THEMA | Lokaljournalismus

Eine wichtige Bastion

Der Lokalfunk hätte noch mehr Potenzial als lokaler Informationsträger
18. Oktober 2019, Sascha Fobbe

„Das ist doch nur Dudelfunk. Die schreiben die Nachrichten alle aus der Zeitung ab.“ „Alles Wichtige erfahre ich bei meinem Lokalradio.“ Die Meinungen über den Informationswert der NRW-Lokalradios gehen weit auseinander. Manche vermissen politische Themen, längere Beiträge oder Hintergrundinformationen. Dabei gibt die Mischung aus Lokalem, Service, Unterhaltung und Musik den NRW-Sendern Recht. Viele sind seit Jahren Marktführer in ihren Verbreitungsgebieten, ein Dutzend hat regelmäßig Quoten von mehr als 40, teils bis über 50 Prozent. Spricht man mit den Verantwortlichen, ist der Hauptgrund für die guten Quoten die lokale Nähe zu den Hörern.

Lokal ist, was lokal interessiert

Mehr Sendestunden, mehr Lokales, mehr Nachrichten: Die erfolgreichsten Stationen haben ihre eigenen Sendezeiten seit 2015 ausgeweitet, senden bis zu 15 Stunden lokal (siehe auch „Näher dran“, JOURNAL 1/18). „Lokal ist nicht, was lokal passiert, sondern was lokal interessiert“, ist dabei die Maxime. Das können durchaus auch Umfragen zum Dschungelcamp oder lokal erstellte Beiträge zum neuen iPhone sein.

Die Hörerinnen und Hörer wissen zu schätzen, wenn sie in ihrem Lokalradio erfahren, was vor der Haustür passiert. | Foto: Anja Cord
Die Hörerinnen und Hörer wissen zu schätzen, wenn sie in ihrem Lokalradio erfahren, was vor der Haustür passiert. | Foto: Anja Cord

Natürlich gibt es klassische lokale Inhalte: den Streit über die Schließung eines Bewegungsbads im Krankenhaus, das Fällen von Bäumen am Marktplatz oder die Pläne für das neue Gewerbegebiet. Thematisiert werden eher Auswirkungen politischer Entscheidungen, nicht unbedingt die politische Willensbildung.

Seit jeher beklagen Lokalpolitiker, dass Lokalfunkerinnen und Lokalfunker selten zu Ausschüssen und Ratssitzungen kommen. Wie andere Lokalsender, die mehrere Gemeinden mit entsprechend vielen Räten abdecken, verzichtet Radio Kiepenkerl – schon aus Zeitgründen – auf den Besuch solcher Sitzungen. „Das wurde vielleicht in den ersten ein bis zwei Jahren im Lokalfunk gemacht“, meint Chefredakteur Andreas Kramer. „Politische Themen greifen wir auf, wir berichten über wichtige Entscheidungen. Aber der Lokalfunk war noch nie das Medium, bei dem die politische Berichterstattung im Mittelpunkt stand.“

Ausgezeichnete Qualität

Um Qualitätsjournalismus im Lokalfunk zu fördern, stiftet der DJV-NRW seit 2014 den Preis in der Kategorie Information/Recherche. „Schon als die LFM-NRW den Hörfunkpreis 1992 ins Leben rief, ging es darum, die Qualität im Lokalfunk zu erhöhen“, erinnert sich Ulrike Kaiser. Wie sich das Verständnis von Lokalradio geändert habe, zeige sich in den Preiskategorien: Politik, Wirtschaft, Umwelt, Kultur, Soziales und Sport wurden schon 1994 ersetzt durch Information, Bildung, Beratung, Unterhaltung, Frauen und den Sonderpreis Integration ausländischer Mitbürger. Auch Werbung und Marketing wurden 1994 als Kategorien eingeführt. Die Kategorien wechseln immer wieder, die aktuellen finden sich auf der Seite der LFM-NRW unter medienanstalt-nrw.de./sax

In der Realität angekommen

Ulrike Kaiser, vom DJV-NRW in die Medienkommission der Landesanstalt für Medien NRW (LFM-NRW) entsandt, nimmt diese Selbsteinschätzung zur Kenntnis: „Ich bin in der Realität angekommen.“ Sie hat die Anfänge des Lokalfunks begleitet: „Wir hatten damals bei der Gestaltung des Zwei-Säulen-Modells gedacht, dass ein Lokalradio auch eine zweite Säule im publizistischen Geschehen einer Stadt sein könnte. Deshalb haben wir auch die Kommunen als Eigentümer mit einbezogen.“

Bei den qualitativen Untersuchungen, die die LFM-NRW für einzelne Sender macht, ohne die Ergebnisse zu veröffentlichen, „hören wir sehr viel Unterhaltung und Service“, bemängelt Kaiser. Auch die publizistischen Sendeformen hätten sich verändert. „Früher gab es viele gebaute Beiträge, heute sind es mehr Interviews oder Kollegengespräche.“

Zwischen den Sendern beobachtet Ulrike Kaiser erhebliche Unterschiede. Nach ihrer Überzeugung könnte Journalismus im Programm der Lokalfunkstationen eine größere Rolle spielen, die Redakteurinnen und Redakteure „würden das auch gerne machen“. Zweierlei stehe dagegen. So sei durch die Kooperation mit dem Mantelprogramm der Rahmen für lokale Inhalte begrenzt, besonders wenn landesweite Gewinnspiele liefen. Zudem fehle es den Redaktionen oft an Ausstattung und Personal. „Lokalfunk könnte sich als lokaler Informationsträger langfristig unverzichtbar machen, besonders in Hinblick auf den Rückgang der Zeitungsvielfalt“, meint Kaiser. Dafür müsste der Wortanteil allerdings deutlich journalistischer sein.

Dabei haben die Sender einen unterschiedlich hohen Wortanteil, heißt es beim Verband Lokaler Rundfunk (VLR). Der Musikanteil liege bei mindestens 65 Prozent, die verbleibenden rund 35 Prozent umfassten Werbung, Wetter, Verkehr, Comedy, Welt- und lokale Nachrichten sowie Beiträge. Es gibt keine aktuellen Zahlen, wie viele davon „harte“ Themen behandeln.

Allerdings sind umfangreiche Wortbeiträge oder ein besonders hoher Wortanteil „nicht automatisch ein Qualitätsmerkmal“ und treffen auch nicht immer den Geschmack der Hörerinnen und Hörer. Darauf verwies die Landesregierung im April in ihrer Antwort auf die Große Anfrage der SPD zur Situation des Radiomarkts in NRW. Ebenso sei der Anteil lokaler Programmstunden „nicht per se ausschlaggebend für den Erfolg eines Lokalsenders und seine Bedeutung für die Meinungsbildung im jeweiligen Verbreitungsgebiet“.

Können die NRW-Privatsender das lokaljournalistische Loch füllen, das die Verarmung der Zeitungslandschaft reißt? 2003 hatten Ulrich Pätzold, Horst Röper und Helmut Volpers diese Frage mit Blick auf die lokalen Informationsangebote in Dortmund, Hamm, Köln und dem Kreis Lippe verneint: Aus „medienspezifischen Gründen“ könne der Lokalfunk keinen grundlegenden Ersatz für Defizite der Lokalpresse darstellen, heißt es in der Studie „Strukturen und Angebote lokaler Medien in Nordrhein-Westfalen“. Er könne „lediglich eine gewisse Ergänzungsfunktion erfüllen“. Die Medienwissenschaftler mahnten damals: „Hierbei schöpft der Lokalfunk in NRW sein medienspezifisch mögliches Potenzial in den untersuchten Regionen nicht voll aus.“

Lokales hebt die Quote

Ein Ergebnis war damals aber auch: Sender mit „umfangreicherer“ lokaler Berichterstattung erreichen höhere Quoten. Das scheint bis heute zu gelten, wie Radio Kiepenkerl mit neun Stunden eigenem Programm zeigt. Die EMA 2019/II weist für den Sender 45 Prozent Quote aus, er ist seit Jahren unter den Top 10 im Lokalfunk-Ranking zu finden.

„Wir versuchen, mindestens jeden zweiten Sendeplatz lokal zu nutzen. Unser Informationsanteil ist extrem hoch. Wir sind überzeugt, dass das, was vor der Haustür passiert, ins Radio gehört. Und damit punkten wir bei unseren Hörern“, erklärt Chefredakteur Kramer. In vielen Kreissendern sei die Philosophie, möglichst nur Themen zu senden, die überall relevant seien. Er sehe das anders: „Unsere Hörer nehmen es in Kauf, auch mal Themen aus einer anderen Stadt zu hören. Dafür wissen sie: Wenn es um meine Stadt geht, werde ich genauso informiert.“

Auch radio 91.2 in Dortmund legt Wert auf Information und guten Journalismus, sagt die stellvertretende Chefredakteurin Karin van Dyk. Jede Ratssitzung und viele Ausschüsse werden besucht; gesendet wird, was für die Hörer relevant ist. Van Dyk stört sich daran, dass oft nur politische Berichterstattung als Lokaljournalismus gesehen wird. „Wir berichten über lokale Themen, das ist doch alles Lokaljournalismus!“ Dabei liegt die stellvertretende Chefredakteurin Wert auf „solide“ Nachrichten: „Veranstaltungstipps in den Nachrichten, was andere Sender schon machen, sind bei uns verpönt.“

Die Ausrichtung ist auch darauf zurückzuführen, dass radio 91.2 mit dem WDR-Regionalstudio, einem Kabelpilotprojekt und der damals noch vielfältigen Zeitungslandschaft zum Sendestart viel Konkurrenz hatte. „Das Hörfunkpublikum war sehr verwöhnt.“ Heute laufen in der Frühsendung mindestens zwei „harte“ Themen. Das kann zum Beispiel die Spielstraße sein, in der gerast wird, ohne dass die Stadt etwas unternimmt. „Wir machen viele eigene Themen, die die Leute interessieren.“

Das erfordert das Dranbleiben über das Tagesaktuelle hinaus. Für eine solche Recherche bekam Karin van Dyk zusammen mit Redakteurin Alexandra Wiemer 2016 den Hörfunkpreis der LFM-NRW in der Kategorie Information/Recherche (siehe Kasten „Ausgezeichnete Qualität). Wiemer war im privaten Umfeld auf einen jungen Mann aufmerksam geworden, der nach einem schweren Angriff auf der Intensivstation lag. Er war bei einer Pöbelei im Bus einem Migranten beigesprungen, hatte sich vergeblich an den Sicherheitsmann gewandt und war dann nach dem Aussteigen angegriffen worden.

radio 91.2 griff den Fall auf und recherchierte hartnäckig weiter. Das hatte Auswirkungen: So werden in Dortmund heute zum Beispiel Videoaufzeichnungen aus Bussen länger aufbewahrt. Ein Highlight im Berufsalltag von Alexandra Wiemer: „Das geht doch jedem so. Es ist schön, eine Geschichte exklusiv zu haben.“ Für eine solche aufwendige Recherche fehle jedoch oft die Zeit. Das bestätigt van Dyk, die damals neben ihrer Nachrichtenschicht an dem Thema weitergearbeitet hatte.

Dass die Zeit für intensive Recherchen fehlt, ist aus allen Sendern zu hören. Wegen der meist dünnen Personaldecke hat sich das durch die Ausweitung der Sendezeiten verschärft. In der Regel produziert dasselbe Team heute mehr Beiträge. Dafür werden Themen mehrfach für verschiedene Sendeplätze aufbereitet. Zusätzlich sind noch Homepage und Social-Media-Kanäle mit Fotos und Videos zu bestücken.

Trotz aller Einschränkungen und Kritik: Der Lokalfunk in NRW ist ein wichtiger Baustein für die Meinungsvielfalt, sagt Volkmar Kah, Geschäftsführer für den DVJ-NRW. In immer mehr Städten und Kreisen gibt es nur noch eine Tageszeitung, Lokalausgaben konkurrierender Zeitungen werden übernommen.

Das System erhalten

Tatsächlich berichten Lokalfunker von Presseterminen, bei denen sie früher deutlich mehr Zeitungskollegen trafen. Vereine, Verbände, Unternehmen und auch Kommunen haben Probleme, mit ihren Themen überhaupt noch wahrgenommen zu werden. „Der Lokalfunk ist an vielen Orten die letzte Bastion von Lokaljournalismus. Deshalb ist es so wichtig, dieses System zu erhalten“, mahnt Kah. Der DJV-NRW richtet sich entschieden gegen Bestrebungen, das Zwei-Säulen-Modell gravierend zu ändern und unrentablere Stationen dicht zu machen.

„Ich wundere mich auch sehr, dass die Landesregierung und Kommunalpolitiker das Lokalfunk-Modell nicht deutlicher unterstützen“, sagt Andreas Kramer von Radio Kiepenkerl. „Wo sonst als bei uns können sie ihre Themen anbringen, auch bei einem jüngeren Publikum?“||

Die anderen Teile der Titelgeschichte aus JOURNAL 5/19:
Aus dem Kreis ausbrechen
Vielfalt wagen!
Lokaljournalistische Experimente (ergänzend zum Heft)


Ein Beitrag aus JOURNAL 5/19, dem Medien- und Mitgliedermagazin des DJV-NRW, erschienen im Oktober 2019.