THEMA | Der Wert des Lokalen

Wie lokal bleibt Lokalfunk?

Was Sender-Kooperationen für die Berichterstattung vor Ort bedeuten
28. September 2023, Sascha Fobbe

Lokales ist unser Alleinstellungsmerkmal. Wenn wir das verwässern, wozu brauchen wir dann noch Lokalradios?“, fragt Andreas Kramer, Chefredakteur von Radio Kiepenkerl im Kreis Coesfeld. „Wir verstehen uns als Full-Service-Sender mit Themen aus der großen weiten Welt, aber mit dem Schwerpunkt auf dem Lokalen.“

Eine junge Reporterin hält ein Mikro mit der Aufschrift "Antenne Münster" vor die Kamera.
Reporterin Marit Brink von Antenne Münster: Sichtbar im Sendegebiet unterwegs zu sein stärkt die lokale Identität der einzelnen Sender. | Foto: Frank Sonnenberg

Im Gegensatz zu vielen anderen Stationen behandelt Radio Kiepenkerl auch mal Themen, die nur einen Ort im Verbreitungsgebiet betreffen. Dann muss es aber schon etwas Relevantes sein. Die Nachrichtenausgaben am Sonntag sind für Kramer ebenfalls essenziell: Gerade wenn die Tageszeitung nicht erscheine, seien journalistisch aufbereitete Meldungen besonders wichtig, die den Fake News etwas entgegensetzen könnten. Eine Regionalisierung hält der Chefredakteur für falsch.

Wie viel ist zuviel?

Die Frage nach der Regionalisierung hat im NRW-Lokalfunk gerade hohe Relevanz: Wie viel davon verträgt das System? Ab wann verliert es seine Funktion als lokaljournalistisches Medium – gerade in Zeiten, wo die Medienhäuser auch bei den Lokalzeitungen massiv sparen? Anlass für diese Diskussion ist der aktuelle Strukturprozess, der die Zukunftsfähigkeit des Lokalfunks sichern soll. Mehr Kooperationen und gemeinsame Funkhäuser wollen die Verleger, die hinter den Senderverbünden stehen. Der DJV-NRW begleitet den Prozess kritisch. Sein Credo: Das Ergebnis darf nicht zu einem weiteren Abbau lokaljournalistischer Angebote führen.

Radio Kiepenkerl gehört zur Münsterländischen Medien Service GmbH & Co. KG-Gruppe (MMS) und zeigt, dass die Frage selbst innerhalb von Senderverbünden unterschiedlich beantwortet wird. Die anderen drei MMS-Stationen – Antenne Münster, radio RST und radio WMW – gestalten seit 2020 ihr Sonntags-Vormittagsprogramm gemeinsam. Lokale Beiträge können an bestimmten Sendeplätzen eingeplant werden, ansonsten gibt es überregionale, häufig eher unterhaltsame Inhalte. Wenn etwas Aktuelles münsterlandweit interessant ist – wie der tödliche Messerangriff auf der münsterschen Kirmes im März –, kann dies im Live-Programm aufgegriffen werden.

Weniger Stunden am Wochenende

Eigentlich sollen die Lokalradios am Wochenende so viele eigene Stunden gestalten wie in der Woche. Aus Kostengründen – und in letzter Zeit vermehrt auch aus Personalmangel – haben viele Stationen ihre Sendestunden und Nachrichtenausgaben am Wochenende inzwischen verringert, teils auch wochentags die Nachrichten reduziert. Die Sendezeit in der Woche hingegen wurde in den letzten Jahren deutlich ausgeweitet, zwölf Stunden am Tag sind keine Seltenheit, besonders bei den Radios im Verbund der audio media service Produktionsgesellschaft mbH & Co. KG (ams) – die Sender  in Ostwestfalen plus Radio WAF im Münsterland.

Frank Haberstroh, Chef­redakteur von Radio WAF, steht neben einer roten Pferdeskulptur. Im Hintergnd ist das Redaktionsgebäude zu sehen.
Den Standort in Warendorf gibt Chef­redakteur Frank Haberstroh mit der Redaktion von Radio WAF aus Kostengründen im kommenden Jahr auf. | Foto: Frank Sonnenberg

Mehr Sendestunden lassen sich aber oft nur durch Kooperationen realisieren: So gibt es seit 2012 die Jugendsendung deinfm, die seit einigen Jahren jeden Abend auf allen sieben ams-Stationen läuft. Ein gemeinsames Tagesprogramm verbreiten seit 2015 Radio Westfalica und Radio Herford, damit waren sie Vorreiter im Lokalfunk-System. Grund hierfür war allerdings nicht etwa Sparzwang, widerspricht Radio-Herford-Chefredakteur Carsten Dehne anders lautenden Informationen, sondern vor allem der Mangel an Top-Moderatorinnen und -Moderatoren.

In gemeinsamen Programmstrecken werden allerdings eher regionale, oft auch überregionale Themen verbreitet. Ob die Lokalradios mit Gemeinschaftsprogrammen, teils verringerten Nachrichtenausgaben und weniger Sendestunden am Wochenende ihren gesellschaftlichen Auftrag noch erfüllen, ist aus Sicht des DJV-NRW diskussionswürdig. Die Landesanstalt für Medien NRW (LfM) sagt ja.

Laut Landesmediengesetz müssen lokale Programme unter anderem „das öffentliche Geschehen im Verbreitungsgebiet darstellen und wesentliche Anteile an Information, Bildung, Beratung und Unterhaltung enthalten“. Der LfM sind nach eigenen Angaben keine Fälle bekannt, in denen ein Lokalradio diesem gesetzlichen Auftrag nicht nachkomme. Bei konkreten Hinweisen „gehen wir diesen selbstverständlich nach“. Zahlen wollte die LfM dazu nicht nennen. Sie prüft auch nicht, ob die Beiträge in einem Programm gesellschaftlich relevant sind, qualitative Untersuchungen gibt es schon seit Jahren nicht mehr. Demnach wird auch nicht geprüft, ob (in Gemeinschaftssendungen) regionale oder lokale Inhalte verbreitet werden.

Treiber Fachkräftemangel

Ein Ziel der bisherigen Kooperationen ist es, weniger Stunden vom Mantelprogrammanbieter radio NRW zu übernehmen. Denn der behandelt häufig eher rheinlandlastige Themen, wie viele Sender im Münsterland und in Ostwestfalen bemängeln. Dies ist auch ein Grund, weshalb Radio Lippe seit 2022 nach der Frühsendung das Programm der beiden ostwestfälischen Nachbarstationen Radio Herford und Radio Westfalica übernimmt, ergänzt mit lokalen Inhalten. Hauptgrund für die Kooperation war in diesem Fall allerdings Fachkräftemangel: Ausgeschriebene Stellen konnten nicht besetzt werden, sodass bei Ausfällen Sendestrecken oft nur mit Mühe bedient werden konnten, heißt es vom Vorstand der Veranstaltergemeinschaft.

Auch Radio WAF sieht sich durch Personalmangel veranlasst, teilweise das Programm von Radio Gütersloh zu übernehmen: In Urlaubszeiten oder bei Krankmeldungen könne die eigene Mittagsstrecke sonst nicht sichergestellt werden, erklärt Chefredakteur Frank Haberstroh. Nur wenn bei Radio Gütersloh geplante lokale Beiträge überhaupt nicht zu Radio WAF passen, werde ein eigener lokaler oder überregionaler Beitrag eingeplant.

Faktor Werbeeinnahmen

Kooperationen ermöglichen auch höhere Werbeeinnahmen: Im eigenen Programm können Wetter und Verkehr auch nach den Weltnachrichten zur vollen Stunde an Werbepartner verkauft werden. Bei jeder Station wird dann trotz der gemeinsamen Sendungen der lokale Verkehrs- oder Wetterjingle ausgestrahlt. Mit der Software radio.cloud können sogar eigene unterschiedlich lange Inhalte eingeplant werden, dafür muss die Gemeinschaftssendung allerdings vorproduziert werden. Im „Near-to-live“-Betrieb lassen sich wenige Minuten vor Ausstrahlung noch Beiträge einfügen oder ersetzen. So sind lokale Nachrichten, Wetter und Verkehr weiter aktuell, und in Notfällen kann man live ins Programm gehen.

Auch die Lokalradios im Köln-Bonner Raum, die zum Medienhaus DuMont gehören, haben vor gut einem Jahr begonnen, ihre Kooperation mit Hilfe der radio.cloud auszuweiten, sagt Norbert Jeub, Chefredakteur von Radio Euskirchen. An mehreren Samstagen im Jahr gibt es „Rheinlandsendungen“ zu regionalen Ausflugstipps oder besonderen Konzerten in Köln. Durch die größere Reichweite über alle sieben Verbreitungsgebiete hinweg sei das Programm attraktiver für Werbekunden, erklärt Jeub. Weitere regionale Themenserien sind im Gespräch. Für Radio Euskirchen wäre dies ein Gewinn, weil es aus Kostengründen sonst keine eigenen Sendungen am Samstag gibt. Wichtig ist Jeub, dass die lokale Eigenständigkeit der Station nicht verloren geht. Mit zusätzlichen regionalen Themen hat er aber kein Problem: „Die Menschen hier sind ohnehin regional orientiert, gehen in Köln aus oder fahren nach Hürth zum Einkaufen.“

Eine größere Reichweite mit neuen Werbeformen und höhere Einnahmen waren auch das Ziel bei der Einführung eines neuen gemeinsamen Programms der sechs audiowest-Sender Ende Juni, dem „Sonntagsmodus“. Gefüllt wird die Vormittagssendung mit Kommentaren der Hörerinnen und Hörer zum jeweiligen „Thema der Woche“, etwa Urlaubssouvenirs oder Einschlafritualen, ergänzt durch lokale Wiederholungsbeiträge und Teaser auf die kommende Woche. Die Sendung wird vorproduziert, lediglich die lokalen Nachrichten, Wetter und Verkehr um halb sind aktuell, allerdings sind die nicht bei jeder Station vorgesehen. Ob der „Sonntagsmodus“ auch 2024 noch läuft, ist fraglich, die Vermarktungskooperation der sechs Sender wird zum Jahresende aufgelöst.

Wird Lokales zurückgedrängt?

Gemeinschaftsprogramme sind regional orientiert, ob und welche lokalen Inhalte ergänzt werden, hängt vom jeweiligen Lokalradio ab. Aber auch in eigenen Sendestunden vermitteln die Sender nicht nur Lokales. Um Hörerinnen und Hörer auf dem Laufenden zu halten, müssen auch überregionale und Weltthemen bedient werden. „Der Anspruch ist, relevantes Lokales und Überregionales in kurzer Form aktuell und zuverlässig im Programm zu haben“, erläutert Antenne-Münster-Chefredakteur Stefan Nottmeier.

Antenne-Münster-Chefredakteur Stefan Nottmeier steht vor einer Wand mit dem Logo des Senders.
„Der Anspruch ist, relevantes Lokales und Überregionales in kurzer Form aktuell und zuverlässig im Programm zu haben“, sagt Antenne-Münster-Chefredakteur Stefan Nottmeier. | Foto: Frank Sonnnberg

Die lokalen Inhalte könnten aber mit der Strukturreform weiter zurückgedrängt werden: „Lokal ist, was lokal interessiert“ steht im Letter Of Intent, der Grundlage für die neuen Verträge im Lokalfunk-System. Der DJV-NRW fürchtet, dass noch mehr lokale Inhalte auf der Strecke bleiben, besonders bei erzwungenen Funkhausmodellen, in denen die Sender nicht mehr im eigentlichen Verbreitungsgebiet sitzen.

Im NRW-Lokalfunk gibt es allerdings jetzt schon Funkhausmodelle, die nicht auf Sparzwang beruhen: Auf Betreiben beider Chefredakteure sitzen Radio Herford und Radio Westfalica seit Dezember 2022 in einem Funkhaus in Bad Oeynhausen. Die „gemeinsame WG“ sei nur eine Frage der Zeit gewesen, sagt Dehne und lobt: „Die Betriebskosten sind deutlich niedriger.“ Das sei „gut für das ganze Unternehmen“, auch wenn die Ersparnisse nicht direkt in den Programmetat flössen. Durch den gemeinsamen Standort habe sich nicht viel verändert, außer dass die Redaktionskonferenzen jetzt auch in Präsenz zusammen stattfinden. „Wir achten darauf, dass unser Mikrofon weiter im Kreis Herford zu sehen ist“, beteuert Dehne.

Der Umzug von Radio K.W., Radio Mülheim, Radio Oberhausen und Radio Emscher Lippe zum 1. Januar 2024 in die Essener Funke-Konzernzentrale ist ebenfalls eine Entscheidung der Chefredakteure. Reporterinnen und Reporter sollen dann in den jeweiligen Verbreitungsgebieten helfen, die lokale Identität zu wahren, die eigenen Programme bleiben bestehen, die neue gemeinsame Mittagsstrecke wird aber regional sein (siehe „Ein anderes Funkhausmodell“ JOURNAL 2/23).

In Sparzwängen vereint

Das erste Funkhausmodell im NRW-Lokalfunk beruhte allerdings auf Sparzwängen: Von 2003 bis 2020 war Radio Ennepe Ruhr im selben Haus wie Radio Hagen untergebracht. Das rettete den Sender aber nicht. Bis Ende 2022 sicherte radio NRW ein Notprogramm, Anfang des Jahres schlüpfte Radio Ennepe Ruhr bei Radio Wuppertal unter (siehe „Neustart in Gemeinschaft“, JOURNAL 4/22).

In diesem Fall sitzt die Redaktion also schon seit 20 Jahren nicht mehr im eigenen Verbreitungsgebiet. War das einer der Gründe für die schlechte wirtschaftliche Lage und schwache Quoten? Oder lag es doch eher an der seit Jahren minimalen Personalausstattung mit entsprechend geringem eigenen Programmanteil? Sicher ist, dass die lokale Identität zum Selbstverständnis der Lokalradios gehören sollte und von vielen auch als entscheidender Faktor für den Erfolg genannt wird.

Das sieht auch Chefredakteur Frank Haberstroh so. Trotzdem verlässt die Redaktion von Radio WAF Mitte nächsten Jahres das eigene Sendegebiet: Aus Kostengründen geht es mit Radio Gütersloh an einen neuen gemeinsamen Standort nach Rheda-Wiedenbrück. Inhaltliche Abstriche soll es nach dem Umzug nicht geben: Die Hörerinnen und Hörer „werden das nicht merken“, ist Haberstroh überzeugt. Vieles werde ohnehin telefonisch abgefragt. Die relevanten Termine vor Ort möglichst effizient zu besetzen sei dann eine Frage der Planung.

Andrea Donat, Chefredakteurin von Radio Bochum und Mitglied im Landesvorstand des DJV.NRW.
„Der Sinn von Lokalradio ist es, lokal vor Ort zu ­arbeiten“, betont Andrea Donat, Chefredakteurin von Radio Bochum und Mitglied im Landesvorstand des
DJV.NRW. | Foto: Uwe Voelkner / Fotoagentur FOX

„Redaktionen müssen vor Ort sein“

Andrea Donat, Schriftführerin im Landesvorstand des DJV-NRW und Chefredakteurin von Radio Bochum (ebenfalls zu Funke gehörend), sieht Funkhausmodelle wie das in Essen jedenfalls kritisch: „Der Sinn von Lokalradio ist es, lokal vor Ort zu arbeiten.“ Von wo aus der Moderator oder die Moderatorin spreche, sei nicht so wesentlich. Aber die Redaktion müsse vor Ort sein. Nur dann könne der Bürgermeister mal eben ins Studio kommen, nur dann könne ein Termin kurzfristig besetzt werden. Darüber hinaus sei der Sender „die Anlaufstelle für viele Hörerinnen und Hörer, die auch mit ihren Geschichten in die Redaktion kommen“. Ein Büro mit Senderlogo könne das nicht ersetzen.

Das beurteilt der DJV-NRW genauso. Die Funke-Gruppe hat schon angekündigt, weitere Funkhausmodelle zu forcieren. Andere Sendergruppen werden mit Funkhausmodellen nachziehen. Wichtig ist dem DJV-NRW dabei, „dass es nicht um den Erhalt von Sendermarken geht, sondern um den flächendeckenden Erhalt von lokaljournalistischer Kompetenz mit redaktionellen Strukturen vor Ort“, erklärt Geschäftsführer Volkmar Kah. Lokalradios müssten weiter in der Lage sein, ihren gesetzlichen Auftrag zu erfüllen und ihre Hörerinnen und Hörer über alle relevanten Themen aus ihrem Kreis oder ihrer Stadt zu informieren – auch über Politik.

„Wie sollen die Journalisten und Journalistinnen bei einer schleichenden Regionalisierung noch ihre Wächterfunktion ausfüllen?“, gibt Kah zu bedenken. Dazu gehöre, dass redaktionelle Mindeststandards auch beim Personal abgesichert werden müssen. „Der Lokalfunk hat eine gesellschaftliche Aufgabe, und er ist eine der demokratiesichernden Säulen in NRW. Es ist im Zweifelsfall die Aufgabe der Politik dafür zu sorgen, dass das auch so bleibt.“||

 

Ein Beitrag aus JOURNAL 3/23, dem Medien- und Mitgliedermagazin des DJV-NRW, erschienen im September 2023.