Was lässt sich für die Berichterstattung aus den Erfahrungen mit der Flutkatastrophe in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen lernen? Dazu hat das Journalistenzentrum Herne einen Diskussionsabend veranstaltet. Carmen Molitor, Autorin der Titelgeschichte in JOURNAL 2/22 hat anschließend im einige Thesen notiert.
1. Es ist eine Binsenweisheit, aber: Nichts erspart die Fahrt ins Katastrophengebiet. Auch wenn die Social-Media-Kanäle überlaufen mit Videos, Fotos und Augenzeugenberichten – all das bietet immer nur Ausschnitte. Die wirkliche Dimension einer Katastrophe und die allgemeine Stimmung vor Ort, die Gerüche, der Lärm, sind so nicht nachzuvollziehen. Man muss hinfahren, Zeit mitbringen, beobachten, im besten Fall auch Eindrücke ohne direkten „Verwertungsdruck“ auf sich wirken lassen können. Man darf auch nicht darauf vertrauen, dass die offiziellen Stellen, zum Beispiel die Verwaltungen oder freiwillige Feuerwehren, eine professionelle Krisenkommunikation haben und einem die wesentlichen Fakten schon berichten werden.
2. Journalistinnen und Journalisten sollen keinesfalls Aufräum- und Rettungsarbeiten behindern. Parken Sie weit außerhalb und gehen Sie – angemessen robust angezogen und geschützt – zu Fuß ins Gebiet. Nehmen Sie sich Trinkwasser und ein paar Lebensmittel mit.
3. Gehen Sie verantwortlich mit der manchmal sehr großen Gesprächsbereitschaft von Betroffenen um. Traumatisierte Menschen berichten oft von sehr intimen Dingen, für die sie eigentlich gar keine breite Öffentlichkeit wollen, sie wollen sich durch das Erzählen eher seelisch entlasten. Machen Sie ihnen klar, dass Sie zur Berichterstattung da sind. Fragen Sie nach, ob Sie Informationen verwenden dürfen – vor allem auch, wenn Sie Fotos und Filmaufnahmen machen. Die Menschen haben Hab und Gut verloren, können sich oft nicht wie gewohnt waschen, ihre Kleidung ist schmutzig und zerrissen – Sie sollten sensibel dafür sein, ob die Betroffenen wirklich so gesehen werden wollen.
4. Man muss sich damit begnügen, als Journalist oder Journalistin vor Ort zu sein. Auch, wenn es gefährlich ist, oder sich abenteuerlich anfühlt: Man ist kein Held oder keine Heldin, nur weil man in ein unsicheres Gebiet fährt. Empathie ist wichtig, man ist aber weder Sozialarbeiter noch Retterin und sollte sich hüten, bei den Betroffenen aus Mitleid Erwartungen zu wecken, die man nicht erfüllen kann. Journalistinnen und Journalisten haben den Auftrag, möglichst exakt und umfassend zu berichten, damit ist den Menschen am besten gedient. Persönliche Hilfe ist natürlich möglich und gut, aber Privatsache. Man sollte sie strikt von der Recherche trennen.
5. Lassen Sie sich nicht vereinnahmen, halten Sie sich eher als Beobachterin oder Beobachter am Rand. Motto: Nur dabei – nicht mittendrin! Es ist verführerisch, zum Teil eines großen „Wir“ werden zu wollen, das den Menschen vor Ort hilft. Man darf sich nicht von Interessensgruppen vereinnahmen lassen, weil man sonst schnell eine Schere im Kopf hat und nicht mehr kritisch hinterfragen kann, wie sich diese Menschen verhalten. Und auch bei Katastrophen geht es schnell um die Frage: Wer profitiert – vor allem finanziell?
6. Machen Sie sich darauf gefasst, dass Ihre Berichte sehr emotional beurteilt werden und dass Sie schnell als Nestbeschmutzer gelten können. Deshalb lieber weniger reißerische Worte wählen und auf sehr gute Quellen setzen, wenn Sie Kritik üben! Machen Sie sich auf persönliche Angriffe gefasst und versichern Sie sich deshalb auch des Rückhalts in der Redaktion.
7. Beobachten Sie die Social-Media-Kanäle, aber trauen Sie ihnen nicht unbedingt. Es geistern unheimlich viele veraltete, längst widerlegte Gerüchte oder schlicht unkritische kolportierte Falschmeldungen durch das Netz. Der Ton ist oft sehr schrill und aufgeregt, die Diskussionen schnell überhitzt. Wenn es nicht Ihre Heimatregion ist und Sie keine Ortskenntnisse haben: Es lohnt sich, für die Zeit der Berichterstattung ein Online-Abo der örtlichen Lokalzeitung abzuschließen – die Kolleginnen und Kollegen kennen die Region und haben die besten Kontakte zu Verantwortlichen in der Verwaltung. ||