Selten ist der Hunger nach geprüften lokalen Informationen so groß wie in den Wochen nach der Flutkatastrophe im Sommer 2021. Dass ihre Arbeit gebraucht und gewürdigt wird, spornt die Redaktionen in den betroffenen Regionen bis heute zu einer engagierten Berichterstattung an und hat ihr Selbstbewusstsein gestärkt. Das gilt für die Kolleginnen und Kollegen der Rheinischen Redaktionsgemeinschaft (RRG) in Euskirchen und Gemünd, die die lokalen Inhalte für den Kölner Stadt-Anzeiger (KStA) und die Kölnische Rundschau (KR) liefern, genauso wie für die Redaktionsmitglieder der Westfalenpost in Hagen.
500 Zeitungsseiten später sitzt Christoph Heup in der Lokalredaktion Euskirchen und schaut auf eine lange To-Do-Liste an der Wand. „Gewässer“, steht darauf. „Beseitigung Schäden, Wiederaufbau, Förderung, Hilfen, Nachhaltigkeit, Infrastruktur, Mobilität, Vorhersagen…“ Es sind Kategorien, an denen sich die Redaktionen in Euskirchen und Gemünd für eine nachhaltige Hochwasserberichterstattung entlanghangeln. Gut 500 monothematische Seiten mit Flutberichten aller Art haben die 13 Redakteurinnen und Redakteure sowie zehn freien Journalistinnen und Journalisten bis Ende Mai gemacht. Auserzählt ist die Katastrophe vom Juli 2021 aber noch lange nicht.
„Wir müssen dranbleiben“ – das hatten sich Lokal- und Mantelredaktionen von KStA und KR bald nach der Katastrophennacht vorgenommen, berichtet Redaktionsleiter Christoph Heup. „Es war uns klar: In den ersten Wochen gibt es kein anderes Thema. Die Welt guckt hierher. Aber für die Menschen ist es wichtig, dass sie nicht in Vergessenheit geraten, wenn andere Schlagzeilen das Thema verdrängt haben.“
Eine endlose To-do-Liste
Verschiedene Reihen und Formate sichern diese Nachhaltigkeit bis heute. Darunter das „Flutbarometer“, mit dem die Redaktion in monatlichen Abständen analysiert, wie sich der Wiederaufbau entwickelt und wo es Probleme gibt. Oder die Video-Reihe „Flutprotokolle“, die das Schicksal von Flutbetroffenen über mehrere Monate hinweg verfolgt. Und eben die endlose To-do-Liste der beiden Lokalredaktionen.
Christoph Heup bezeichnet sich als „harte Kante“, aber man merkt ihm die Emotionen an, wenn er von den ersten Tagen und Wochen der Flutkatastrophe im Kreis Euskirchen erzählt. Da ist auf der einen Seite immer noch Betroffenheit über die brutale Zerstörung der Heimatregion, über die Toten, die man als Lokaljournalist oft persönlich kannte und deren Bergung man erleben musste. Oder über das Schicksal der eigenen Kolleginnen und Kollegen, die in der Flutnacht Todesangst erlebten oder alles verloren haben. Oder über die Reporterinnen und Reporter, die weinend von Recherchen zurückkamen und sich traumatisiert in Behandlung begeben mussten. Man spürt aber auf der anderen Seite auch Heups Stolz über die ungekannt hohe Wertschätzung der Leserschaft, seine Freude über den solidarischen Zusammenhalt des Teams – und natürlich die Aufregung, das Adrenalin, das jede Reporterin und jeden Reporter bei einem solchen Einsatz durchschießt.
So erzählt Heup die Anekdoten aus den ersten Nach-Flut-Tagen: Dass ein Kollege in seinem Urlaub in Wien Reportagen zusammenfügte, die ihm die Kollegen per SMS aus dem Katastrophengebiet schickten, weil sonst keinerlei Kommunikation funktionierte. Dass vor der Redaktion in Euskirchen ein Sattelschlepper quer lag, den das Wasser dorthin gespült hatte und man zunächst im Wohnzimmer einer Sekretärin arbeitete, weil das Büro für drei Wochen nicht benutzbar war. Dass Heup mit einer Flex in die total zerstörten Räume der Redaktion in Gemünd einbrechen musste, um nach dem Rechten zu sehen. Dass er dort auf einen Trupp wildfremder Spontanhelferinnen und -helfer aus Glücksstadt traf, die den Schlamm aus dem Büro schippten. Dass die Fotos per Stick in die Kölner Zentrale geschafft werden mussten, weil die zerstörte Infrastruktur keine digitale Übermittlung zuließ.
Hunger nach geprüfter Information
Was den Redaktionsleiter aber besonders beeindruckte, war „der Hunger der Leute nach geprüften Informationen“ und das neu erwachte Vertrauen, dass Lokaljournalistinnen und -journalisten in dieser Zeit erfuhren.
Die Seriosität des Journalismus hat sich bei diesem Heimspiel gegenüber der Schnelligkeit der überlaufenden Social-Media-Kanäle durchgesetzt. „Die Menschen hatten das Gefühl, dass sie sich auf die sozialen Netzwerke nicht verlassen konnten, weil dort übertrieben wurde und Warnungen liefen, die nicht stimmten“, berichtet Heup. Für ihn ein kleiner Triumph: „Früher haben die Leute zu mir gesagt: Es reicht mir, wenn ich mich auf YouTube oder Facebook informiere. Jetzt sagen sie: Nee, denen kann ich nicht trauen, ich komme lieber auf eure Homepage, ihr seid die Redaktion vor Ort.“
Selten waren die Informationen der Lokalreporterinnen und -reporter so wichtig und begehrt gewesen, aber selten war es auch so schwer, sie unter die Leute zu bringen: Nicht nur Strom und Internet fehlten – in großen Bereichen des Verbreitungsgebiets konnte auch die Printausgabe über Wochen nicht ausgeliefert werden. Die Grossisten wurden von Bundeswehr, Polizei oder Feuerwehr nicht in die abgesperrten Gebiete gelassen. Später bekam man vom Krisenstab die Erlaubnis, Zeitungspakete gratis im Ort auszulegen. „Und in den ersten Tagen haben wir unsere Seiten geprintet und an zentralen Punkten einfach an die Schaufenster geklebt und die Leute standen davor und informierten sich.“
Wenig glamouröse Kärrnerarbeit
Auf einmal sei in dieser Zeit ein „Ethos des Lokaljournalisten“ wieder da gewesen, „wie er wahrscheinlich auch nach dem Krieg war“, erzählt Christoph Heup. Um das Informationsbedürfnis der Menschen zu stillen, war neben dem pausenlosen Einsatz im Krisengebiet auch wenig glamouröse Kärrnerarbeit gefragt: So gab es die „Kommunensammler“ im Team, die über Wochen hinweg jeden Tag mit jedem Krisenstab und jeder Kommune gesprochen und alle wichtigen Fakten ständig aktualisiert haben. „Es war das, was die Menschen brauchten und was die Behörden oder Krisenstäbe zunächst nicht an die Leute bringen konnten“, erklärt Heup.
Zuletzt hat ein Redakteur in penibler Kleinarbeit eine interaktive Flutkarte der 234 Geschäfte in Euskirchen gefertigt, die darüber informiert, ob und wann die beschädigten Läden wieder öffnen. Auch so ein Service, der sonst nirgendwo zu finden war.
„Wir kommen wieder!“ hatte auch die heimatlose Redaktion in Gemünd bald auf einem Aushang am demolierten Bürohaus versprochen. Später hieß es: „Wir sind wieder da. Bitte den Hintereingang benutzen.“ Der führte zu einem Notraum im Obergeschoss. Wie es in den Redaktionsräumen unten aussieht, zeigt das Titelbild. Wenn die nach der Renovierung voraussichtlich Ende des Jahres wieder eröffnet werden, soll es ein großes Fest geben. „Dann werden wir alle einladen und das alles noch mal reflektieren“, verspricht Heup. „Für mich und viele Leserinnen und Leser ist wieder klar geworden, wie wichtig Lokaljournalismus ist.“
Eingespieltes Team in Hagen
Das würden wohl auch die Kolleginnen und Kollegen der Westfalenpost (WP) in Hagen sofort unterschreiben. Obwohl die Stadt an vier Flüssen liegt, ist Hochwasser hier normalerweise kein Thema. Eine Flut dieser Dimension war bis dato unvorstellbar gewesen. Also hatte die Redaktion auch keinen Notfallplan in der Schublade, als die Volme ihre Stadt in ungekanntem Ausmaß überflutete. Die Kolleginnen und Kollegen überstanden die extreme Belastung der Katastrophenzeit, weil sie sich als eingespieltes Team aufeinander verlassen konnten.
Wenn er an die Flutberichterstattung denkt, kommt Martin Weiske schnell ein Bild in den Sinn: „Wir haben zehn Tage lang gearbeitet wie im Tunnel“, sagt der stellvertretende Redaktionsleiter der WP-Stadtredaktion in Hagen. Aller Fokus auf die Flut: Bevor sich das Team morgens an und nach den Fluttagen in der Redaktion traf, hatte sich jeder auf eigene Faust in der Stadt an den neuralgischen Stellen ein aktuelles Bild gemacht. „Der Block war voller Themen, bevor der Tag überhaupt richtig angefangen hatte“, erinnert sich Weiske.
In einem Online-Liveticker, auf Facebook und – im begrenzten Maße – auch auf Instagram informierte die Redaktion ab dem ersten Fluttag die Leserschaft permanent im Netz und fragte sich abends, wie die Fülle der stündlich hinzukommenden Geschichten wohl in die nächste Printausgabe passen würde. „Wir haben alles gemacht, was wir konnten“, erzählt Martin Weiske. „Klar bist du nicht immer zufrieden, weil Geschichten, die online gut laufen, es nicht ins Blatt schaffen. Aber trotzdem haben wir abends gedacht: Das gibt ein Bild davon ab, was an diesem Tag wichtig war.“
Hilfreicher Tunnelblick
Der Tunnelblick machte im Redaktionsalltag einiges einfacher, sagt Weiske: „Man musste kein anderes Thema mehr denken und kaum andere Termin wahrnehmen. Es gab ja keine.“ Und trotz großer Belastung machte die Arbeit Spaß, weil man sie als gutes Team gemeinschaftlich erledigte.
„Typisch Lokalredaktion ist, dass du in solchen Krisensituationen als gesamte Redaktion einfach funktionierst“, erklärt Redaktionsleiter Jens Stubbe. „Das ist immer so. Da bemüht jeder die Quellen, die er hat, und wir tragen ein großes Ganzes zusammen.“
Stubbe stieß erst einige Tage nach der Flut zu seinem Team. Als die Flut so über Hagen hereinbrach, hatte er Urlaub. An eine schnelle Rückkehr mit dem Zug war nicht zu denken. Strecken waren gesperrt. Er war nicht der einzige, der ausfiel: Zwei Redakteure waren ebenfalls im Urlaub, der Fotograf konnte in der ersten Nacht nicht kommen, weil das Hochwasser sein Auto zerstört hatte. So machten sich die verbleibenden vier Redakteurinnen und Redakteure – unterstützt vom Kollegen der Stadtteilredaktion in Hohenlimburg – daran, an Tag eins über das Jahrhundertereignis zu berichten.
Kein „Berichterstattungsneid“
Hagen bestimmte vor allem in den ersten Stunden der Flutkatastrophe viele Schlagzeilen der überregionalen Medien. Anders aber als andere Flutgebiete in NRW und Rheinland-Pfalz hatte die Stadt zwar verheerende Schäden, allerdings keine Verletzten oder gar Tote zu beklagen. Entsprechend schnell verschwand Hagen wieder aus der bundesweiten Flutberichterstattung. So etwas wie „Berichterstattungsneid“ gebe es jedoch nicht: „Hier weint keiner ins Kissen und sagt: Alle gucken ins Ahrtal, und wir sind die Vergessenen“, glaubt Weiske. „Es macht demütig, wenn man sieht, was in anderen Regionen los war.“
In der Lokalausgabe ist das Hochwasser nach fast einem Jahr dagegen ein Top-Thema. Ein Konzept zur Verstetigung der Berichterstattung habe es dafür nicht gebraucht, berichtet Jens Stubbe. „Das kam völlig von allein. Es gab und gibt so viele Facetten, so viele Fälle und so viele Geschichten, die es noch zu erzählen gilt.“ Über die Flut und die Folgen berichtet die WP bis heute und wird es vermutlich auf Jahre hin weiter tun.
Jens Stubbe wird sich keinen Notfallplan für die nächste unkalkulierbare Katastrophe in die Schublade legen. „Es würde nichts ändern, wenn wir auf organisatorischer Ebene die Hebel völlig anders stellen“, sagt er. Der Redaktionsleiter ist sicher, dass seine Kolleginnen und Kollegen, dass das Team wieder funktioniert, wenn es drauf ankommt.||
Was Journalistinnen und Journalisten beachten sollten, wenn sie aus Katstrophengebieten berichten, hat Carmen Molitor hier zusammengestellt.
Ein Beitrag aus JOURNAL 2/22, dem Medien- und Mitgliedermagazin des DJV-NRW, erschienen im Juni 2022.