Meinen persönlichen Moment der Erkenntnis hatte ich im Herbst 2018. Auf einer US-amerikanischen Konferenz für digitale Audioinhalte, der RAIN Conference in Austin, wurden junge Menschen live auf der Bühne befragt, wie sie Radio nutzen. Recht selbstbewusst interviewte der Moderator die Studierenden, die von den Veranstalterinnen und Veranstaltern als möglichst repräsentativ ausgewählt worden waren. „Wann hört ihr normalerweise Radio?“, fragte er, gemeint als nette Einstiegsfrage. Verlegenes Lächeln der Anwesenden, bis der erste das Wort ergriff und „niemals“ antwortete. Die anderen pflichteten ihm bei, allein eine Studentin wollte offenbar zu den im Saal versammelten Radiovertreterinnen und -vertretern nett sein und erzählte, dass sie zweimal pro Jahr ihre Eltern besuche und dabei auf der Fahrt vom Flughafen im Auto der Eltern Radio höre. Zwei Stunden Radionutzung pro Jahr insgesamt bei vier jungen Menschen. Das klingt nicht unbedingt nach dem Medium der Zukunft.
„Aber warum hört ihr kein Radio?“, setzte der Moderator nach, jetzt nicht mehr ganz so selbstbewusst. Die Antwort kam schnell und deutlich: „Weil Radio so kompliziert ist.“ Und dann erklärten die vier, wie schwer sie sich tun, sich in der Radiowelt zurechtzufinden, wenn man in ihr nicht selbstverständlich aufgewachsen ist: Hinter welchen Frequenzen verbirgt sich welcher Sender? Woher weiß ich überhaupt, welcher Sender welche Inhalte anbietet? Und wenn ich das weiß, wann genau ist das dann dort zu hören?
Seit dieser Konversation bin ich etwas vorsichtiger geworden, die erfolgreiche Zukunft des Radios als gegeben anzusehen, nur weil es in der Vergangenheit einen selbstverständlichen Platz in der breiten Mediennutzung hatte.
Radio ist nicht mehr alleine
Radio muss mit seinen Inhalten in einer immer dichter werdenden Medienlandschaft durchdringen. Der direkte Weg zu Hörerinnen und Hörern über UKW ist einer von vielen geworden. In den USA spricht man daher oft vom Infinite Dial, der unendlichen UKW-Skala mit allen neuen Angeboten, die täglich, stündlich, minütlich hinzukommen.
Der Autor
Christian Schalt ist Geschäftsleiter der Audio Alliance, der Podcast-Produktionseinheit von RTL Deutschland, sowie Geschäftsführer des Digital Media Hub & Chief Digital Officer bei RTL Radio Deutschland. Er ist verantwortlich für die digitale Audioentwicklung von RTL Radio. Dazu gehört auch die Entwicklung neuer digitaler Audioangebote wie AUDIO NOW, der Podcastplattform von RTL Deutschland (demnächst Teil von RTL+), für deren Aufbau er maßgeblich zuständig war.
Digitales Audio boomt. Noch nie gab es eine solche Fülle an redaktionellen Angeboten: digitale Radiosender, Podcasts, Smartspeaker-Anwendungen, Musikstreaming. Mittlerweile verbringen laut Online Audio Monitor zwei Drittel der deutschen Bevölkerung regelmäßig Zeit mit digitalen Audioangeboten. Die digitale Nutzung ist endgültig im Mainstream angekommen.
Ein nicht unerheblicher Treiber dafür war in Deutschland auch die Coronapandemie, die das Nutzungsverhalten vieler Deutscher stark verändert hat. Der drastisch veränderte Tagesablauf wirkte sich auch auf die Nutzung der Radioangebote aus: Ohne das tägliche Pendeln, vielleicht mit einer Stunde länger im Bett und weniger gemeinsamen Frühstücksgelegenheiten begann die Radionutzung deutlich später, und die am Morgen verlorene Stunde wurde dann auch im Tagesverlauf nicht mehr eingeholt.
Dazu kam die Verlagerung auf digitale Anwendungen. Nahezu jede und jeder in Deutschland mit der Möglichkeit, Homeoffice zu nutzen, wurde einer erzwungenen digitalen Schulung unterzogen: Videokonferenzen wurden zum Standard, digitale Apps zur Zusammenarbeit genutzt und Schulungen online durchgeführt. Und viele entdeckten auf ihrem Smartphone oder ihrem Computer dabei auch digitale Audioangebote; oft Podcasts, aber auch Webradios oder Musikstreamingdienste. Die Nutzung all dieser Anwendungen explodierte während der Pandemie und etablierte sich nachhaltig in den Routinen vieler Deutscher.
Podcasts sind gefragt wie nie zuvor
Aus Sicht der Nutzenden steht mittlerweile eine unglaubliche Menge an Audioinhalten zur Verfügung: für jede Situation, für jedes Interesse, für jede Zielgruppe. Es entstehen unzählige Podcasts in den öffentlich-rechtlichen Redaktionen und bündeln sich in neuen Angeboten wie der ARD Audiothek. Medienkonzerne wie RTL gründen mit der Audio Alliance eine eigene Podcast-Einheit, in der viele aufwendige Produktionen entstehen. Zeitungsverlage wie die ZEIT investieren in Audio-Redaktionen und schaffen populäre und hochwertige Angebote. Dazu kommen immer mehr unabhängige Produktionshäuser wie beispielsweise Studio Bummens, Auf die Ohren oder die Podstars by OMR. Audioinhalte sind gefragt wie nie zuvor, werden von den Tech-Unternehmen genauso nachgefragt wie von traditionellen Medienhäusern. Die oft beschriebene „Creator Economy“, die Aufwertung der Inhalteproduzentinnen und -produzenten, sie ist im Podcastmarkt angekommen.
Für klassische Redaktionen entstehen durch diesen Boom viele Chancen, aber gleichzeitig spüren sie, dass das zunehmende Konkurrenzangebot auch ihre eigene Wirkung einschränkt. Um auch in Zukunft relevant und interessant zu bleiben, müssen klassische Redaktionen und Sendeanstalten sich auf die neuen Gegebenheiten einstellen.
Zuallererst geht es darum, die vorhandenen Nutzerinnen und Nutzer möglichst gut und möglichst lange an das eigene Angebot zu binden. Nach wie vor – und das kann man auch selbstbewusst vertreten – ist Radio ein sehr stark genutztes Medium, im besten Sinne ein Massenmedium. Und dies übrigens auch in den jungen und mobilen Zielgruppen.
Diese affine Gruppe, die zum großen Teil mit Radio sozialisiert wurde, wird auch weiterhin den größten Teil der künftigen Hörerinnen und Hörer bilden. Ihre Bedürfnisse werden die redaktionelle Ausrichtung der Radioprogramme in den nächsten Jahren bestimmen. Was in vielen Fällen auch dazu führen wird, dass sich einige Programme an einem älter werdenden Publikum orientieren und in ihr redaktionelles Angebot an ihm ausrichten.
Daneben müssen auch andere Zielgruppen – wieder – für die Inhalte der Radiosender interessiert werden, was in einer Welt nahezu unendlicher Angebote eine Herausforderung ist. Anders als in den vergangenen Jahren ermöglicht die Distribution an sich allerdings noch keine Aufmerksamkeit bei den potenziellen Hörerinnen und Hörern. War früher ein Sendestart noch ein – zumindest lokales – Ereignis, so werden in der digitalen Welt jederzeit neue Inhalte veröffentlicht, in allen Formen, auf allen Plattformen.
Gute Inhalte müssen auffindbar sein
Auffindbarkeit ist daher in diesem Umfeld das entscheidende Kriterium für die Nutzung eines Angebots. Wenn ich nicht auf einen Inhalt aufmerksam gemacht werde, werde ich ihn auch nicht nutzen. Diese Aufmerksamkeit gelingt manchmal schon mit dem Inhalt an sich, wenn dieser spektakulär oder sehr populär ist. Oft wird aber auch eine darüber hinaus gehende Aktivierung nötig sein. Diese kann aus redaktionellen Hinweisen in anderen Sendungen bestehen, aber auch in Marketingmaßnahmen, um möglichst viele potenzielle Nutzerinnen und Nutzer auf den Inhalt aufmerksam zu machen.
Zur Aufmerksamkeit gehört dabei auch die Auffindbarkeit auf den verschiedenen Distributionswegen und Plattformen.
Guter Inhalt muss auch auffindbar sein. Public-Value-Verfahren, wie sie derzeit in Deutschland durchgeführt werden, sind dabei ein wichtiger Schritt. Sie werden dafür sorgen, dass auf vielen Plattformen wertvolle Inhalte auch einen Platz und damit entsprechende Aufmerksamkeit bekommen (siehe dazu auch „Public Value nach vorn“, JOURNAL 3/22).
Daneben wird in einer Medienwelt der zunehmenden Differenzierung auch der Inhalt immer mehr und unterschiedliche Ausprägungen annehmen. Das Denken in Zielgruppen ist in vielen Redaktionen bereits eingezogen; dieser Trend wird sich fortsetzen bis hin zu einer Personalisierung von Inhalten. „One size fits all“ gilt sicher noch für viele der „Blockbuster“-Inhalte, bei vielen anderen wird nach persönlichem Geschmack und Interessen entschieden. Oder man nimmt einfach das, was einem aufbereitet wird.
Die Streaming-Dienste machen es vor, und viele klassisch geprägte Angebote ziehen erfolgreich nach: Die ARD-Audiothek mit ihrem großen Fundus an Inhalten und den Möglichkeiten, diese kompetent zusammenzustellen, ist ein gutes Beispiel dafür oder auch das Personalisierungsangebot von Hitradio FFH in Hessen, das mit seinen FFH+-Channels den Nutzenden ermöglicht, die Wortinhalte des Senders mit jeweils unterschiedlicher Musik zu hören.
Technologie unterstützt Inhalte
Diese Veränderungen bedingen eine engere Verzahnung zwischen Inhalten und Technologie. Auch wenn im Zweifel der Inhalt entscheidet, ob ein Angebot als attraktiv wahrgenommen und in weiterer Folge genutzt wird, so ermöglichen die neuen digitalen Möglichkeiten einen einfachen oder auch besonders geeigneten Zugang zu den Inhalten. So können Audioinhalte beispielweise modular konzipiert und produziert werden, sodass sie in verschiedenen Darreichungsformen zu unterschiedlichen Zeiten an unterschiedliche Hörerinnen und Hörer mit unterschiedlichen Bedürfnissen ausgespielt werden. Das können die kompakten Nachrichten im Live-Radio sein, die längere Variante als Podcast, die einzelnen Meldungen als Briefings auf Smartspeakern oder in der App.
Diese Denk- und Produktionsweise ist oft auch die Antwort auf die zunehmende Fülle und Dichte an zu erstellenden Inhalten. Ein Kerninhalt wird so strukturiert, dass er – einmal produziert – an vorher definierten Stellen automatisiert geteilt und auf unterschiedlichen Wegen verteilt wird.
Einige öffentlich-rechtliche Sendeanstalten und auch Medienkonzerne wie RTL gehen dabei noch einen Schritt weiter und experimentieren mit der redaktionellen Verlängerung der Inhalte auf Grundlage der synthetisierten Stimmen der Journalistinnen und Journalisten. Dabei werden Inhalte mit weiteren Texten ergänzt und mit den jeweiligen Stimmen eingesprochen. Dies ermöglicht eine vertiefte Anreicherung der Inhalte sowie eine personalisierte Zusammenstellung von Nachrichten.
So gibt es unterschiedliche Meldungszusammenstellungen, gesprochen von der gleichen Sprecherin oder dem gleichen Sprecher. Der WDR denkt dabei beispielsweise an das Integrieren von lokalen Fußballergebnissen in die Nachrichten, die BBC lässt ausgewählte Nachrichten vorlesen, RTL reichert mit längeren Artikeln von ntv an.
Auch wenn synthetische Stimmen oft noch ungewohnt sind, in vielen Bereichen unserer Mediennutzung werden sie uns immer häufiger begegnen. Gut, wenn sie aus vertrauenswürdiger und verlässlicher Quelle stammen.
Neue Formen der Finanzierung von Inhalten
Die Digitalisierung ermöglicht darüber hinaus gänzlich neue Wege der Monetarisierung. Bislang waren im Kern nur zwei Refinanzierungsformen in der Audiowelt möglich: Werbezeitenvermarktung und Gebührenfinanzierung. Insbesondere durch Podcasts entstehen neue Möglichkeiten, sich von diesen beiden unabhängig zu machen. Dazu zählen vor allem bezahlte Abos, Einzelkäufe auf den großen Tech-Plattformen, direkte Spenden oder die Umwegfinanzierung über Live-Auftritte. Für alle diese Modelle gibt es auch in Deutschland gute Beispiele: Der renommierte Politik- Podcast Lage der Nation mit seinem Plus-Angebot, bei dem Hörer:innen für eine jährliche Gebühr von 49,99 Euro den Podcast werbefrei nutzen können, oder Radiosender wie Radio Teddy oder Klassik Radio, die ihrem Publikum ein kuratiertes Angebot in einem Abomodell zur Verfügung stellen: Radio Teddy+ bietet Audioinhalte für Kinder und Familien, Klassik Radio Select Musik-Streaming in den Bereichen klassische Musik, Lounge und Jazz.
Es ist anzunehmen, dass die direkte Bezahlung – ähnlich wie bei den Zeitungsverlagen – einen wichtiger werdenden Anteil im Finanzierungsmix bilden wird.
Gesucht: Vertiefung und Auseinandersetzung
Audioinhalte sind gefragt wie nie. Es ist ein Boom entstanden, den nicht viele klassische Radiomenschen erwartet haben. Audio wird zur begehrten Ware auf den großen Tech-Plattformen wie Apple oder Amazon, es wird selbstverständlicher Teil von Zeitungsangeboten und erobert mit Smartspeakern und Smartassistants jeden Raum und jede Nutzungssituation.
Im Mittelpunkt steht das, was in klassischen Angeboten oft vermisst wurde: das journalistische Wort, die vertiefende Auseinandersetzung mit Themen, die zeitlich unbegrenzte Aufbereitung von Inhalten. Eigentlich ist es genau das, was vielen Radiojournalistinnen und -journalisten wichtig ist.
Es ist ein Möglichkeitsraum entstanden, der viele Darstellungsformen zulässt, und gleichzeitig allen offensteht. Radio kann in diesem Raum eine gewichtige Rolle einnehmen. Es muss die veränderten Rahmenbedingen nur annehmen – und die alten Stärken ausspielen.||
Ein Beitrag aus JOURNAL 4/22, dem Medien- und Mitgliedermagazin des DJV-NRW, erschienen im Dezember 2022.