des DJV-NRW: Welche Anforderungen stellt die digitale Barrierefreiheit in der Online-Kommunikation der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit? Und welche Tools können dabei helfen? Darüber informieren die beiden Expertinnen der KSL.NRW und der Agentur Barrierefrei.
Wann: 28.11.2023, 9:30 bis 12:30 Uhr.

Inhalte besser gestalten

Aber was macht denn nun gute digitale Angebote aus? Annika Nietzio vom Kompetenzzentrum Barrierefreiheit in Volmarstein arbeitet im Projekt Teilhabe 4.0 mit. In der Agentur Barrierefrei NRW, die ebenfalls in Volmarstein angesiedelt ist, berät sie zum Thema Barrierefreie Kommunikation und Leichte Sprache. Sie unterscheidet zwei Ebenen – die technische und die inhaltliche: „Zunächst müssen Seiten und Apps so programmiert sein, dass das System Barrierefreiheit unterstützt. Dazu gehört beispielsweise, dass es möglich ist, die Schrift zu vergrößern, ohne dass sich das Layout der Seite ändert.“

Eine Grafik mit Laptop, lächelndem Emoticon und erhobenem Daumen symbolisiert: Ein Inhalt ist zugänglich für Menschen mit kognitiven Behinderungen
Illustration: Karl-Hermann Hildebrandt
Die Ansprechpartnerin Annika Nietzio vom Kompetenzzentrum Barrierefreiheit
„Grundsätzlich sollte man sich immer die Frage stellen: Ist mir das gut genug? Das betont Annika Nietzio vom Kompetenzzentrum
Barrierefreiheit. | Foto: Kirsten Neumann/KBV

Und dann gelte es, die digitalen Inhalte so zu gestalten, dass sie von Menschen mit verschiedenen Beeinträchtigungen gut genutzt werden können. So helfen etwa Überschriften und Absätze, einen Text zu strukturieren. „Das ermöglicht Sehbehinderten die schnelle Orientierung, wo der Teil des Textes beginnt, der für sie interessant ist“, erklärt Nietzio. Erklärungen für Fachbegriffe oder Abkürzungen helfen Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen, sich über unbekannte Themen zu informieren

Bei der konkreten Umsetzung digitaler Barrierefreiheit helfen heutzutage verschiedene Apps und Hilfen. Die erwähnte Toolbox unterteilt das Thema in kleine handhabbare Häppchen. „Barrierefreiheit beginnt mit dem ersten kleinen Schritt. Dann ist die Umsetzung gar nicht so schwer“, sagt Nietzio. Allerdings warnt die Expertin davor, sich bei diesen Routinen schon zu sehr auf Künstliche Intelligenz zu stützen. Sie sieht die Tendenz, die Verantwortung vom Seitenanbieter auf die KI zu schieben, nur „werden die Versprechungen noch nicht immer eingehalten“. Probleme sieht sie zum Beispiel bei der Untertitelung von Videos oder auch bei der „Übersetzung“ von Texten in Leichte Sprache.

„Automatisch generiert ist natürlich besser als nichts“, räumt sie ein. Aber es brauche immer eine Qualitätskontrolle durch Menschen – und zwar aus Sicht der Nutzenden. „Und grundsätzlich sollte man sich immer die Frage stellen: Ist mir das gut genug?“ Gut gemachte Barrierefreiheit nutze nicht nur den Betroffenen, sondern sei durchaus auch eine Frage des Ansehens.

Eine Grafik mit einer stilisierten Checkliste und einem Haken symbolisiert: Webseitenbetreiben sollten regelmäßig Barrierefreiheitstest absolvieren.
Illustration: Karl-Hermann Hildebrandt

Nicht nur deswegen sollte sich Unternehmenskommunikation intensiv mit Fragen der digitalen Barrierefreiheit beschäftigen. Denn die wird in Zukunft auf die Privatwirtschaft ausgeweitet: Zum Stichtag 28. Juni 2025 müssen die meisten Unternehmen ihre Onlineangebote barrierefrei gestalten. So sieht es das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) vor, das eine Europäische Richtlinie umsetzt. Es bleibt also noch Zeit, sinnvolle und erfolgversprechende Wege zu finden, um diese große Zielgruppe adäquat anzusprechen. ||

Ein Beitrag aus JOURNAL 3/23, dem Medien- und Mitgliedermagazin des DJV-NRW, erschienen im September 2023.