Kommunikationswissenschaftler Thorsten Quandt im Zoom-Gespräch mit Andrea Hansen.
Kommunikationswissenschaftler Thorsten Quandt im Zoom-Gespräch mit Andrea Hansen. | Screenshot
 
THEMA | Ein anderer Arbeitsalltag

Mehr als nackte Zahlen

Wie sich die Berichterstattung über Corona verändert hat
5. Juni 2020, Andrea Hansen

Thorsten Quandt ist seit 2012 Professor am Institut für Kommunikationswissenschaft der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Zusammen mit seinem Team hat er zunächst Facebook-Posts sogenannter „Alternativmedien“ zu Corona analysiert und so herausgefunden, dass wenig Falschnachrichten verbreitet werden, dafür aber viele Verschwörungsmythen. Anschließend haben sich die Expertinnen und Experten für Onlinejournalismus die Facebook-Posts klassischer Medienmarken von Januar bis März vorgenommen. Mit dem JOURNAL sprach Thorsten Quandt im Mai (kurz vor Veröffentlichung der Studie) über Ergebnisse und Erkenntnisse.

JOURNAL: Wie haben Sie die journalistischen Produkte der klassischen Medien untersucht?

Quandt: Genauso wie die der sogenannten „Alternativmedien“: Wir haben das nicht manuell ausgewertet, sondern die Kollegen Computer drangesetzt, die identifizieren unter anderem die Themen der Berichterstattung oder die Hauptakteure. Die erkennen Muster, das ist zunächst einmal Mathematik.

Dabei fällt auf, dass die Berichterstattung in den klassischen Medien breiter und qualifizierter ist als die der „Alternativmedien“. Sie umfasst alle Systembereiche unserer Gesellschaft, zum Beispiel auch Sport und Kultur. Sie schießt sich nicht darauf ein, Entscheidungsträger zu diskreditieren. Während die Lokalzeitung sich auch solchen Fragen zuwendet, was Corona für das kleine Theater nebenan bedeutet, befassen sich viele Alternativmedien letztlich nur mit Macht- und Ideologiefragen.

JOURNAL: Hat sich die journalistische Berichterstattung denn im Laufe der Krise verändert?

Quandt: Zu Beginn gab es viel nackte Information, viele Zahlenpräsentationen, auch „Horse-Race-Berichte“ à la Land A macht es besser als Land B. Aber im Zeitverlauf wird die Berichterstattung breiter – und wir haben nur bis März geguckt! Andere Themen begannen da, mehr Raum einzunehmen, es wurde regionaler und auch menschlicher. Der Journalismus hat die Kritik, dass er sich anfangs zu sehr an Zahlen und Verlautbarung geklammert hat, auch aufgenommen und darauf mit Veränderungen reagiert.

Was wir mit unserem Beobachtungszeitraum nicht mehr komplett abgedeckt haben, war die Debatte darum, ob der Journalismus sich die Zusammenhaltsdebatte im Zeichen von Corona zu sehr zu eigen gemacht hat. Grob zusammengefasst kann man aber sagen, dass es ganz klar einen Unterschied gibt zwischen dem Beginn der Krise und dem weiteren Verlauf. Der Journalismus hat sich davon erholt, dass auch ihn diese Krise überrascht hat, und er hat seine Berichterstattung ausgeweitet vom nackten Datenmaterial hin zu seinen eigentlichen Aufgaben.

Wie sich der Arbeitssalltag für Journalistinnen und Journalisten unter Corona verändert hat, zeigt der Haupttext unserer Titelgeschichte „Die neue Normalität im Journalismus“.

JOURNAL: Mit Corona haben wir das erste Ereignis seit dem Zweiten Weltkrieg, das wirklich auf jeden Menschen im Land einen Effekt hat. Wie hat denn der Mensch Thorsten Quandt die Berichterstattung wahrgenommen, und wie passte die subjektive Wahrnehmung zu den objektiven Daten?

Quandt: Was ich als Individuum zu Beginn unschön fand, war die Tendenz, dass über Corona teilweise im Duktus von Sportberichterstattung geschrieben wurde, als ob es da um einen Länderwettkampf und nicht um Menschenleben ginge. Und das wurde dann noch gepaart mit dieser deutschen Eigenart, sich als Klassenprimus zu gerieren. Als ich beim Lesen dieses ungute Gefühl bekam: „Hey, guck mal, unsere Mannschaft spielt super, die anderen haben viel mehr Tore gekriegt als wir“ – nur dass die Tore halt Tote waren. Das fand ich makaber und nicht angemessen.

Da würde ich einfach eine andere Kontextualisierung empfehlen. Aber bei aller Kritik sollte man auch immer überlegen, was der Gegenvorschlag sein könnte. Da ist leider aus meinem eigenen Fach zu wenig Konstruktives gekommen. Die vehemente Kritik, die einige Kollegen aus der Kommunikationswissenschaft formuliert haben, kann ich aufgrund unserer Datenbasis so nicht bestätigen. Und dann wurde diese teilweise destruktive Kritik noch ungewollt zu Argumentationsmaterial von Demokratiefeinden, das ist nicht hilfreich. Kritik am Journalismus muss sein, aber um ein an sich gutes System zu verbessern – nicht, um es zu zerstören.

JOURNAL: Welche Verbesserungsvorschläge hätten Sie denn noch?

Quandt: Es ist wichtig, auch Stimmen Gehör zu verschaffen, die nicht automatisch im Zentrum des Diskurses stehen. Doch dabei muss man Vorsicht walten lassen. Der Journalismus neigt des Öfteren zur False Balance – einem Virologen stellt man keinen Gates-Verschwörungsmythen-Anhänger oder Corona-Leugner gegenüber, sondern einen anderen Experten. Sonst bildet man die Gesellschaft verzerrt ab.

Aber es bleibt ein Dilemma im Journalismus. Als die Zustimmungswerte zu den Maßnahmen der Politiker besonders hoch waren, fühlte sich eine kleine Minderheit gar nicht abgebildet und ist darum auch so wütend geworden. So konnte zum Beispiel ein Wolfgang Wodarg ein Podium bekommen. Der hat in diesem Kontext keine aktuelle Expertise, ist nicht mehr aktiv in der Politik oder Forschung. Aber er bekam Relevanz darüber, dass er in den Sozialen Medien zum Säulenheiligen bestimmter Interessen gemacht wurde und dort für unglaublich viel Traffic gesorgt hat. Und so ist er dann in den Medien gelandet, was nach klassischen Nachrichtenwerten und in normalen Zeiten nicht passiert wäre.

Aber ein wenig mehr Vielfalt bei den Köpfen und nicht immer der Rückgriff auf dieselben Gesprächspartner bzw. Expertinnen aus Politik, Forschung oder Gesellschaft, die beim letzten Mal so gut funktioniert haben, täte dem Journalismus schon gut. Das würde den Kritikern auch ein wenig den Wind aus den Segeln nehmen und eventuell sogar ein paar spannende neue An- und Einsichten liefern. ||

 

Ein Beitrag aus JOURNAL 3/20, dem Medien- und Mitgliedermagazin des DJV-NRW, erschienen im Juni 2020.