„Schalt dein Radio ein“: “: Mitte der 1980er Jahre hörte man seinen Lieblingssender im Küchenradio, im Auto, über den Tuner der Stereoanlage oder unterwegs mit einem Transistorradio. Heute ist das klassische Radioprogramm auf vielen Wegen zu empfangen: über UKW, DAB+, im Netz, per App oder über Smartspeaker. Zugleich schafft die Digitalisierung Konkurrenz: Über das Internet sind unzählige Sender und Streamingdienste aus aller Welt hinzugekommen, dazu die terrestrischen Radioprogramme über DAB+. Audio-on-Demand-Angebote wie Podcasts oder Sendemitschnitte konkurrieren zusätzlich um die Zeit, die Nutzerinnen und Nutzer mit Audio verbringen.
Noch hören mehr als 55 Prozent der Menschen Radio über UKW, wie die „Audio Trends 2022“ der Landesmedienanstalten zeigen (siehe Kasten), aber die digitale Nutzung steigt – vor allem bei den Jüngeren. Mit Blick auf diesen Trend investieren die Sender in NRW in ihre Digitalangebote. Wie sie das machen, lässt sich an zwei Beispielen aufzeigen: am Deutschlandradio (mit Sitz in Köln und Berlin) und den Lokalfunk-Sendern der ams- Gruppe im Nordosten von NRW.
„Kernpunkt unserer Digitalstrategie ist es, Reichweite aufzubauen. Wir müssen die Menschen dort erreichen, wo sie sich bewegen“, sagt Uwe Wollgramm, Chef der Betriebsgesellschaften und der Servicegesellschaft ams der Lokalfunksender in Ostwestfalen-Lippe und im Kreis Warendorf, zusammengefasst als OWLplus (Radio Bielefeld, Radio Gütersloh, Radio Herford, Radio Hochstift, Radio Lippe, Radio Westfalica und Radio WAF).
Audio-Trends 2022
Quelle: www.die-medienanstalten.de/audio-trends-2022
Nachrichten als Klickbringer im Netz
Aber die Übertragung des lokalen Programms als Internetstream reicht nicht: „Wir müssen das, was uns im Radio erfolgreich macht, ins Digitale bringen, um damit Werbeerlöse zu erzielen.“ Große Klickbringer im Netz seien die lokalen Nachrichten sowie Wetter und Verkehr. Die Relevanz der lokalen Informationen habe die Coronapandemie gezeigt: Im April 2020 hatten die Webseiten und Apps der OWLplus-Sender die meisten Visits aller in der IVW ausgewiesenen Radiostationen in Deutschland – noch vor dem landesweiten Privatsender Antenne Bayern.
Apps spielen für Radiosender eine wichtige Rolle. Wer Radio übers Smartphone konsumiert, nutzt kaum die Webseite, sondern Apps, die
zudem weitere Inhalte liefern. Mit Push-Nachrichten zum Beispiel über Unfälle und mit Hinweisen auf das laufende Programm schalten mehr Menschen das Radio ein, was wiederum höhere Werbeeinahmen bringt, erklärt Wollgramm.
Auf welchem Weg Hörerinnen und Hörer die Deutschlandradio-Angebote konsumieren, ist Dr. Nicola Balkenhol letztlich egal. Seit 2014 ist sie Leiterin der Abteilung Multimedia-Online. Ziel der Digitalstrategie ist es auch hier, mit dem Programm möglichst viele Menschen zu erreichen. Schon früh setzte der bundesweite Sender auf digitale Ausspielwege: Seit 2005 gibt es Sendungsmitschnitte als Podcast auf iTunes. Zusammen mit dem Bayerischen Rundfunk gehörte Deutschlandradio zu den ersten deutschen Radiosendern auf Spotify. Mit seinen drei Programmen Deutschlandfunk, Deutschlandfunk Kultur und Deutschlandfunk Nova ist das öffentlich-rechtliche Angebot auf allen relevanten Plattformen vertreten.
Das gilt im Übrigen für alle größeren UKW-Sender aus NRW: Die Programme des WDR werden gleichzeitig im Web ausgespielt, es gibt zusätzliche Streams und Podcasts. So ist es auch bei den 44 Lokalfunkstationen. Das Programm von NRW1, seit Oktober 2022 das zweite landesweite Privatradio in NRW (siehe auch Seite 37), lässt sich über UKW, DAB+ und im Netz verfolgen, verzichtet aber bisher auf zusätzliche Streams und Podcasts. Auf den gängigen Social-Media-Kanälen findet man die meisten Sender ebenfalls, Apps und sogenannte Skills für Smartspeaker haben alle.
Gute Inhalte allein reichen nicht
Die 2017 eingeführte Dlf-Audiothek-App spielt in der Digitalstrategie von Deutschlandradio eine zentrale Rolle, auf ihr sind alle Audio-Angebote der drei Programme zu finden. Außerdem gibt es eine reine Nachrichten-App. Gute Inhalte reichen aber nicht aus, um Nutzerinnen und Nutzer zu erreichen, sagt Balkenhol. Deshalb hatte das Deutschlandradio 2020 den „Dlf Piloten“ ins Leben gerufen, ein Projekt, das sich mit Fokus auf nutzerzentrierte Designentwicklung den Zukunftsfragen von Deutschlandradio im Digitalen widmet. Systematisch wurden unter anderem User Journeys abgefragt, also die Erfahrungen, die Testpersonen mit der App machten. So konnten Probleme identifiziert und teils auch schon beseitigt werden.
„Wir haben nicht alles neu gemacht, sondern zum Beispiel oft verwendete Features verbessert. Dabei haben wir besonders auf die Benutzerfreundlichkeit geachtet“, erklärt Balkenhol. Die App werde immer weiter entwickelt, aktuell die Startseite den Tageszeiten angepasst: Morgens wollen die Menschen wissen, ob die Welt noch steht und was für den Tag wichtig ist, abends sehen sie eine Tageszusammenfassung oder extra für die App erstellte Angebote wie „Zeit zum Hören“. Wichtig bleibt: Die Livestreams müssen leicht zu finden sein.
Ohne digitale Angebote sind besonders jüngere Zielgruppen schwer zu erreichen, weiß auch Wollgramm. Deshalb entwickelten die ams-Sender schon 2011 (als erste der Lokalstationen in NRW) eigene Apps, die inzwischen auf mehr als 300 000 Geräten heruntergeladen wurden. Zur Einordnung: Im Verbreitungsgebiet der OWLplus-Sender leben etwa 2,3 Millionen Menschen.
Mit der lokalen Kompetenz der Redaktionen will die ams auch im Digitalen Geld verdienen. So gibt es zum Beispiel einen „Eiskratz- und Schneealarm“ auf den Apps: Wer zur Frühschicht in die Lokalredaktion fährt, merkt als erstes, ob Autoscheiben zugefroren sind oder langsameres Fahren angesagt ist. Diese Infos werden an Nutzerinnen und Nutzer ausgespielt, die sich dann sogar früher vom Handy wecken lassen können. „Das kann man wunderbar vermarkten!“, sagt der ams-Chef erfreut.
Vermarktung im Blick
Wetter und Verkehr sind auch im UKW-Geschäft gut zu verkaufen – als sogenannte Patronate. Wer diese Werbeform bei einem der OWLplus-Sender buchen will, muss sie gleich fürs Webradio mitkaufen. So wollte die ams von Anfang an auch im Netz Geld verdienen. Je mehr Menschen Radio online konsumieren, desto teurer wird es nämlich wegen der Datenübertragung für die Sender, im Gegensatz zur UKW-Verbreitung, bei der die Kosten für die Ausstrahlung unabhängig von den Hörerzahlen gleich bleiben.
Deswegen ist es für die Privatradios wichtig, die digitalen Angebote zu vermarkten, zumal die Einnahmen über den klassischen Verbreitungsweg sinken. Während die Öffentlich-Rechtlichen die neuen Verbreitungswege über Rundfunkbeiträge finanzieren, müssen Privatradios das Geld dafür über Werbeeinnahmen erwirtschaften. Das wird zunehmend schwieriger, denn die Radionutzung geht zurück. Hörten 2018 noch 53,3 Millionen Menschen ab 14 Jahren montags bis freitags täglich Radio, sind es 2022 noch 52,6 Millionen. Zusätzlich sinkt die Verweildauer, den Programmen wird nicht mehr so lange gefolgt wie früher. Beides lässt die Werbeerlöse sinken.
Wollgramm sieht die Notwendigkeit, die Hörerinnen und Hörer auch über Smartspeaker wie Alexa und über Plattformen wie TuneIn oder internetradio-hoeren.de zu erreichen, ärgert sich aber, dass diese eigene Prespots und Werbeunterbrechungen schalten und so „mit unseren Inhalten Geld verdienen“. Um Hörerinnen und Hörer nicht zu nerven, unterbrechen die ams-Sender ihre Streamingangebote (wie „Radio Bielefeld – Dein 90er Radio“) bewusst nicht zu lange durch Werbung und setzen auch nur einen Spot davor.
Erfolgs-Podcast aus OWL
Eine weitere Vermarktungsmöglichkeit bieten Podcasts. Die erfolgreiche Reihe „Verbrechen von nebenan“ liegt auf Platz 11 der aktuellen ma Podcast. Seit Februar werden die Downloadzahlen von knapp 160 Podcasts der teilnehmenden Anbieter auswertet. Allein im Oktober 2022 wurden die Folgen der True-Crime-Reihe mehr als zwei Millionen Mal abgerufen. Sie startete 2019, als Host Philipp Fleiter noch Moderator bei Radio Gütersloh war. Die Podcastfabrik, die zur ams gehört, produzierte die ersten 24 Folgen und verdient immer noch gut an deren Vermarktung. Wollgramm betont, dass auch die Lokalradios direkt von Podcasts für externe Kunden profitieren, weil dort Werbung für neue Formate gebucht wird.
Die Deutschlandradio-Audioangebote sind selbstverständlich werbefrei. Das Angebot ist groß, bis zu 140 Reihen gab es früher. Diese Zahl werde aber gerade heruntergefahren, erzählt Balkenhol, denn die Podcastwelt habe inzwischen andere Ansprüche. Sendungsmitschnitte mit einem Jingle zu versehen, reiche nicht mehr aus. Stattdessen soll es künftig mehr eigenständige Podcast-Formate geben, um größere Reichweite zu generieren. Die Konkurrenz ist allerdings groß, weiß Balkenhol. „Bei der ma Podcast werden wir kaum unter die ersten fünf kommen, aber unter die ersten zehn, das ist schon das Ziel.“ Bislang tauchen die Deutschlandradio-Programme nicht in der Quotenmessung auf, das soll aber bald kommen.
Insgesamt seien die Hörer-/Nutzerzahlen in den letzten acht Jahren gestiegen, hauptsächlich durch die App, erklärt Balkenhol. Die Programme sind zwar über UKW in ganz Deutschland zu empfangen, aber das Sendernetz deckt längst nicht alle Regionen ab, und DAB+-Radios sind immer noch nicht weit verbreitet, obwohl die Zahlen auch hier inzwischen hochgehen. Alle drei Programme sind seit dem Start des ersten bundesweiten DAB+-Multiplexes 2011 dort vertreten.
UKW vs. DAB+
Seit Jahrzehnten wird darüber diskutiert, wann UKW abgeschaltet wird, feste Austrittsdaten wurden immer wieder verworfen. Die EU-Vorgabe zum Einbau DAB+-fähiger Radios in alle Neuwagen, die seit Ende 2020 auf den Markt kommen, hat der Technologie einen Schub gegeben. Zudem ging im Oktober 2021 der erste landesweite DAB+-Multiplex in NRW an den Start. Hier besitzt inzwischen knapp ein Drittel der Haushalte ein DAB+-fähiges Radio, 2021 war es nur knapp ein Viertel.
Die Lokalradios sind allerdings auf DAB+ bislang nicht zu finden. Es gibt auch noch keinen landesweiten Multiplex für regionale oder gar lokale Angebote. Bei einer Abfrage der Landesanstalt für Medien 2018 hatten nur wenige Lokalradios Bedarf angemeldet. Die ams gehörte nicht dazu, weil Wollgramm die Onlinenutzung für die Zukunft gehalten hatte. „Ich hatte damals nicht gedacht, dass der Ausbau des schnellen Internets so lange dauert. Dies und die EU-Verordnung zum Einbau von DAB+-fähigen Radios in Neuwagen haben dazu geführt, dass ich meine Meinung revidiert habe. Wir werden an DAB+ nicht vorbeikommen.“ In ein bis zwei Jahren könnten die regionalen Multiplexe an den Start gehen. „Ich hoffe, dass die Landesmedienanstalt die Einführung finanziell unterstützt, damit die Lokalradios flächendeckend abgebildet werden.“ Viele kleinere Sender könnten sich das sonst finanziell nicht leisten.
Wichtig ist auf jeden Fall, auch mit digitalen Angeboten Geld zu verdienen – datenschutzkonform, wie Wollgramm betont. Als Beispiel führt er das landesweite Geldregen-Gewinnspiel an: Nach einer Umfrage auf den Radio-Websites „Was würdet Ihr mit dem gewonnenen Geld machen?“ könnte zielgerichtet Werbung an diejenigen ausgespielt werden, die geantwortet hatten. Aktuell ist noch nicht klar, ob dies künftig erlaubt sein wird. Mit Nutzungsdaten könnte auch das Programm optimiert werden, sagt Wollgramm, wobei es ihm nicht darum geht, mit Spaßposts auf Social-Media-Plattformen die Klickzahlen hochzutreiben: „Das wäre der Tod des Journalismus und würde die lokalen Radiomarken beschädigen.“
Interesse an Information
Unterhaltung sei zwar wichtig, aber die Hörerinnen und Hörer seien auch an relevanten Informationen interessiert. Mittlerweile arbeiten alle Lokalsender zusammen mit dem Mantelprogrammanbieter radio NRW daran, Inhalte und Alleinstellungsmerkmale der Lokalradios in die digitale Welt zu übertragen – die Reichweite der Lokalradio-Streams soll von aktuell 22 Millionen Sessions pro Monat bis 2024 verdoppelt werden.
Personalisierte Inhalte sind für viele Medien der Königsweg, um Nutzerinnen und Nutzer zu halten. Auch Balkenhol möchte ihnen in Zukunft durch Algorithmen personalisierte Inhalte zugänglich machen. Allerdings steht dabei für Deutschlandradio der durch den Staatsvertrag vorgegebene Informationsauftrag an erster Stelle. Ein Vorschlagssystem werde beispielsweise immer wieder auch politische Inhalte anbieten, selbst wenn diese Angebote sonst nicht angeklickt würden, erläutert Balkenhol. Nutzerinteressen und digitale Technik entwickelten sich immer weiter, da dranzubleiben sei wichtig. „Es geht darum, dass wir unseren öffentlich-rechtlichen Auftrag da erfüllen, wo die Leute sind.“||
Ein Beitrag aus JOURNAL 4/22, dem Medien- und Mitgliedermagazin des DJV-NRW, erschienen im Dezember 2022.