Es ist noch nicht lange her, da wurde der Autorin dieses Artikels zu einem ihrer Tageszeitungstexte die Beschwerde einer langjährigen Abonnentin übermittelt. „Was wird sie schon anzumerken haben?“, dachte die Autorin. Der besagte Beitrag drehte sich um die Einweihung eines Lifts in einem Altenheim – klassische Stadtteilberichterstattung, ganz ohne Brisanz. Vielleicht stimmte eine Zahl nicht, vielleicht wollte die Leserin einen Vorschlag für eine weitere Berichterstattung machen?
Doch dann hieß es, die Leserin sei „sehr verärgert, da sie in dem Artikel als ‚alte Dame‘ bezeichnet wird. Sie verlangt eine Entschuldigung.“ Zunächst Verwirrung und Unverständnis. „Wer ist schon eine alte Dame, wenn nicht eine über 90-jährige Altenheimbewohnerin?“ Dann: Ärger. „Was hätte ich denn sonst schreiben sollen?“ Am Ende Zweifel. „Habe ich Menschen durch meine Wortwahl verletzt?“
Anmerkung
Ansonsten bleiben wir bei der im JOURNAL üblichen Form, männliche und weibliche Form zu nennen. Der DJV-NRW nutzt dagegen teilweise bereits das Gendersternchen. Ausführlicher dazu: „Es soll ruhig stören“.
Neuer Anstoß in der Debatte
Die Anekdote zeigt exemplarisch, welchen großen Stellenwert Sprache und der sensible Umgang mit ihr mittlerweile hat – nicht nur in Redaktionen, sondern auch bei Leserinnen und Lesern. Und wie man sieht, fängt das nicht erst bei den Themen an, über die emotional gestritten wird – Rassismus, Geschlechtergerechtigkeit, Behinderung und Inklusion. Bei jedem Alltagsthema kann eine unbedachte Wortwahl jemanden vor den Kopf stoßen. Sprache kann ausgrenzen und verletzen. So belegt die Anekdote zugleich, mit wie viel Unsicherheit sensibler Sprachgebrauch immer noch behaftet ist.
Das Thema ist nicht neu, aber: „In den vergangenen Jahren ging es sehr oft darum, welche Wörter man benutzen darf und welche nicht – also um die Grenzen von Sprache“, sagt Kübra Gümüşay. Mit ihrem im Januar erschienenen Buch „Sprache und Sein“ hat die Journalistin, Bloggerin und Netzaktivistin der Debatte um Sprachgewohnheiten und Begriffsmacht einen neuen Anstoß verliehen. „Jetzt fragen sich die Menschen zunehmend, wie wir nicht nur sprechen könnten, um nicht zu verletzen, sondern um umsichtig und einbeziehend zu sprechen“, beobachtet die 32-Jährige. Dabei gehe es darum, was dieses Sprechen idealerweise umfassen könnte und was davon auch möglich ist.
Angestoßen worden sei das letztlich auch durch die Pandemie, sagt Gümüşay: „Sie hat uns die Strukturen bewusst gemacht, in denen wir leben. Denn die merkt man erst, wenn sie nicht mehr gut funktionieren.“ Vieles, das zuvor als radikal gegolten habe, sei neue Normalität geworden, etwa weniger zu konsumieren oder Reisen einzuschränken. Das hat auch Auswirkungen darauf, wie wir unseren eigenen und den gesellschaftlichen Sprachgebrauch reflektieren: So habe die Pandemie den Fokus insgesamt von der individuellen Ebene stärker auf die Strukturen gelenkt, die sich verändern müssen, damit das Ganze wieder funktioniert. Dieser konstruktive Blick – was können wir anders und besser machen? – wirkt nach Beobachtung der Journalistin auch auf den bisherigen Diskurs über Sprache.
Die Relevanz für Medienschaffende hat sich derweil nicht geändert: „Journalist*innen haben unter anderem die Aufgabe, die Welt zu erklären und Sachverhalte einzuordnen. Sie entscheiden, was relevant ist, aus welcher Perspektive und für wen die Welt beschrieben wird“, betont Gümüşay. Zwar gebe es viele Journalistinnen und Journalisten, die sich sehr bewusst bemühten, Menschen in ihrer Individualität abzubilden und unterschiedliche Perspektiven einzubeziehen. Gleichzeitig treffe man in Redaktionen aber immer noch auch auf andere Haltungen: Kolleginnen und Kollegen, die das Bemühen um diskriminierungsfreie Sprache ablehnen und überbrachte Sprachmuster verteidigen.
Wie also schreiben und sprechen wir angemessen über bestimmte Sachverhalte und gesellschaftliche Gruppen – ohne dabei als Sprachpolizei daherzukommen? Wie hilfreich sind Ratgeber in der Praxis, auf welche Hürden stoßen Medienschaffende?
Wörter können Waffen sein
Zunächst ein Blick in den Redaktionsalltag: Dr. Alexander Marinos, stellvertretender Chefredakteur der WAZ, weiß aus der Praxis: „Mit Sprache kann man Politik machen; Worte können schlimmstenfalls als Waffen eingesetzt werden. Gerade in nachrichtlichen Texten ist es daher besonders wichtig, eine zurückhaltende Wortwahl zu treffen, die dem Ziel, möglichst objektiv zu berichten, nicht entgegensteht.“
Das bedeute allerdings nicht, dass Dinge nicht auch klar beim Namen genannt werden müssten, wo dies angemessen erscheine. „Das ist gerade für ein Ruhrgebietsmedium wichtig, da die Menschen hier eine klare Sprache bevorzugen“, ist sich Marinos sicher und nennt als Beispiel die – nicht nur hier immer wieder umstrittene – Kriminalitätsberichterstattung: Marinos verweist auf „nicht wenige Libanesen-Clans“ im Ruhrgebiet. Sei für die Berichterstattung über libanesische Großfamilien mit kriminellen Clanstrukturen „das Wort ‚Libanesen-Clan‘ nun ge- oder verboten? Das ist durchaus Gegenstand engagierter Debatten in der Redaktion“, berichtet Marinos. Der Standpunkt in seiner Redaktion: „Wir halten das Wort für angemessen und, umgekehrt, eine Sprachverschwurbelung, die den Sachverhalt euphemistisch verpackt, für unehrlich und unjournalistisch.“
Ausgewogene Berichterstattung
Doch der Journalist betont auch das Prinzip der Ausgewogenheit in der Berichterstattung: „Wichtig ist, dass wir immer wieder einmal verdeutlichen, dass die meisten bei uns lebenden Libanesen mit solchen Clans und deren kriminellen Machenschaften nichts zu tun haben, damit das Wort nicht von Dritten politisch missbraucht wird.“
Gerade im Zuge der Berichterstattung über Geflüchtete habe die WAZ wiederholt über bestens integrierte Menschen berichtet, die aus dem Libanon nach Deutschland gekommen seien. Um sprachlich angemessene Berichterstattung zu gewährleisten, habe man klare Standards verschriftlicht, Richtschnur dafür sei der Pressekodex.
Doch die Logiken redaktioneller Arbeit schaffen auch Hürden für den sensiblen Sprachgebrauch: Unter Zeitdruck und bei gleichzeitigem Platzmangel ist häufig eine Zuspitzung in Schlagzeilen gefragt und die bloßen „Bürger“ sind schneller getippt als die Formulierung „Bürgerinnen und Bürger“.
Radiomoderatorin Konstantina Vassiliou-Enz warnt jedoch: „Wenn Journalist*innen in einem Bericht Menschengruppen sprachlich nicht miteinbeziehen, dann finden sie nicht statt. Ein Artikel ist ja ein Blick auf die Welt: Wir haben als Medienschaffende großen Einfluss auf öffentliche Debatten und darauf, welche Themen überhaupt besprochen werden – wie und mit welchen Perspektiven.“ Vassiliou-Enz ist Geschäftsführerin bei den Neuen Deutschen Medienmacher*innen (NdM) – einem Zusammenschluss von Journalistinnen und Journalisten, der sich für ausgewogene Berichterstattung und eine stärkere Präsenz von Migrantinnen und Migranten in den Medien einsetzt.
Schon vor einigen Jahren haben die NdM ein Glossar zusammengestellt, das fortlaufend aktualisiert wird (siehe Kasten unten Ratgeber: „Angemessen schreiben und reden über…“). Es soll Redaktionen Hilfestellungen bieten, um sprachlich angemessen zu formulieren. Auch Projekte wie Leidmedien (zur Darstellung von Menschen mit Behinderung) oder Genderleicht (zum geschlechtergerechten Sprachgebrauch) verfolgen ein ähnliches Ziel.
Konkret empfiehlt das NdM-Glossar zum Beispiel, besser von „Abschiebung“ zu sprechen statt von „Rückführung“, lieber „geflüchtete Menschen“ zu schreiben als „Flüchtlinge“ und nicht Geschichten von „Opfern“ zu erzählen, sondern von „Betroffenen“.
„Bestie“ oder „Virus“
„Ein einziges Wort kann enorme Konsequenzen haben“, betont Vassiliou-Enz und führt eine Studie der Sprachwissenschaftlerin Lera Boroditsky an. Die hatte zwei Untersuchungsgruppen unterschiedliche Versionen von Artikeln über die Ausbreitung von Kriminalität in einer fiktiven Großstadt vorlegt. „Bei der ersten Gruppe wurde in dem Artikel die Metapher der ‚Bestie‘ verwandt, im anderen Fall die eines ‚Virus‘, um zu beschreiben, wie sich Kriminalität verbreitet. Gemeinsam sollten im Anschluss Handlungsempfehlungen diskutiert werden“, erläutert die Radiomoderatorin das Vorgehen der Studie.
Dabei habe sich gezeigt, dass die erste Gruppe mit dem „Bestien“-Text vor allem restriktive Maßnahmen vorgeschlagen habe, etwa mehr Polizei oder härtere Gefängnisstrafen. Die Gruppe, die den „Virus“-Text gelesen hatte, habe hingegen für präventive Maßnahmen wie Sozialarbeit oder Bildungsangebote plädiert.
Begriffe wirken auf Handlungen
„Begründet haben die Proband*innen ihre Vorschläge mit den Zahlen, die in dem Artikel genannt wurden – sie waren in beiden Fällen aber dieselben“, sagt Vassiliou-Enz. Für sie ist dieses Studienergebnis ein Beleg dafür, wie wichtig Formulierungen von Medienschaffenden nicht nur für unser Denken sind, sondern auch für die Handlungen, die wir für richtig halten. „Wir müssen reflektieren können, verstehen, mit welchem Blick wir die Welt sehen und uns als Journalist*innen fragen, ob wir alle Perspektiven berücksichtigt haben“, fordert die Journalistin. Es gehöre zum Berufsbild, genau zu wissen, was im Subtext von Artikeln mitkommuniziert werde.
Doch seien auch Vorsicht und Wachsamkeit geboten, um sich gegen Instrumentalisierung zu wappnen. Natürlich ist es immer fragwürdig, politische Aussagen unreflektiert in eine Schlagzeile zu übernehmen. Das gelte besonders, wenn diese Aussagen menschen- und demokratiefeindlich seien. „Dann machen wir uns zum Instrument“, sagt Vassiliou-Enz und erinnert: „Wir sind dazu da, einzuordnen, zu analysieren – nicht etwas eins zu eins wiederzugeben.“ In Zeiten, in denen Journalismus durch das Digitale immer schneller werde, sei das zunehmend schwierig.
Sprachsensibel geht auch in kurz
Platzmangel als Entschuldigung akzeptiert Vassiliou-Enz dennoch nicht. „Wir wissen alle, was der Job verlangt. In einer Nachrichtenmeldung ist deutlich weniger Platz als in einem großen Feature“, sagt sie. Es sei stellenweise deshalb nötig zu verkürzen – das gehe aber auch sprachsensibel. Sie illustriert: „Der Begriff ‚schwarze Menschen‘ ist beispielsweise politisch korrekt, er ist leicht verständlich und kaum länger als ‚Dunkelhäutige‘.“
Auch wenn Redaktionen fürchteten, noch nicht etablierte Begriffe würden von ihren Leserinnen und Lesern nicht verstanden, gebe es immer Alternativen. Zum Gendersternchen sagt Vassiliou-Enz: „Das Argument, es störe den Lesefluss, gilt nicht. Denn genau darum geht es. Man soll darüber stolpern, dass wir eigentlich immer nur in der männlichen Form sprechen.“
Das gesprochene Gendersternchen
Das Gendersternchen (oder andere Platzhalter für weitere mögliche Geschlechter und Geschlechtsidentitäten) gibt es nicht nur in der Schriftsprache. Es kann auch gesprochen werden – mit einer winzigen Pause nach dem Wortstamm, nach der die Silbe neu angesetzt wird. Das klingt ungewöhnlich? Von wegen: Dieser sogenannte stimmlose Glottisschlag wird im Deutschen gar nicht so selten gesprochen, etwa in Wörtern wie „Verein“, „beachten“ oder „geeignet“.
Auch die Kopplung „Umschlag-Innenseite“enthält diesen stimmlosen glottalen Verschlusslaut. Und von dort ist es nicht mehr weit zur Aussprache von Bürger*innen und Journalist*innen. Mit ein wenig Übung wird diese Wortfuge immer selbstverständlicher.
Das gilt für das Sprechen genauso wie für das Hören. Neben Podcasts, Videokanälen oder Sendungen und Social-Media-Formaten für ein explizit junges Publikum gibt es auch längst Sendungen mit älterer Zielgruppe, in denen Moderatorinnen und Moderatoren das Gendersternchen deutlich mitsprechen. Dazu gehören zum Beispiel Talkerin Anne Will, aspekte-Moderator Jo Schück und Ann-Kathrin Büüsker in der Morgensendung beim Deutschlandfunk. Auch Claus Kleber verwendet das gesprochene Sternchen häufiger im heute journal. /cbl
Auch Kübra Gümüşay sieht Medien in einer Verantwortung: „Journalist*innen sollten sich stets fragen, aus welcher Perspektive und für wen sie schreiben und wie sie so schreiben, dass sich möglichst viele Menschen angesprochen fühlen.“ Es gehe aber auch nicht darum, jede Bevölkerungsgruppe einzeln zu benennen und die gesamte Gesellschaft auseinanderzudividieren. Für sie ist diese immer wieder neue Auseinandersetzung mit der eigenen Sprache „wie eine Art Hirntraining“.
Wie aber identifiziert man überhaupt die Sprachbereiche, in denen die Wortwahl potenziell verletzend sein könnte? „Vor allem, indem wir aus Fehlern lernen“, meint Vassiliou-Enz. Auch den NdM ist kürzlich eine Unsensibilität unterlaufen: „Wir haben eine Stellungnahme zur Einordnung der Rassismus-Debatte im Zusammenhang mit #BlackLivesMatter herausgegeben und dabei von ‚blinden Flecken‘ gesprochen“, berichtet Vassiliou-Enz. Das sei ableistisch, also diskriminierend gegenüber Menschen mit Behinderung.
Wie bei dieser Redewendung, die Menschen mit Sehbehinderungen abwertet, würden diskriminierende Formulierungen in den meisten Fällen unbewusst verwendet“, erklärt die Journalistin. Genau dafür seien Leitfäden sinnvoll: Sie ließen verstehen, wie bestimmte Begriffe von denjenigen aufgefasst würden, die von anderen so bezeichnet würden.
Kategorien mit Absolutheitsanspruch
Einen ähnlichen Lerneffekt hatte in den Augen von Gümüşay die Formulierung „alte weiße Männer“. Diese habe verdeutlicht, was eine absolute Kategorisierung mit den Menschen mache: „Wenn Kategorien mit einem Absolutheitsanspruch formuliert werden, berauben sie Menschen ihrer Individualität, Ambiguität und Komplexität. Deshalb haben auch sehr viele wütend auf die Bezeichnung ‚alter weißer Mann‘ reagiert“, erklärt Gümüşay.
Diese Bevölkerungsgruppe sei es nicht gewohnt gewesen, kategorisiert zu werden und einen Verlust ihrer Individualität zu erleben. „Formulierungen wie ‚der ostdeutsche Mann‘, ‚die muslimische Frau‘ und eben auch ‚der alte weiße Mann‘ sind mit dem Irrglauben verbunden, jene Menschen abschließend verstanden zu haben und lassen auf einen Absolutheitsanspruch schließen“, erläutert Gümüşay.
Die mit so einem Begriff Bezeichneten seien permanent damit beschäftigt, auf Zuschreibungen zu dieser Kategorie zu reagieren – die etwa ‚sexistisch‘ oder ‚gewalttätig‘ lauten. „Der Medienbetrieb muss verstehen, dass wir die Welt nie abschließend werden erklären und verstehen können“, mahnt Gümüşay. In diesem Lernprozess müsse man der Komplexität der Welt mit Demut begegnen.
Auch Journalistin und DJV-Mitglied Harriet Langanke, die zu den Themen Frauen und sexuelle Gesundheit arbeitet, hofft auf gesellschaftliche Lerneffekte in der Zukunft. Die Gründerin der „Gemeinnützigen Stiftung Sexualität und Gesundheit“ (GSSG) sagt: „Wir ärgern uns in Bezug auf die Sexarbeit häufig, wenn journalistische Kolleg*innen Stereotype abfeiern. Ebenso wie Menschen mit Behinderung nicht immer an ‚ihren Rollstuhl gefesselt‘ sind, ‚verkaufen‘ Sexarbeiter*innen nicht ‚ihren Körper‘“, sagt Langanke und nennt ein weiteres Beispiel, das die Konsequenzen eines solchen Sprachgebrauchs aufzeigt: „Wenn wir beispielsweise von ‚Sexkaufverbot‘ sprechen, wird Sex sprachlich als Ware definiert. Damit sind wir nah dran, auch den Menschen als Ware zu definieren.“
Keine „Sprachpolizei“
All das war für Langanke Anlass, die Erstellung eines Leitfadens zu initiieren, bei dem DJV und der Bundesverband erotische und sexuelle Dienstleistungen (BesD) zusammenarbeiten. Arbeitsmotto: Mit den Menschen sprechen und ihre Bedarfe erfragen, anstatt über sie. Als „Sprachpolizei“ oder mit erhobenem Zeigefinger will man dabei aber nicht daherkommen. „Journalist*innen können auch in Zukunft schreiben, was sie wollen“, betont Langanke. Es gehe um eine Handreichung, die Journalistinnen und Journalisten helfe, sich präziser, angemessener, differenzierender und weniger stigmatisierend auszudrücken.
„Die meisten Kolleg*innen wollen niemanden stigmatisieren oder ausgrenzen. Das passiert durch einen bestimmten Sprachgebrauch aber“, erklärt Langanke. Sich sorgsam auszudrücken mache Mühe. Für Medienschaffende sei es oft einfacher, Worte zu übernehmen, statt sie zu problematisieren. Sie ist überzeugt: „Die Anstrengungen sind sehr lohnend. Wir können mit unserem Handwerkszeug gesellschaftliche Entwicklungen begünstigen und vorantreiben. Lasst uns unsere Kompetenzen nutzen, mit Sprache gut umzugehen!“
Gestalten statt nur begleiten
Den Blick auf die Potenziale des Sprachwandels fordert auch die Medienforscherin Prof. Christine Linke von der Hochschule Wismar: „Sprache kann Gesellschaft prägen – in eine positive und negative Richtung“, sagt die Wissenschaftlerin. Eine reine Begleiterrolle reiche in dem Prozess für die Medien nicht aus, ihnen komme eine extreme Verantwortung zu, unterstreicht Linke. „Sie sind Vorreiter. Wenn neue Themen und Ängste aufkommen, bieten sie eine Auswahl von Sprache an.“ Beispiel dafür: Als Anfang der 1980er Jahre Aids ausbrach, schrieb der Spiegel von „Homosexuellen-Krankheit“ und „Schwulenpest“ – Begriffe, die sich bis heute zum Beispiel im Diskurs um das Blutspendeverbot für Homosexuelle halten.
„Sich aus etablierten Denkstrukturen herauszubewegen und Alternativen zu prüfen ist anstrengende Arbeit“, sagt Linke. „Einzelne Journalisten können nur bedingt Einfluss nehmen, Redaktionen müssen hier ihre Strukturen öffnen.“ Das brauche Zeit, die sich Redaktionen abseits des Alltagsgeschäftes nehmen müssten. „Generell handelt es sich um eine langfristige Debatte, es ist eine Aufgabe für Jahrzehnte, das in die Breite der Gesellschaft zu bringen“, erklärt Linke.
Es gibt entschiedene Gegner
Bei allem Elan und Aufbruchsgefühl: Es gibt Menschen, die sich bei der Entwicklung der Sprache nicht mitgenommen fühlen. „Im Deutschen Journalisten-Verband herrscht ein Genderwahn! Wir leben momentan im Zeitalter der Übertreibung“, findet beispielsweise der Kölner Journalist Uwe Schoop, der langjähriges Mitglied im Verband ist. Dass die Verbandszeitschrift journalist in den vergangenen Monaten wahlweise auch als journalistin ausgeliefert wurde (siehe dazu auch Meldung „Rechtsstreit um Titel journalistin“), hält er für Unsinn.
„Gendersternchen oder Formen wie ‚JournalistInnen‘ haben in einer sauberen und tradierten Schriftsprache nichts zu suchen, sondern verhunzen sie“, findet Schoop. Stattdessen brauche es mehr Respekt vor Traditionen, Ästhetik und Konventionen.
Für Schoop bedeutet das: „Wir müssen so schreiben, wie wir auch sprechen können und das ist bei den Kunstformen wie dem Gendersternchen nicht der Fall. Im Ausland versteht niemand, was wir damit meinen.“ Das verletzende Potenzial von Sprache bestreitet der 85-Jährige nicht, auch Leitfäden hält er für einen guten Anlass zur Diskussion – sagt aber: „Wichtiger als der Fokus auf Sprache sollte uns im Berufsverband der Einsatz für gleiche Berufschancen und gleiche Entlohnungen für Journalisten und Journalistinnen bei gleicher Tätigkeit, Leistung und Kompetenz sein.“ Schoop appelliert: „Wir sollten uns im DJV nicht labeln nach dem Motto ‚Ich bin ein Mann, eine Frau, schwul, lesbisch oder trans‘ – das spielt keine Rolle, wenn wir qualitativen Journalismus betreiben.“
Wie kann bei solch unterschiedlichen Positionen gegenseitige Wertschätzung klappen? Teilt sich unsere Gesellschaft: Da diejenigen, denen ihr Schnitzel nur als ‚Zigeunerschnitzel‘ schmeckt, dort diejenigen, die Gendersternchen auch in die Sprechsprache übernommen haben? Langanke sagt: „Bei denjenigen, die sich dem Wandel der Sprache verweigern, handelt es sich häufig um Menschen, die Angst vor einem Bedeutungsverlust haben. Wir müssen ihnen zeigen: Wir brauchen auch euch an unserer Seite, um etwas zu bewegen.“
Missverständnisse in der Debatte
Denn Sprache müsse lebendig sein und sich entwickeln können. „Natürlich geht es dabei nicht um Verballhornungen wie ‚Liebe Mitglieder und Mitgliederinnen‘ oder ‚Liebe Mit-Glieder und Ohne-Glieder‘“, stellt Langanke klar. Auch Vassiliou-Enz geht davon aus, dass der Diskurs von Missverständnissen geprägt ist: „Jeder Mensch hat die freie Wahl, wie er kommuniziert. Trotzdem kann man sich darüber Gedanken machen, ob die Formulierungen das vermitteln, was man sagen möchte, und ob es die Intention ist, andere zu verletzen“, sagt sie. Wer wertend oder herabwürdigend formulieren wolle, müsse sich Kritik gefallen lassen. „Es hilft klarzumachen, dass diskriminierungsarme Sprache einfach höflicher ist, viel mit Anstand und Empathie zu tun hat“, rät sie.
Gümüşay erinnert daran, dass der Prozess für beide Seiten schmerzlich ist. „Der Blick in die Gesichter derjenigen, die man ohne Absicht verletzt hat, ist schmerzhaft; ebenso aber auch das Bewusstwerden, Teil einer unterdrückenden Struktur zu sein“, führt sie aus. Die meisten Menschen behaupteten von sich, gute Menschen zu sein, dabei sei das gar nicht das Thema. In der Debatte werde dennoch immer wieder unterstellt, es gehe um persönliche Intentionen, beobachtet Gümüşay. „Um weiterzukommen, muss der Blick nun auf die gesellschaftlichen Strukturen gerichtet werden, die einen ausgrenzenden Sprachgebrauch normalisieren“, sagt sie.
Dabei werde es keine To-do-Liste mit zehn Punkten geben, die man abarbeiten müsse, um angemessen zu sprechen, stellt Gümüşay klar. Auch auf eine Automatisierung – ähnlich einer ins System integrierten Rechtschreibprüfung – lässt sich für den sensiblen Sprachgebrauch wohl nicht hoffen.
„Bestimmte neue Wortschöpfungen wie ‚Shisha-Morde‘ würden sicherlich auch nicht von einem solchen System erkannt werden“, mutmaßt auch Vassiliou-Enz. „Es kommt immer sehr auf den Kontext an, und Sprache ist nicht absolut“, erklärt sie. Ein Artikel sei nicht in Gänze oder absolut wertend, nur weil einmal das Wort Flüchtling vorkomme. Aber wenn nie der Begriff Geflüchtete oder ein anderes Synonym verwendet werde oder alle möglichen Perspektiven fehlten, sehe es anders aus.
Auch Bildsprache ist ein Thema
Beständiges Reflektieren und Diskutieren werden also weiterhin gefragt bleiben. Dabei weist Wissenschaftlerin Linke zum Schluss auf zwei Bereiche hin, die nicht vergessen werden dürfen: „Sprache geht über gesprochenes und geschriebenes Wort hinaus. Wir müssen auch eine verkrustete Bildsprache aufbrechen“, fordert sie. Somit sind auch die Kolleginnen und Kollegen aus dem Bildbereich gefragt: Ein Artikel, der im Text zwar beispielsweise den Ausdruck ‚Behinderter‘ vermeidet und stattdessen von ‚Mensch mit Behinderung‘ spricht, in der Bebilderung aber Stereotype zeigt, die die Dargestellten auf ihre Behinderung reduzieren, verfehlt seine Wirkung.
Das gilt nicht nur für Fotografinnen und Fotografen sowie die Bildredaktionen. Auch beim Bewegtbild kann die klischeehafte Motivauswahl der Schnittbilder den Sinn eines Beitrags geradezu ins Gegenteil verkehren. Für Fotos bietet etwa die Website Gesellschaftsbilder.de eine Datenbank, die Bilder fernab von Klischees sammelt – mit Themen von Behinderung über Migrationsgeschichte bis hin zu Sinti und Roma.
„Gleichzeitig muss der Wandel der Sprache Hand in Hand mit politischen und unternehmerischen Maßnahmen gehen“, erinnert Linke. Zwar schaffe Sprache Sichtbarkeit in normalen Abläufen, die Formulierung ‚Kollegen und Kolleginnen‘ allein schaffe jedoch noch kein geschlechtergerechtes Berufsumfeld.
Mitmachen können alle
Einen Anstoß dafür aber kann jeder durch den eigenen Sprachgebrauch geben. Das ist nicht schwierig. Auch wenn das Credo „Mitmachen können alle!“ ein wenig wie Gruppenbusreise, Lagerfeuer oder Spendenaktion klingt – mit ein bisschen Gehirnjogging, stetiger Reflexion und der Bereitschaft zum Wandel ist schon viel getan. Kommen dann noch das Bewusstsein über die eigene Sprachmacht sowie Demut gegenüber der eigenen – vielleicht lange unterschätzten – privilegierten Position hinzu, dann kann Sprache wahrlich zum Vehikel für gesellschaftlichen Wandel werden.
Bei der Absenderin des Leserbriefs hatte sich die Autorin dieses Beitrags schon kurz nach Eingang der Beschwerde entschuldigt. Das „Es tut mir leid“ war damals ein Pflichtakt, heute ist es Verständnis gewichen. Denn Sprache kann ausgrenzen und verletzen. ||
Ratgeber: Angemessen schreiben und reden über …
In jüngerer Zeit erscheinen vermehrt Ratgeber mit Formulierungshilfen. Sie sollen Journalistinnen und Journalisten für den diskriminerungsfreien Sprachgebrauch auf verschiedenen Themenfeldern sensibiliseren und Hilfestellung im Redaktionsalltag liefern. Die folgende Auswahl erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
• Die Neuen deutschen Medienmacher*innen (NdM), ein Zusammenschluss von Medienschaffenden mit Migrationshintergrund, führt ein Glossar, das regelmäßig aktualisiert und erweitert wird. Derzeit deckt es folgende Themenkomplexe ab: „Wir“ und „die Anderen“; Migration; Kriminalitätsberichterstattung; Musliminnen und Muslime; Jüdinnen und Juden; Sinti, Sintize, Romnja und Roma; Flucht und Asyl; Rechtspopulismus, Rechtsradikale und -extreme.
glossar.neuemedienmacher.de
• Die Seite Genderleicht.de, aufgesetzt vom Journalistinnenbund, bietet nützliche Tipps und Tools, um diskriminierungsfrei zu schreiben und zu sprechen. Eine regelmäßige Gendersprechstunde im Netz hilft ebenso bei der Umsetzung wie das „Textlabor“: Wenn Schreibende beim geschlechtergerechten Formulieren hängenbleiben, tüftelt das Genderleicht-Team auf Anfrage an praxistauglichen, lesefreundlichen Lösungen.
Genderleicht.de
• Um die Darstellung von Menschen mit Behinderung geht es auch im Leitfaden „Auf Augenhöhe“, herausgegeben von der Beauftragten der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen.
www.behindertenbeauftragter.de/DE/Themen/Barrierefreiheit/KommunikationundMedien/Leitfaden_Medien.html
•Wer über homosexuelle Menschen berichtet, findet in der Broschüre „Schöner Schreiben über Lesben und Schwule“ neben einem Glossar auch zahlreiche Tipps zu angemessenen Formulierungen. Herausgeber ist der Bund Lesbischer und Schwuler JournalistInnen (BLSJ).
www.blsj.de/projekte/schoener-schreiben
• Das Projekt Leidmedien.de will helfen, Berührungsängste gegenüber Menschen mit Behinderungen abzubauen. Es betreibt Medienkritik und zeigt Formulierungsalternativen und Perspektivwechsel in der Berichterstattung auf. Medienschaffende finden außerdem Tipps für die Vorbereitung von Beiträgen.
Leidmedien.de
• Gesellschaftsbilder.de ist eine Fotodatenbank für Redaktionen, Medienschaffende und Bloggende sowie alle Interessierten, die für ihre Arbeit Bilder fernab von Klischees suchen. Die Fotodatenbank soll ein Angebot sein, um die Vielfältigkeit der Gesellschaft abzubilden.
Gesellschaftsbilder.de
• Wie Journalistinnen und Journalisten (und andere) besser über Prostitution berichten können, zeigt eine 2013 zusammengestellte Handreichung der Gemeinnützigen Stiftung Sexualität und Gesundheit. Die Sammlung soll in die Broschüre einfließen, die DJV und Bundesverband erotische und sexuelle Dienstleistungen (BesD) gemeinsam erstellen (siehe oben). Download der Handreichung unter
www.stiftung-gssg.de/upload/2013_Fehler_und_Klischees_beim_Schreiben_ber_Prostitution.pdf
Ein Beitrag aus JOURNAL 4/20, dem Medien- und Mitgliedermagazin des DJV-NRW, erschienen im August 2020.