Die Hecke ist geschnitten, erste Wände sind schon geweißelt. Das Telefon: aus. Das Email-Postfach: läuft ungesehen voll, denn Michael Jacobs ist erst mal weg. Der Blattmacher am Produktionsdesk der WAZ in Essen macht eine redaktionelle Pause unter dem Motto „Zeit statt Geld“. So heißt das Angebot, das im aktuellen Tarifvertrag für Redakteurinnen und Redakteure an Tageszeitungen verankert ist, dem die Funke Mediengruppe derzeit noch unterliegt.
Die Vereinbarung ermöglicht insgesamt bis zu vier Wochen Auszeit jenseits des regulären Urlaubs (siehe Kasten „So funktioniert ‚Zeit statt Geld‘“). Jacobs füllt seine vier Wochen mit körperlicher Arbeit, weil das Haus dringend renoviert werden muss. Der normale Urlaub hätte dafür nicht gereicht, auch Wochenenden nicht, erzählt er. Jacobs ist der erste seiner Art bei Funke.
So funktioniert „Zeit statt Geld“
Redakteurinnen und Redakteure, die in der obersten Tarifstufe sind, verdienen durch vier Wochen Auszeit brutto etwa 5 000 Euro weniger, einkommensteuermäßig sind in diesem Fall rund 200 Euro weniger zu entrichten.
Ein Vorteil des Angebots ist, dass sich am Urlaubsanspruch nichts ändert: Es werden keine Tage abgezogen. Um allerdings zu verhin-dern, dass das Urlaubsgeld reduziert wird, empfiehlt sich, die Zeit-statt-Geld-Phase an einen Urlaub dranzuhängen.
Spätestens sechs Wochen vor Beginn der Zeit muss man seinen Antrag beim Arbeitgeber schriftlich einreichen. Da der Anspruch im Tarifvertrag festgeschrieben ist, können tarifgebundene Arbeitgeber das Ansinnen nur aufgrund wichtiger betrieblicher Gründe ab-lehnen. In diesem Fall muss der Arbeitgeber dann aber eine Alternative unterbreiten.
Zur Berechnung der Ansprüche und für weitere Fragen zum Thema, etwa mit Blick auf Teilzeitkräfte, hat der DJV-NRW ein FAQ auf seiner Webseite veröffentlicht.
Auch in anderen Verlagen in NRW gibt es Pioniere, die diese Möglichkeit für sich nutzen: Sie wollen Zeit haben für die Betreuung eines erkrankten Familienangehörigen, eine längere Reise machen oder haben das Gefühl, kurz vor einem Burnout zu stehen und mit einer längeren Auszeit dagegen angehen zu können.
Mit der Vereinbarung „Zeit statt Geld“ konnten die Gewerkschaften 2022 erstmals die Idee der besseren Work-Life-Balance auch als verbrieftes Recht in den Tarifvertrag für Tageszeitungen hineinverhandeln. Für den Printbereich ein wichtiger Schritt in Richtung Modernisierung der Tarifverträge, der nicht nur von den Sparforderungen der Arbeitgeberseite aus gedacht ist. Andere Bereiche der Medienbranche versuchen ähnliches und sind teilweise schon weiter (siehe Interview „Jenseits des Gehalts“).
Moderne Tarifpolitik wird auf Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite sehr unterschiedlich ausgelegt. Der DJV muss gerade im Printbereich für den Erhalt des Flächentarifs kämpfen. Bei den Verhandlungen über die verdiente Anpassung der Gehälter steht auf Verlegerseite zugleich immer die Drohung im Raum, dass weitere Medienhäuser sich aus der Tarfbindung verabschieden.
Ungleichheit schafft Unzufriedenheit
Auch in NRW, lange eine sichere Bank, wenn es zum Beispiel um Zeitungsstreiks ging, dünnt sich die Zahl der tarifgebundenen Beschäftigten aus. Denn selbst Häuser, die formal noch „der Fläche“ unterliegen, gründen oft tariflose Tochtergesellschaften für bestimmte Redaktionsteile oder für neuangestellte Kolleginnen und Kollegen. Die Folge: Redakteurinnen und Redakteure mit und ohne Tarif arbeiten Schulter an Schulter. Die Ungleichheit schafft naturgemäß Unzufriedenheit.
Der DJV hat eine Arbeitsgruppe moderne Tarife gegründet, die ausloten soll, welche Vereinbarungen getroffen werden können, die für die Beschäftigten eine Verbesserung jenseits reiner Gehaltserhöhungen bedeuten würden. Dazu würde alles gehören, was die Vereinbarkeit von Berufs- und Privatleben stärkt, was individuellen Wünschen nach mehr Flexibilität gerecht wird und mehr Zufriedenheit der Mitarbeitenden ermöglicht, ohne betriebliche Abläufe zu gefährden. An oberster Stelle der Wunschliste stünde bei vielen allerdings sicherlich: alles, was die Arbeitsbelastung in den Redaktionen senkt.
Den Kopf frei kriegen
Der Druck auf die Redaktionen ist extrem gewachsen, erzählt Yvonne Glandien von der Lippischen Landes-Zeitung. Bei der Urlaubsplanung für das Jahr sei ihr plötzlich klar geworden, dass zwei oder drei Wochen am Stück nicht reichen würden, „um mal runterzufahren, um den Kopf frei zu kriegen“. Die Onlineredakteurin entschied sich für zusätzliche zwei Wochen „Zeit statt Geld“, kombinierte das mit ihrem Sommerurlaub und konnte los.
„Das war die beste Entscheidung meines Lebens“, sagt die 36-Jährige. „Eat, Pray, Love“ nennt sie ihre Auszeit: Sie ist durch Griechenland gereist, hat viel Sightseeing gemacht, „ich habe auch einen Kochkurs gemacht und Griechisch gelernt“. Bei diesem Aktivurlaub habe sie richtig entspannen können. „Ich weiß, dass ich damit ziemlich privilegiert bin, ich kann es mir leisten.“ Berufseinsteigerinnen und Berufseinsteigern sei es nicht „mal eben“ möglich, auf ein halbes Gehalt zu verzichten. „Das ist schon ein kritischer Punkt bei diesem Angebot.“
Zumal sie die Zeit genutzt hat, um psychisch gesund zu bleiben, um ihre Arbeitskraft für den Arbeitgeber zu erhalten. „Die Belastung in den Redaktionen ist deutschlandweit hoch, die Zeitungsproduktion verändert sich, und der Wandel ins Digitale hat noch nicht so stattgefunden, wie er müsste“, sagt Glandien, „weder bei den Verlagen, noch bei den Lesern“. Die berufliche Zukunft stehe gefühlt für viele Kolleginnen und Kollegen auf der Kippe. „Kein Wunder, dass viele sich davon gestresst fühlen.“ Allein die Möglichkeit, trotz aufgebrauchter Urlaubstage noch ein langes Wochenende einreichen zu können „ohne große Diskussion“, das bezeichnet sie als großen Luxus.
In ihrem Verlag sei ihr Ansinnen mit Wohlwollen aufgenommen worden. „Nach meiner Rückkehr hat mich die Chefredaktion gefragt, ob mir die Zeit gutgetan hat.“ So gut sogar, dass sie im kommenden Jahr gern erneut losziehen würde. Ob und wann sich das zeitlich mit ihren Projekten vereinbaren lässt, sei noch ungewiss. Und ja, diese Chance hätten nicht viele: „Das schafft Ungleichheit.“
Yvonne Glandien würde sich wünschen, dass solche Möglichkeiten für alle Verlagsbereiche ausgeweitet werden und die Gewerkschaften für dieses Ziel eng zusammenarbeiten.
Inspiration aus anderen Branchen
Für Gerechtigkeit setzt sich auch Christian Wienzeck ein, der sich als Referent in der Geschäftsstelle des DJV-Bundesverbands unter anderem um Tarife bei Verlagen kümmert und in dieser Rolle Verhandlungsführer bei Tarifverhandlungen ist. Die Idee zu „Zeit statt Geld“ sei „nicht während der Verhandlungen vom Himmel gefallen“, sondern in früheren Diskussionen schon angedacht worden. Man habe bereits länger auf andere Branchen geguckt, in denen beispielsweise Sabbaticals möglich sind. Aber was etwa für Lehrerinnen und Lehrer möglich ist – eine einjährige Auszeit –, sei auf die Medienbranche nicht einfach übertragbar.
Die neue DJV-Arbeitsgruppe und die Tarifkommission seien „immer auf der Suche nach Möglichkeiten, den Tarifvertrag attraktiv zu gestalten – für Arbeitnehmer- wie Arbeitgeberseite“, erzählt Wienzeck. Meist kreise die Debatte in den Verhandlungen um das Thema Geld, die Arbeitgeberseite beharre auf dem Mantra „Mehr haben wir nicht“, die Arbeitnehmerseite betonte: „Wir brauchen mehr“. Um Beschäftigte an einen Verlag zu binden, seien deshalb ergänzende Angebote wichtig, weil sie attraktiv sind, den Arbeitgeber nichts kosten, rechtlich durchsetzbar sind – und für den Kollegen, die Kollegin ihr Geld wert.
Ist so ein Angebot für Arbeitnehmer bei allen Verlagen umsetzbar? Das müsse man sehr individuell betrachten, sagt der Gewerkschafter. In großen Häusern sei der zusätzliche Wegfall von Personal leichter abzufedern als in kleinen. „Und wohl nirgendwo kann man sagen: Morgen bin ich weg.“ Tarifrechtlich habe jeder und jede den Anspruch, „aber wenn es keine Vertretungsmöglichkeiten gibt, wird es schwierig“.
Den Zweck im Blick behalten
Betriebsrätinnen und Betriebsräte in den Verlagen müssten zudem darauf achten, dass das Angebot nicht entgegen dem eigentlichen Zweck genutzt werde. Das sei der Fall, wenn Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sich aus falsch verstandenem Berufsethos überarbeiteten und sich die nötige Erholung dann erkauften. „Dafür ist diese Regelung nicht gedacht“, mahnt Wienzeck. Journalistinnen und Journalisten seien oft nicht gut darin, auf sich selbst zu achten. Aber Rehamaßnahmen, eine Kur oder Krankschreibung müssten weiterhin das Mittel der Wahl sein, wenn die Gesundheit bedroht ist.
Bei Jürgen Primus von der Dülmener Zeitung war es nicht die eigene Gesundheit, sondern die seiner Frau, die seinen Einsatz erforderte. Dass er „Zeit statt Geld“ nutzen konnte, obwohl die Dülmener nicht mehr im Tarif ist, war für ihn ein Glücksfall. Sein Verleger Marc Bednara wollte „in so einer Situation maximale Hilfe leisten“ und gewährte die freien Wochen (siehe Kasten „Schnelle Hilfe in der Notsituation“). Allerdings verdeutlicht der Fall auch, dass in Häusern ohne Tarifbindung Großzügigkeit den Rechtsanspruch ersetzen muss.
Schnelle Hilfe in der Notsituation
Als die Frau von Jürgen Primus eine plötzliche Hirnblutung hatte, nutzte der Betriebsratsvorsitzende der Dülmener Zeitung Urlaub und freie Tage, um am Krankenbett zu wachen und da zu sein, wenn sie nach einer der vielen Operationen wach wurde.
Als es schließlich in eine Reha-Maßnahme ging, fragte er seinen Verleger, ob er für die Begleitung zwei Wochen Zeit statt Geld neh-men kann. Obwohl die Dülmener Zeitung aus dem Tarif ausgestiegen ist, stimmte Verleger Marc Bednara zu. In dem kleinen Haus kennt man sich und die Familien. Ein Glücksfall für das Paar: „Wir haben kleine Spaziergänge gemacht, ich bin auch mal allein aufs Rad gestiegen.“ Die Ruhe nach der aufreibenden Zeit habe beiden gutgetan.
Für seinen Chef war diese schnelle Hilfe selbstverständlich: „Wir sind zwar nicht mehr im Tarif, aber unsere Mitarbeiter sind uns ja nicht egal. In so einer Situation wollten wir maximale Hilfe leisten“, sagt Bednara.
In einer Notsituation würde er das wieder tun, erklärt der Verlagschef. Eine erkaufte Auszeit aus Freizeitgründen sei da schon kriti-scher, „die Arbeit muss ja von allen anderen gestemmt werden“. Er würde im Zweifel den Einzelfall betrachten, am Ende sei es auch eine Frage des Zeitpunktes.
Die Zeit-statt-Geld-Variante sei durch die fortlaufenden Sozialbezüge in jedem Fall sinnvoller als die Alternative unbezahlter Urlaub, glaubt Bednara. Letzeres sei zwar unbegrenzt möglich, aber dann zahle der Verlag nicht weiter in Rente und andere Kassen ein.
Den Ausstieg aus dem Tarif begründet Bednara mit „finanziellen Erwägungen. Wir sind ein kleines Haus“, erklärt der Verleger. Vieles sei gleich teuer, egal ob es wie bei ihm 6.000 Abonnenten gegenfinanzieren oder 60.000 oder sogar 260.000 Abos in größeren Verlagen.
Arbeitgeber sollten flexibler sein
Ähnlich sähe es für eine Redakteurin aus, die ihren Namen nicht gedruckt lesen möchte. Sie bedauert, dass es in ihrem Verlag im Osten von NRW nur einen Haustarif gibt, der die Möglichkeit „Zeit statt Geld“ nicht vorsieht. „Ich müsste Sonderurlaub beantragen, wenn ich zusätzliche freie Tage benötige“, erklärt die Redakteurin. Ihr Job erfordere maximale Flexibilität, „das würde ich mir von meinem Arbeitgeber auch wünschen“.
Im Kollegenkreis spürt sie viel Unzufriedenheit, mancher trage sich mit dem Gedanken, den Verlag oder gar die Branche zu verlassen: Zu viel Druck empfinden sie, zu viel Zeit frisst der Arbeitsalltag. Insbesondere den jüngeren Kolleginnen und Kollegen sei Freizeit heilig, dafür seien sie auch bereit, Stunden zu reduzieren.
Sie selbst hatte eher den Wunsch, etwas mitzugestalten und wurde deshalb Gewerkschaftsmitglied. Und die 33-Jährige ging in eigener Sache in Gehaltsverhandlungen. „Ich möchte Anerkennung nicht nur in Worten, sondern auch in Zahlen spüren“, macht sie deutlich. „Arbeit muss sich lohnen, ich will als Arbeitnehmerin ernst genommen, nicht als Bittstellerin behandelt werden.“
Die Verhandlungen zogen sich ein Jahr, am Ende sprangen eine neue Stelle und mehr Gehalt für sie heraus. „Kämpfen lohnt sich“, ist ihre Erkenntnis und ihr Appell. Auch in Richtung jener, die in einem Verlag mit Tarifbindung arbeiten und automatisch Gehaltssprünge entsprechend der Berufsjahresstaffel erhalten. Diese Selbstverständlichkeit müsse ein echter Ansporn sein.
Was wollen die Beschäftigten?
Das würde Christian Wienzeck sicher unterschreiben. Mit den Überlegungen zur Ausgestaltung von „Zeit statt Geld“ seien die Überlegungen zur modernen Tarifpolitik noch nicht am Ende, betont Wienzeck.
Man würde gern auch ein halbes Jahr oder mehr ermöglichen, aber dazu stellten sich viele rechtliche Fragen. Allerdings sieht Wienzeck auch, dass die Krisen in der ganzen Welt, die Inflationsrate und die steigenden Energiepreise es gerade nicht leicht machen, Angebote wie „Zeit statt Geld“ wahrzunehmen. „Wir haben zu dem Angebot ganz unterschiedliche Rückmeldungen erhalten – einige sehr positive und andere eher zurückhaltende“, sagt der Tarifexperte.
„Der Monatsblock ist ein erster Aufschlag“, macht Wienzeck klar. Das Angebot, das seit Januar 2022 in Kraft ist, wurde mit dem Abkommen zur Inflationsausgleichsprämie zusammen mit dem laufenden Tarifvertrag verlängert und gilt unverändert bis zum 31. Dezember 2024. Vor den nächsten Tarifverhandlungen will der DJV genaue Zahlen ermitteln, um zu schauen, ob es den Bedürfnissen der Zielgruppe entspricht.
Haben genug Leute davon erfahren?
Vielleicht haben die Infos in Newslettern und Mails der Gewerkschaft aber auch einfach noch nicht genug Menschen erreicht. Oder zum falschen Zeitpunkt. Der fleißig renovierende Michael Jacobs registrierte die Chance erst ein Jahr nach der Einführung beim Betriebsräte-Treffen des DJV-NRW in Oer-Erkenschwick. Bei Jacke, wie er von seinen Kollegen genannt wird, machte sich der Gedanke breit: Das wäre was für mich.
Er rechnete sich aus, was ihn die berufliche Pause kosten würde und beschloss: Das kriege ich hin. Wohlwissend, dass seine Lebenssituation mit einer ebenfalls berufstätigen Frau komfortabel ist und Familien mit Kindern etwa kaum auf ein Gehalt verzichten könnten.
Die Zeit hat er genutzt, um selbstbestimmt und im eigenen Rhythmus mit den Händen zu arbeiten und sich mal keinen Kopf zu machen. Denn zur Wahrheit gehört auch, dass die Redakteursarbeit am Blattmacher-Desk in Essen herausfordernd ist, an manchen Tagen fast zu viel.
Den Zeitpunkt sorgfältig gewählt
Damit ihm die Auszeit nicht aus betrieblichen Gründen verwehrt werden konnte, schaute Jacobs in den Dienstplan und legte sich dann auf einen Zeitraum im Oktober/November fest. Sein Schreiben überraschte auch die Vorgesetzten, bei denen sich diese Möglichkeit noch nicht herumgesprochen hatte. Nach seinem Antrag lief aber alles „wie von selbst, das klappte alles prima!“
Dass seine Auszeit die Kollegen belastet, sie weniger frei bei der Wahl von Ausgleichstagen nach Sonntagsdiensten sind, ist die Kehrseite der Medaille. „Aber ich habe extra eine Zeit ausgewählt, in der fast alle da sind, das sollte hinhauen“, ist sich Michael Jacobs sicher. Und dann erzählt er, dass er ganz schön Muskelkater hat, weil die Arbeit ungewohnt und anstrengend ist. Vielleicht war es doch richtig schön, nach seiner Auszeit an den Schreibtisch zurückzukehren.||
Ein Beitrag aus JOURNAL 4/23, dem Medien- und Mitgliedermagazin des DJV-NRW, erschienen im Dezember 2023.