THEMA | Der Wert des Lokalen

Zombie-Zeitungen sind eine Gefahr

Interview mit Karin Assmann
29. September 2023, Corinna Blümel

Deutschland hat im internationalen Vergleich ein vielfältiges Mediensystem. Aber gerade im Lokalen schwindet die Vielfalt. Zudem tragen Zombie-Zeitungen und immer mehr Inhalte-Kooperationen zum Verlust der Glaubwürdigkeit bei. Das zeigt eine Studie der Journalistik-Professorin Karin Assmann.

Karin Assmann, Assistant Professor am Grady College of Journalism and Mass Communication der Uni­versity of Georgia in Athens, Georgia
Karin Assmann, Assistant Professor am Grady College of Journalism and Mass Communication der Uni­versity of Georgia in Athens, Georgia. | Foto: Emma Stewart

JOURNAL: In den USA gibt es schon länger richtige Nachrichtenwüsten, also große Gebiete ohne lokaljournalistische Newsangebote. Womit genau beschäftigt sich Ihre Forschung?

Assmann: Ich forsche im ländlichen Georgia über Kommunen ohne lokale Medien. Da hat mir jemand zum Beispiel erzählt, dass er von einem großen Bauprojekt erst erfahren hat, als die Bagger auf dem Nachbargrundstück anrollten. So etwas zeigt: Es fehlen ganz wesentliche Informationen. Mich hat interessiert, was wollen die Menschen wirklich erfahren, was brauchen sie? Das ist ja nicht so einheitlich, wie oft angenommen wird.

 

JOURNAL: Welche Bedürfnisse lassen sich herausfiltern?

Assmann: Letztlich geht das um elementare Fragen: Brennt es? Schneit es morgen? Schaffe ich es morgen zur Arbeit oder ist die Straße noch gesperrt? Bleibt mein Haus im Wirbelsturm stehen? Und am liebsten erfahren die Menschen das im Gespräch, zum Beispiel im Postamt oder im Laden: Sie vertrauen Informationsquellen, mit denen sie vertraut sind, die sie kennen.

Das würde auch für Lokalreporterinnen und -reporter gelten, wenn sie wirklich vor Ort sind. Das heißt: Auch im Zeitalter der Digitalisierung spielt der persönliche Bezug eine wichtige Rolle.

 

JOURNAL: Wie wird das Vakuum gefüllt, das der Lokaljournalismus lässt?

Assmann: Im Augenblick florieren Nachbarschafts-Messengerplattformen, in denen man sich mit seiner Wohngegend anmeldet. Das Problem: Dort werden vor allem angstbesetzte Schreckensmeldungen geteilt – Warnungen vor Fremden, die in der Nachbarschaft gesichtet wurden, oder vor angeblich wild tobenden Jugendlichen. Man muss sich überlegen, wie solche Meldungen das Gefühl des Bedrohtseins schüren und damit auch den Blick auf die eigene Kommune und auch auf die Welt prägen.

JOURNAL: Das hat nicht viel mit dem zu tun, was wir mit den typischen Inhalten lokaler Medien verbinden: den Verantwortlichen in Politik und Verwaltung auf die Finger schauen, das Runterbrechen von „großen“ politischen Prozessen auf die lokale Ebene, aber auch Berichte über das Geschehen vor Ort, über Vereine, Initiativen oder interessante Menschen.

Assmann: Das stimmt. Per Gesetz muss es in jeder Kommune eine publizistische Quelle für öffentliche Bekanntmachungen geben. Tatsächlich reduziert sich das meist auf eine Liste ohne Raum für eine journalistische Auseinandersetzung oder Erklärung. Nicht nur das fehlt, sondern auch diese andere Seite der Lokalberichterstattung, die mit alltäglichen Ereignissen zu tun hat: die Ikebana-Ausstellung, der Kleingartenverein – auch, wenn das oft als langweilig gilt.

Es gibt die Theorie, dass Kommunikation, also das Konsumieren und Teilen solcher Informationen, ein wichtiges Ritual darstellt, das einer Gemeinschaft Zusammenhalt gibt. Man hat gemeinsame Themen, über die man sich austauschen kann.

 

JOURNAL: Wie gehen Menschen damit um, dass die nächsten Redaktionen weit weg sind?

Assmann: Die Bürgerinnen und Bürger wissen, dass die Medien nur dann zu ihnen kommen, wenn etwas Schreckliches passiert ist – ein Mord oder eine Naturkatastrophe. Da beobachte ich einen regelrechten Zynismus gegenüber Journalistinnen und Journalisten.

 

JOURNAL: Für die internationale Perspektive haben Sie sich die Medienlandschaft in zwei deutschen Bundesländern angeschaut, in Nordrhein-Westfalen und in Thüringen. Was war spannend an NRW?

Assmann: Ich preise Deutschland immer als Gesellschaft, in der man Information und Nachrichten traditionell als eine Art Grundrecht sieht. Aber es zeigt sich, dass das gerade bröckelt. Für den Blick auf Nordrhein-Westfalen war unter anderem der Lokalfunk ausschlaggebend. Unterwegs lokale Nachrichten zu hören entspricht typischen Nutzungsgewohnheiten.

Die Studie
Karin Assmann hat als Journalistin für verschiedene Medien gearbeitet, unter anderem als US-Korrespondentin für Spiegel TV. Heute lehrt sie als Assistant Professor am Grady College of Journalism and Mass Communication der University of Georgia in Athens, Georgia. Im Februar 2023 hat sie das Paper Rise of the Zombie Papers Infecting Germany’s Local and Regional Public Media Ecosystem veröffentlicht, für das sie die Nachrichtenwüsten in den USA mit der Situation in Nordrhein-Westfalen und Thüringen verglichen hat. Diese Studie zeigt, dass die Glaubwürdigkeit der Medien in Deutschland unter anderem durch Zombie-Zeitungen und ein Netzwerk von schwer durchschaubaren Unternehmenskooperationen gefährdet ist. Die Grundlagen des deutschen Mediensystems der Nachkriegszeit – Pluralismus und Medienvielfalt – drohen verlorenzugehen.

 

JOURNAL: Was sind die wesentlichen Unterschiede zwischen Deutschland und den USA?

Assmann: Das ist vor allem die Größe der Gebiete: Gemessen an US-Dimension sind die Lücken in Deutschland klein, sie lassen sich überbrücken. Wo die hyperlokalen Nachrichten wegbrechen, die sehr wichtig sind, erfährt man zumindest noch etwas aus der Region.

 

JOURNAL: Welche Folgen hat es, wenn auch das wegbricht?

Assmann: In den USA sehen wir unter anderem, dass die fehlende lokaljournalistische Infrastruktur Auswirkungen auf die politische Identitätsbildung einer Gemeinschaft vor Ort hat. Das betrifft das Wählen und politisches oder ehrenamtliches Engagement. Aber es geht darüber hinaus auch um die generelle Verfasstheit einer Gesellschaft.

Das alles ist in Deutschland noch nicht so ausgeprägt wie in den USA, aber die Entwicklung geht auch in diese Richtung.

 

JOURNAL: Wie schauen Sie nach ihrer Untersuchung auf Deutschland?

Assmann: Was ich bei diesen Interviews gelernt habe und was mich wirklich überzeugt hat: wie gefährlich Zombie-Zeitungen sind, aber auch die Kooperationen, bei denen Medienhäuser Inhalte teilen oder zukaufen. Beides verstärkt bei sowieso schon skeptischen Leserinnen und Lesern das Misstrauen gegenüber Medien. Denn diese Konstruktionen sind für Bürgerinnen und Bürger völlig intransparent.

Wenn der publizistische Wettbewerb vorgetäuscht wird, ist das eine Bestätigung für diejenigen, die die freien Medien und die Demokratie verachten. Sie sehen darin belegbare Beispiele, dass sie von der Medienindustrie hinters Licht geführt werden. Das bedient auch die Narrative, dass alles vom Staat oder anderen Kräften gesteuert wird.

 

JOURNAL: Können lokale Blogs, etwa von ehemaligen Redakteurinnen und Redakteuren der Lokalzeitungen, in die Bresche springen?

Assmann: Solche Projekte sind natürlich interessante Angebote. Nur ist die Frage, wie nachhaltig sie sind: Gelingt es ihnen dauerhaft, genug Zahlungswillige – ob auf Spenden- oder Abobasis – zu finden? Zudem hängen solche Blogs meist an einzelnen Personen. Die große Herausforderung ist also, sie so aufzusetzen, dass sie weiterbestehen, wenn diese Gründenden nicht mehr dabei sind.

Hier in den USA haben wir teilweise renommierte Kolleginnen und Kollegen mit sogenannten Substacks, also Blogs und Newslettern, die man abonnieren kann. Die haben sich aber meist vorher schon einen Namen gemacht und machen sich auf diese Weise selbstständig.

 

JOURNAL: Welche Versuche gibt es, den negativen Auswirkungen der Nachrichtenwüsten etwas entgegen zu setzen?

Assmann: Unter anderem setzt man bei der Ausbildung an, um auch die angehenden Journalistinnen und Journalisten von der Wichtigkeit lokaler Berichterstattung zu überzeugen. Ein wesentlicher Baustein sind die zahlreichen Partnerschaften mit Gemeinden oder Lokalmedien (siehe auch Kasten „Lokaljournalismus als Teil der Ausbildung“): Meine Universität, die University of Georgia, hatte die Möglichkeit, eine kleine Lokalzeitung zu übernehmen, deren Eigner aus Altergründen nicht mehr weitermachen konnte. Nun ist es Teil der journalistischen Ausbildung, eine Zeitlang dort vor Ort zu arbeiten.

Man kann sich das wie eine Art Labor vorstellen, von dem beide Seiten profitieren: Die Studierenden lernen das Handwerk an der Basis, aber sie bringen ihrerseits auch neue Perspektiven ein.  Ähnlich wäre es mit der Idee, dass der journalistische Nachwuchs eine Art freiwilliges soziales Jahr in ländlichen Redaktionen leisten könnte.

 

Lokaljournalismus als Teil der Ausbildung
Das Center for Community News hat 120 Programme identifiziert, bei denen „student reporters“ unter Betreuung von Dozentinnen und Dozenten lokale Nachrichten liefern. Die Arbeit der Einrichtungen wird für eine aktuelle, regelmäßig aktualisierte Studie ausgewertet. Danach haben (Stand Ende September 2023) mehr als 2.200 Studierende aus 67 universitären Programm im vergangenen Jahr über 10.000 Beiträge für mehr als 1.500 Lokalredaktionen produziert. Erreicht haben die Beiträge rund 14 Millionen Menschen in den USA.

 

JOURNAL: Das knüpft auch an Ihre Aussage vorhin an, dass Vor-Ort-Sein eine entscheidende Rolle für das Vertrauen in Medien spielt.

Assmann: Der persönliche Kontakt ist auf jeden Fall ein wichtiger Faktor. Es geht dabei um Glaubwürdigkeit. Die lässt sich zum Beispiel auch durch Werkstattberichte auf Social Media stärken, um zu zeigen, wie journalistische Arbeit funktioniert.

Einen anderen Weg geht das Documenter-Projekt unter anderem in Chicago, eine Form von gut organisiertem Bürgerjournalismus: Es bildet Menschen aus und bezahlt sie dafür, an öffentlichen Sitzungen teilzunehmen, über die zu wenig berichtet wird. Das dokumentarische Material entlastet die Redaktionen von Routineterminen und macht zugleich öffentlich, was zum Beispiel der Stadtrat besprochen und beschlossen hat. Und es kann natürlich auch Ausgangspunkt für weitergehende Recherchen sein.

 

JOURNAL: Glaubwürdigkeit verknüpft sich ja auch mit Fragen nach Diversität in den Redaktionen und nach Repräsentanz: Wer kommt überhaupt in den Medien vor? Wer findet sich mit seiner Lebenswirklichkeit darin wieder?

Assmann: Die Bevölkerung in den USA ist noch vielfältiger als in Deutschland, das in der Breite abzubilden ist hier noch schwieriger. Diversität in den Redaktionen ist auf jeden Fall ein Faktor. Und die ist vermutlich generell bei regionalen oder lokalen Medien weniger ausgebildet ist als bei überregionalen.

Hinzu kommt das Problem der unterbesetzten Redaktionen im Lokalen. Da greifen Journalistinnen und Journalisten eher zu „low hanging fruits“, wie wir das in den USA nennen: Um schnell und unkompliziert an einen O-Ton zu kommen, wende ich mich an Personen, die ich schon kenne und das sind oft immer dieselben Personen. Wenn in der Redaktion niemand mit einem Zugang zu anderen Communitys sitzt, fehlt die Zeit, um aus dem bestehenden Raster herauszukommen und neue Beziehungen aufzubauen.||

Das Interview ist eine längere Fassung als die Printversion.

 

Ein Beitrag aus JOURNAL 3/23, dem Medien- und Mitgliedermagazin des DJV-NRW, erschienen im September 2023.